Читать книгу Brandsätze (eBook) - Steph Cha - Страница 10

Оглавление

1 – SAMSTAG, 15. JUNI 2019

Grace brauchte zwanzig Minuten, um einen Parkplatz zu finden. Sie entdeckte einen, für den man sieben Dollar zahlen musste, hoffte auf billigere Alternativen, entfernte sich dabei aber nur immer weiter von ihrem Ziel, bis sie schließlich wendete und beschloss, dass der erste Parkplatz gar nicht so schlecht war. Die Innenstadt war ein Labyrinth aus Einbahnstraßen, die sie alle von dort wegzuführen schienen, wo sie hinwollte. Zweimal falsch abgebogen, schon war sie in einer zwielichtigen Gegend, in der auf beiden Straßenseiten Zelte standen. Sie vergewisserte sich, dass die Autotüren verriegelt waren.

Als sie endlich geparkt hatte – für neun Dollar und ziemlich weit weg –, war sie aufgeregt und leicht verschwitzt, und außerdem plagte sie wie immer, wenn sie zu spät kam, das schlechte Gewissen. Für den Fußweg zum Gericht würde sie noch mal zehn Minuten brauchen und dort Miriam und Blake in der Menge erst mal finden müssen. Sie schrieb ihrer Schwester eine Nachricht.

Sorry, hab gerade geparkt. Wo bist du?

Sie war fast am Ziel und feilte gerade an einer Entschuldigung, als Miriam antwortete.

Wir sind auf dem Weg! Mit Uber.

Es war 18.13 Uhr, fast fünfzehn Minuten später als verabredet. Grace war erleichtert und kam sich gleichzeitig dumm vor, denn sie hätte es eigentlich wissen müssen: Miriam lebte nach »koreanischer Zeit«, wie sie es nannte, obwohl sie die Einzige in der Familie war, die nicht immer auf die Sekunde pünktlich kam. Doch sie hatte behauptet, die Gedenkfeier für Alfonso Curiel sei ihr wichtig, weswegen Grace angenommen hatte, Miriam würde sich Mühe geben und vielleicht nicht erst im allerletzten Moment ausgehfertig machen.

Aber sie hatte ihre Schwester seit über drei Wochen nicht gesehen und wollte den Abend nicht mit unwirschen Vorwürfen beginnen, auch wenn Miriam ihren Mädelsabend in letzter Minute vereitelt und Grace in die Rolle des fünften Rads am Wagen gezwungen hatte. Eigentlich hatten sie zu zweit zum Thai gehen wollen, aber dann war diese Gedenkfeier angesetzt worden, und Miriam hatte Grace überredet, sie vor dem Essen dorthin zu begleiten.

Miriam lud sie auf Facebook ständig zu Veranstaltungen ein. Grace ging nie hin und wurde hin und wieder von Miriam für ihre Achtlosigkeit, Gleichgültigkeit, Faulheit gescholten, als wäre es ohne Bedeutung, dass sie einen Vollzeitjob hatte und in Northridge arbeitete. Diesmal hatte sie keine Ausrede gehabt. Sie hatte heute nicht in der Apotheke arbeiten müssen und war sowieso mit Miriam in L.A. verabredet gewesen. Als Blake sich ungefragt anschloss, konnte sie nichts dagegen tun. Sie konnte ihm ja schlecht verbieten, eine öffentliche Versammlung zu besuchen. Wenn er wenigstens nicht mit zum Essen kommen würde – aber er hatte für drei in irgendeinem neuen Lokal reserviert, das Miriam ausprobieren wollte. Die Rechnung ging natürlich auf ihn. Grace grauste vor den nächsten Stunden. Und schon jetzt ließ Miriam sie hängen.

Die Gedenkfeier fand vor dem Bundesgerichtsgebäude statt, einem riesigen, glänzenden Würfel, der einem bösen Apple Store glich. Etwa hundert Menschen waren dort versammelt und hörten schweigend einem großen schwarzen Mann zu, der gerade eine leidenschaftliche Rede hielt. Grace blieb ein Stück abseits auf dem Gehsteig stehen und überlegte, wo sie auf ihre Schwester warten sollte.

