Читать книгу Staub und Regenbogensplitter - Stella Delaney - Страница 8
ОглавлениеRot:
Mehr als eine Lieblingsfarbe
Wie gebannt starre ich auf meine Hände. Schüttele den Kopf, wieder und wieder, will nicht glauben, was ich sehe.
Nein. Nein. Nein, nein, nein.
Wie kann ein einzelnes Wort nur so viel Raum einnehmen?
Meine Hände sinken in den Schoss wie im Flug getroffene Vögel, schwach und kraftlos. Meine Augen fixieren die abgetretenen Steinplatten direkt vor mir. Die Risse, den Schmutz, die Spuren von Moos. Mein Blick will sich heben, weitertaumeln, aber ich halte ihn eisern zurück, während mein Verstand verzweifelt nach einem Halt sucht und diesen schließlich findet. Einen Strohhalm. Eine Erinnerung.
„Wie ist dein Name?“
„Vielleicht verrate ich dir den sogar eines Tages.“
Dein amüsiertes, herausforderndes Lächeln war so erfrischend nach all der geheuchelten Unterwürfigkeit, die mir den ganzen Abend entgegengebracht worden war. Oder besser gesagt, meiner Familie, nicht mir.
Erst einige Tage zuvor hatte mich mein Vater in sein Büro bestellt, um mir mit kaltem Blick mitzuteilen, dass ich nun lange genug eine Schande für ihn gewesen wäre.
„Damit ist jetzt Schluss, ein für alle mal. Du bist Teil dieser Familie, also bist du auch Teil des Geschäfts. Ab morgen hörst du auf, dich hinter Büchern zu verstecken, und übernimmst endlich Verantwortung.“
Wie immer duldete sein Ton keinen Widerspruch, und wie immer dachte ich auch gar nicht daran.
Ein Teil des Ganzen. Das sagt sich so leicht. Meine Familie ist in viele Geschäfte involviert, doch reich geworden war sie vor allem mit zwei Dingen: Drogen und Prostitution.
Es überraschte mich kaum, dass man mir das knallharte Kerngeschäft nicht zutraute, doch was mich in ihren Augen für das Rotlichtmilieu qualifizierte, entzieht sich bis heute meiner Kenntnis.
Mein älterer Bruder empfing mich dann auch nicht gerade mit offenen Armen. Trotzdem bestand er darauf, dass ein solcher Einstieg gewissen Regeln folgen müsse.
„Lass mal sehen, wie viel Geschäftssinn du wirklich hast.“ Ich hoffte vergeblich, dass er damit die Buchhaltung meinte.
Zwei oder drei Drinks später fand ich mich in einem kleinen aber wenigstens sauberen Zimmer wieder, zusammen mit dir. Der Mantel landete lässig auf dem Boden, aber als ich versuchte, mein Hemd aufzuknöpfen, wollten mir meine Finger plötzlich nicht mehr gehorchen. Das alles war so unwirklich, eine Halluzination, ein verrückter Traum. Was tat ich überhaupt hier? Und warum?
Dann standst du auf einmal direkt neben mir, deine Hand auf meiner. Seit der kurzen Begrüßung, die bereits Stunden her zu sein schien, hatten wir kein Wort mehr gewechselt.
„Du weißt, dass du das nicht tun muss, oder?“
„Was, wenn doch?“ Kann man drei einfache Worte bereuen, noch bevor man sie ausspricht?
Ein Stirnrunzeln, ein Zurückweichen.
„Sag deinem Bruder doch einfach, dass er deinen Geschmack nicht getroffen hat. Dass du ein richtiges Mädchen erwartet hättest.“
„Aber du …“
Ein sanftes Kopfschütteln.
„Ich verdiene mein Geld mit der Tatsache, dass man sich bei Bedarf einreden kann, ich sei jemand, der ich nicht bin.“ Dein Blick war so intensiv, dass mir warm wurde.
„Oh, und daneben bin ich auch noch wirklich gut. Im Reden, und in allem anderen.“
Für einen Moment schwiegen wir beide erneut, ich betreten, du abwartend.