Sie sah sich um und bemerkte ein paar Meter weiter eine zweite Gruppe: etwa zehn weiße Männer im Alter zwischen zwanzig und vierzig, die rote Mützen und schwarze Polohemden trugen wie die Mitglieder einer überalterten Studentenverbindung oder einer Musik­kapelle. Einer von ihnen hielt ein Schild hoch, auf dem stand: Kommt und fangt euch eins, Antifa. Grace wusste nicht, wer Antifa war, aber sie wollte weg von den Männern. Bei ihrem Anblick überkam sie das gleiche unangenehme Gefühl wie bei den weißen Typen im College, die nur deshalb Koreanisch belegt hatten, um im Seminar die Mädchen anzustarren.

Sie stellte sich in die letzte Reihe der Menschenmenge, schaute in die gleiche Richtung wie alle anderen und hoffte, nicht aufzufallen. Nachdem sie schon mal da war, konnte sie genauso gut zuhören.

Es war nicht so, dass ihr alles gleichgültig gewesen wäre. Ihr war bewusst, dass auf der Welt viele schlimme Dinge passierten, und natürlich machte es ihr zu schaffen, dass es Rassisten und schreckliche Menschen gab und dass immer wieder Schwarze zu Tode kamen.

Und diese Geschichte hier war ganz besonders furchtbar. Alfonso Curiel war fast noch ein Kind gewesen, ein Highschoolschüler, der mit seinen Eltern in Bakersfield lebte. Vorgestern Nacht war er in seinem eigenen Hinterhof von einem Polizisten erschossen worden. Einer seiner Freunde hatte auf Facebook gepostet, dass er noch eine Stunde zuvor mit ihm im Kino gewesen war und dass Alfonso ständig seine Schlüssel vergaß und vermutlich versucht hatte, von hinten ins Haus zu kommen, und irgendein Nachbar hatte daraufhin die Polizei gerufen.

Allem Anschein nach war er völlig unschuldig gewesen. Es war so traurig.

Der Mann ganz vorne redete laut, und trotzdem wurde seine Stimme teilweise vom Stadtlärm verschluckt. Er stand hoch aufgerichtet da, trug einen schwarzen Anzug mit schwarzem Hemd und schwarzer Krawatte. Bestimmt war er Pastor – Grace las ihm die religiöse Autorität an seiner Haltung und am lauten Dröhnen seiner Stimme ab, noch bevor sie ihm richtig zuhörte.

Sie vernahm den Namen des toten Jungen und beugte sich mit geneigtem Kopf vor, um den Pastor besser verstehen zu können.

»Er wollte nur nach Hause«, rief er. »In sein eigenes Haus, wo er mit seiner Mutter und seinem Vater lebte. Wenn ihr in Amerika schwarz seid, ist es ganz egal, was ihr tut. Ihr könnt in eurer eigenen Nachbarschaft, eurer eigenen Straße bleiben und trotzdem vor dem eigenen Haus von einem Polizisten erschossen werden. Ihr könnt ein unbewaffneter schwarzer Junge sein und einfach so umgebracht werden, und zwar mit dem Segen des Gesetzes. Und das gilt genauso für Frauen und Mädchen. Denkt an unsere Schwestern. Denkt an Sandra Bland, denkt an Rekia Boyd.«

Er wandte sich an eine neben ihm stehende ältere Frau und legte ihr seine große Hand auf die Schulter.

»Denkt an Ava Matthews, hier in L.A.«

Grace hörte dem Pastor zu, gab sich der Macht seiner Stimme hin. Es gab Gemurmel und Fingerschnippen – das hatte sie noch nie erlebt, verstand aber, dass es sich um ein Amen handelte.

»Die Mutter von Alfonso Curiel hat gestern Abend ein Interview gegeben. Sie hat ihn als einen guten Jungen beschrieben, der nie Ärger machte. Der gute Noten hatte und Arzt werden wollte. So ein Junge war das – einer, der alles richtig machte. Jetzt ist er im Himmel, da gibt es keinen Zweifel. Aber hier hat er nie die Chance bekommen, seine Träume zu leben. Wieder haben wir einen von uns verloren. Jetzt müssen wir dafür sorgen, dass ihm Gerechtigkeit widerfährt.«

Die ältere Frau neben dem Pastor hielt ein selbst gebasteltes Schild aus Pappe und wischte sich mit der freien Hand die Tränen aus den Augen. Grace dachte zunächst, das sei die Mutter, aber dafür war sie mit ihren mindestens sechzig Jahren zu alt. Sie hatte dichte graue Locken und tiefe Falten in den weichen, runden Wangen. Vielleicht die Großmutter. Sie war das Inbild von Traurigkeit, sogar das Schild hing schlaff herunter. Gerechtigkeit für Alfonso Curiel stand darauf über einem Schwarz-Weiß-Foto. Ein hübscher, pausbäckiger Junge in einem Kragenhemd, ernst, aber mit leuchtenden Augen. Ein Schulporträt. Er hätte aufs College gehen sollen. Er hätte Arzt werden sollen.

Grace wurde schwindelig, und sie schloss die Augen. Als sie sie wieder öffnete, lief auch ihr eine Träne über die Wange.

Ihre Schwester hatte recht. Es war falsch und egoistisch von ihr gewesen, wegzuschauen, wenn es doch so viel Ungerechtigkeit auf der Welt gab. Sie hatte es sich bei Alfonso Curiel zu leicht gemacht, hatte sich den Luxus der Apathie geleistet und ihre Welt von der realen Welt ferngehalten.

Ihr Herz schwoll an vor Demut und gerechter Leidenschaft. Ein vertrautes Gefühl, das sie aus ihrer Zeit in der Kirche kannte. Das Gefühl christlicher Erweckung. Sie war erfüllt von Liebe, reich und rein und unpersönlich, und hatte so viel davon, dass sie jede gefallene Seele zu erreichen und in die allgemeine Trauer einzustimmen vermochte.

Sie war so in Gedanken versunken, dass sie Miriam erst bemerkte, als sie mit Blake im Schlepptau neben ihr stand. »Da bist du ja«, flüsterte Miriam ihr ins Ohr, umarmte sie kurz, trat zurück und musterte sie. »Du hast dich hübsch gemacht. Schön.«

Grace wurde rot. Sie hatte sich für den Abend geschminkt und ordentliche Klamotten angezogen, was nicht oft vorkam, da sie den Großteil ihres Lebens in Laborkittel und orthopädischen Schuhen verbrachte und alte koreanische Patienten versorgte. Jetzt trug sie ein schwarzes, vielleicht etwas zu kurzes Kleid mit Flügelärmeln, das sie unlängst über einer blickdichten Strumpfhose auf der Beerdigung einer alten Halmoni aus der Gemeinde getragen hatte. Beim Durchkramen ihres Kleiderschranks heute Nachmittag war ihr das Kleid als passende Wahl erschienen – seriös genug für eine Gedenkfeier, ausreichend modisch für ein Abendessen –, aber als sie sich jetzt umsah, kam sie sich gleichzeitig altbacken und overdressed vor. Andere waren zwar auch schwarz gekleidet, trugen aber T-Shirts mit Slogans wie I can’t breathe und Black Girl Magic. Sie hatte dezent und respektvoll aussehen wollen, und jetzt wirkte sie wie Wednesday Addams.

Miriam war wie für ein Musikfestival gekleidet und trug eine Art sexy Kimono aus weiter, geblümter Seide mit luftigen Ärmeln über einem bauchfreien Oberteil und zerrissenen Denim-Shorts. Das Outfit hätte eigentlich auch bei weniger ernsten Anlässen albern gewirkt, aber an Miriam sah es phantastisch aus. Grace hatte ihre Schwester immer um ihren Stil beneidet, den sie nicht einmal dann erfolgreich nachahmen konnte, wenn Miriam ihr Klamotten lieh oder mit ihr einkaufen ging. Hinzu kam, dass Miriam schon immer vier Zentimeter größer und fünf Kilo leichter gewesen war als Grace, woran sich genauso wenig änderte wie an dem Altersunterschied zwischen ihnen. Wenn Grace sich dieses Outfit besorgt und angezogen hätte, hätte sie darin ausgesehen wie eine Haarwäscherin in einem billigen koreanischen Frisiersalon.

»Die verdammte Nazibande ist auch da«, sagte Blake und nickte in Richtung der bleichgesichtigen Verbindungstypen, die Grace vorhin schon aufgefallen waren.