„Ich kann gehen“, meintest du schließlich. „Und deinem Bruder sagen, dass du seinen kleinen Test sofort durchschaut hast. Oder ich kann bleiben, und du erzählst ihm später, was immer du willst.“
„Bleib“, entfuhr es mir, fast etwas zu heftig. „Bitte.“
Mit einem hauchdünnen, aber ehrlichen Lächeln nahmst du neben mir auf dem Bett Platz, eine vorsichtig kalkulierte Distanz zwischen uns wahrend.
„Du hast mir immer noch nicht deinen Namen verraten.“ Irgendwie musste ich die Stille füllen.
„Glaub mir, ein Name sagt dir so gut wie nichts. Wenn du mich wirklich kennenlernen willst, solltest du eine andere Frage stellen.“
Diese Aussage irritierte mich. In meiner Welt sind Namen alles. Die Vergangenheit, die Zukunft, der Kern von allem, was man ist.
„Und welche?“
Deine Antwort kam, ohne mit der Wimper zu zucken: „Was ist deine Lieblingsfarbe?“
„Meine … Lieblingsfarbe?“
Ich hielt es für einen Scherz, aber du nicktest nur, mit einem Ausdruck auf dem Gesicht, der mich mitten ins Herz traf.
„Ich weiß nicht.“ Es war mir fast peinlich. „Blau vielleicht.”
„Blau.“
Du liest das Wort auf der Zunge zergehen, als sei es eine Süßigkeit, deren Geschmack du einschätzen wolltest. Dein Blick ruhte immer noch auf mir, tief und unergründlich.
„Verrätst du mir auch deine?“ fragte ich schließlich, nur um wieder irgendetwas zu sagen.
Die Antwort kam sofort, mit dem Feuer absoluter Überzeugung: „Rot.“
Damals dachte ich, ich hätte verstanden. Aber das hatte ich nicht. Weder die wahre Bedeutung deiner Aussage, noch die Gefühle, die unser Gespräch in mir auslöste. Es dauerte lange, bis ich einsah, dass mir zufällige Begegnungen und gelegentliche Wortwechsel nicht genügten. Es dauerte noch länger zu verstehen, was ich stattdessen wollte.
Ein scharfer Schmerz, und für einen Moment verschwimmt alles vor meinen Augen. Ein Keuchen ist zu hören, jeder Atemzug sticht wie eine stumpfe Messerklinge, die einem wieder und wieder in den Rücken gerammt wird. Fast blind, fast taub und mit zittrigen Fingern tastet mein Verstand nach einem weiteren Strohhalm.
Monate später, als wir nebeneinander auf dem Bett lagen, brach es auf einmal aus mir heraus: Dass ich keine Ahnung hatte, wie es weitergehen sollte. Dass ich es meiner Familie rechtmachen musste, aber nicht wusste, wie mir das jemals gelingen sollte.
„Sie haben nicht die geringste Ahnung, wer ich wirklich bin, und es interessiert sie auch nicht. Manchmal fühle ich mich, als müsste ich ersticken, als wüsste ich selbst nicht mehr, was ich eigentlich will. Du und ich, das ist das einzige, dessen ich mir absolut sicher bin. Und dass mein Vater mich umbringen würde, wenn er davon wüsste.“
Du sahst mich nicht an, aber ich spürte deine Hand in meiner.
„Erinnerst du dich an unser erstes Gespräch? Als du mich nach meiner Lieblingsfarbe gefragt hast?“
Ich nickte nur stumm, während du fortfuhrst: „Rot ist für mich mehr als nur eine Farbe. Es ist eine Erinnerung an einige wichtige Dinge, die ich im Leben gelernt habe. Anders als du hatte ich nie eine Familie, aber immer genug Leute, die versucht haben, mir Vorschriften zu machen.
Was meinst du, wie oft ich gehört habe, dass es falsch sei, Rot zu mögen? Die einen bestanden darauf, dass es eine Mädchenfarbe sei, die anderen, dass es sie an Blut erinnere, und damit an den Tod. Für mich ist beides nicht logisch. Waren die Könige nicht stets in Rot gekleidet? Waren das nicht immer Männer? Und müsste Rot dann nicht viel mehr die Farbe des Lebens sein, denn was ist Blut anderes als der Strom des Lebens in unseren Adern? Das ist übrigens auch der Grund, warum mir der Anblick meines eigenen Blutes nie Angst gemacht hat.“
Ich schauderte, als mir klar wurde, was zwischen deinen Worten stand. In meinem Leben hatte ich schon viel Blut gesehen, viel zu viel, mehr als mir lieb war, und doch hatte es mich nie wirklich berührt. Bis jetzt.