»Ignorier sie«, sagte Miriam. »Die warten doch nur darauf, dass jemand sie anmacht.«

Blake zog ein Gesicht, als wäre er des Feldes verwiesen worden. »Was für Arschlöcher protestieren auf einer Gedenkfeier?«, fragte er laut. Ein paar Leute drehten sich zu ihm um. Er hatte zwar recht, aber solange der Pastor sprach, hielten alle anderen still.

Blake und Miriam waren jetzt seit fast zwei Jahren ein Paar, und Grace verstand immer noch nicht, was ihre Schwester an ihm fand, außer vielleicht, dass er die Rechnungen bezahlte, während sie sich auf Twitter rumtrieb oder an irgendeinem Drehbuch oder ihrem Roman rumtippte, mit dem sie sich schon ziemlich lange herumschlug. Er galt wahrscheinlich als gut aussehend – er war groß und hatte blaue Augen, das reichte schon –, aber er war fünfzehn Jahre älter als Miriam, hatte eine immer höher werdende Stirn und neigte dazu, Statement-Blazer zu glänzenden Turnschuhen zu tragen. Wenigstens war er erfolgreich: Als Drehbuchautor hatte er eine beliebte Fernsehserie über Drogensüchtige in den Appalachen entwickelt. Grace fand es interessant, dass Miriam auf die Vorherrschaft weißer Männer in Hollywood schimpfte, sich aber in den weißesten Mann verliebt hatte, den Hollywood je gesehen hatte. Sogar Grace fiel auf, wie weiß seine Serie war, dabei bemerkte sie solche Dinge nur sehr selten, wie Miriam immer wieder betonte.

Er kompensierte auf unerträgliche Weise, erzählte allen, er sei Feminist und praktisch Kommunist, und bat auf Facebook um Empfehlungen für Bücher von Autorinnen of color, als könnten Miriam und Google ihm keine Tipps geben. Einmal hatte Grace mitbekommen, dass er auf Twitter gepostet hatte: »Hört zu, Jungs, Oralsex ist keine Einbahnstraße.« Miriam hatte den Tweet gelikt, aber Grace hätte viel dafür gegeben, ihn aus ihrem Gedächtnis löschen zu können.

Sie wurde vom aufbrandenden Applaus überrascht. Der Pastor hatte seine Rede gerade erst beendet, aber sie hatte ihm schon minutenlang nicht mehr zugehört.

»Und jetzt spricht unsere Schwester Sheila Holloway zu uns«, sagte er und legte wieder seine Hand auf die Schulter der älteren Frau.

Miriam beobachtete die Frau eindringlich und aufmerksam. Grace hörte so lange zu, bis ihre Neugier gestillt war. Die Frau war nicht die Großmutter, sondern ein Gemeindemitglied oder so was, aber sie sprach leiser als der Pastor. Ihre Worte waren über den Lärm der Menge hinweg kaum zu verstehen, und nach einer Minute gab Grace auf. Sie spürte nicht mehr die mitreißende Begeisterung von vorhin und hatte das Gefühl schon fast wieder vergessen. Es war, als würde man wieder einschlafen wollen, um einen vielversprechenden Traum zu Ende zu träumen.

Das Lokal in Little Tokyo war nicht mal ein richtiges Restaurant, eher eine Bar mit Speisekarte. Alles, was sie bestellten, war niedlich und winzig, wie Spielzeugessen in einem japanischen Geschenke­laden. Grace nippte regelmäßig an ihrem Screwdriver und trank sich unabsichtlich einen Schwips an. Sie trank nur selten, und der Wodka wärmte ihr das Blut und zeigte schnell Wirkung.

Sie war immer noch mit dem Screwdriver beschäftigt – die zweite Hälfte war verträglicher als die erste –, als Blake an die Bar ging und mit drei Tumblern zurückkam, in denen eine braune Flüssigkeit schwappte. »Die haben hier großartige japanische Whiskys«, sagte er. »Ich habe uns einen Yamazaki Single Malt geholt.«

Grace beäugte die drei Gläser, während Blake Miriam eins reichte. Grace hörte seinem unausstehlichen Kennerton an, dass der Whisky teuer war. Miriam nahm einen Schluck und gab ein anerkennendes Geräusch von sich. Blake wirkte erfreut. Während Grace sich wieder ihrem Screwdriver widmete, dozierte er über japanische Whiskys.