„Ehrlich gesagt hatte ich auch nie wirklich Angst vor dem Tod. Sterben ist nicht schlimm, nur bereuen. Im letzten Augenblick zu erkennen, dass man nicht wirklich gelebt hat, dass man nie glücklich war, das stelle ich mir entsetzlich vor. Rot erinnert mich immer daran, dass alleine ich für mein Leben verantwortlich bin, und dass ich niemand Rechenschaft schulde.
Viele glauben, dass man sich damit zufriedenen geben muss, immer nur einen Teil von dem zu bekommen, was man wirklich will. Darum geht es schließlich bei einem Kompromiss, und unser Leben besteht aus vielen Kompromissen. Aber wenn etwas auf dem Spiel steht, das uns wirklich etwas bedeutet, dann gibt es keinen Weg in der Mitte. Man kann auch nicht nur ‚etwas glücklich‘ sein, oder ‚ein wenig traurig‘. Gefühle sind wie die Farbe Rot – absolut und kompromisslos.“
Deine Finger schlossen sich fester um meine.
„Ich weiß nicht, ob irgendetwas davon für dich Sinn macht, aber das ist der beste Ratschlag, den ich dir geben kann: Finde dein Rot. Sei du selbst. Sei kompromisslos. Bereue nichts, wenn es dich glücklich macht, oder einmal glücklich gemacht hat. Lass dir von niemandem vorschreiben, wie du dein Leben leben sollst. Kein Mensch ist klüger und besser, keiner schlechter oder weniger wert als der andere. Egal wie unterschiedlich wir sein mögen, letztlich bluten wir alle gleich, in exakt derselben Farbe.“
Wir wandten beinahe gleichzeitig den Kopf, und unsere Blicke trafen sich. Ein Moment des Schweigens, weich und zart wie Seide. Bevor ich dich traf, war meine Welt farblos, ein verschwommener Nebel aus grau, schwarz und weiß. Wie habe ich nur je so leben können?
Meine Familie sollte man nicht zum Feind haben. Du wusstest das nur zu gut, und hattest dich trotzdem entschieden. Ich hatte nie geglaubt, dass ich dasselbe tun könnte. Aber so oft wissen wir nicht, wie stark wir wirklich sind, bis das Schicksal uns dazu zwingt, Stärke zu zeigen. Nicht unsere Familie, nicht unser Blut macht uns zu den Menschen, die wir sind, sondern die Summe unserer Vorlieben und die Entscheidungen, die wir treffen.
Wir ließen die Stadt und meine Familie hinter uns. Der Herbst kam, und mit ihm eine wahre Explosion an Farben. Gold, gelb, orange und rot. Vor allem rot.
Es war so perfekt. Viel zu perfekt. Ich hätte etwas ahnen, die Gefahr spüren müssen. Habe ich versagt? Oder einfach zu sehr an das Gute geglaubt?
Du hattest dich gerade nach einem der Blätter gebückt, um das flammende Wunder vom kalten Steinboden zu bergen. Dann fielen die Schüsse.
Das Lächeln gefror auf deinem Gesicht. Das Blatt segelte sanft zu Boden.
Ich kann es vor hier aus immer noch liegen sehen. Es ist nicht mehr das einzige Rot auf den abgetretenen Steinplatten.
Inzwischen ist der Schmerz nur noch ein dumpfer Klang im Hintergrund meines Verstandes. Mit Händen, auf denen sich neues Rot mit dem alten mischt, streiche ich ein letztes Mal über dein Haar. Ich kann spüren, wie das Leben aus dir weicht, langsam und unerbittlich. Und dennoch umspielt ein leises Lächeln deine Lippen.
Egal wie unterschiedlich wir sein mögen, letztlich bluten wir alle gleich, in exakt derselben Farbe. Wer kann sagen, wo dein Blut aufhört und wo meins beginnt?
Eine tiefe Ruhe ergreift mich. Ich schließe die Augen. Alles, was ich sehe, ist Rot. Tiefstes, dunkelstes Rot.