»Probier mal«, sagte er und schob ihr den verbliebenen Tumbler hin. »Der schmeckt wie Honig. Ehrenwort.«

Grace schnüffelte daran und musste fast würgen. Sie mochte den Geruch von Alkohol nicht, und Whisky oder Bourbon waren am schlimmsten.

»Ich glaube, das ist nichts für mich«, sagte sie und stellte das Glas weg.

»Ach, komm schon. Wenn du den Mist da runterkriegst, kannst du alles trinken.« Er zeigte auf ihren Screwdriver. Das war bereits seine zweite abfällige Bemerkung über den Drink, begleitet von einem herablassenden Lächeln. »Das hier ist guter Stoff.«

Grace blinzelte und wartete darauf, dass ihre Schwester sagen würde, er solle sie in Ruhe lassen.

»Nimm einen kleinen Schluck«, sagte Miriam stattdessen. »Wenn er dir nicht schmeckt, trinke ich den Rest.«

Grace nahm das Glas, starrte es an und stählte sich innerlich. »Tja, wenn’s guter Stoff ist«, sagte sie.

Sie hielt sich die Nase zu und kippte den Whisky mit einem Schluck herunter. Ihre Kehle brannte. Sie hustete und trank schnell den letzten Rest Screwdriver hinterher.

»Nicht ganz wie Honig«, sagte sie, blinzelte heftig und streckte die Zunge heraus.

Blake sah sie an, als hätte sie gerade ein Baby erwürgt. Miriam brach in Lachen aus.

»Das war ein Fünfundzwanzig-Dollar-Shot«, sagte Blake.

Das war noch mehr, als Grace getippt hatte. »Oh, wow, das wusste ich nicht«, sagte sie unschuldig. Ihre Brust schien zu glühen.

»Hol ihr noch einen Screwdriver, Schatz«, sagte Miriam immer noch lachend. »Den hat sie sich verdient.«

Blake wollte widersprechen, doch Miriam sah ihn mit einem geduldigen Lächeln an, das deutlich machte, dass ihre Stimmung kippen würde, wenn er sich weigerte. Grace wollte eigentlich keinen weiteren Drink, genoss es aber, Blake an die Bar stürmen zu sehen und Miriam auf ihrer Seite zu wissen.

»Zwei reichen mir dann auch«, sagte sie. »Ich muss noch nach Granada zurückfahren.«

Miriam verdrehte die Augen. »Kannst du nicht endlich mal aus dem Valley rausziehen? Es ist unmöglich, sich mit dir zu treffen, und selbst wenn du mal herkommst, musst du um sechs wieder los.«

»Es ist schon fast neun.«

Seit Miriam nach Silver Lake, Heimat der Yuppies und Hipster, gezogen war, hatte sie nichts als kalte Verachtung für das Valley übrig, vor allem für Granada Hills. Sie wollte partout nicht glauben, dass Grace ihre Wohnsituation gefiel und sich bewusst dafür entschieden hatte, obwohl es andere Optionen gab, und dass die ständigen Hinweise, sich jederzeit eine WG suchen zu können, unnötig waren. Grace hatte auf dem College und während des Pharmazie­studiums in WGs gewohnt, aber warum sollte sie jetzt Geld für Miete rausschmeißen, wenn sie nur zehn Minuten zu ihrer Arbeitsstelle brauchte, wenn ihre Eltern sie bei sich haben wollten und wenn ihre Mutter Yvonne es genoss – wie Grace auf die Bibel schwören würde –, sie zu bekochen und ihre Wäsche zu waschen? Eigentlich sollte Miriam das verstehen. Sie hatte kurz nach dem College ebenfalls zu Hause gewohnt, und auch später noch einmal ein paar Monate, nachdem sie ihren Consultingjob aufgegeben hatte, um ihre Träume zu verwirklichen. Stattdessen redete sie jetzt über das Valley wie andere über winzige Heimatdörfer in der Ödnis von Alabama oder Ohio – wie von einem Ort, dem sie auf dem Weg in ihr wahres Leben entflohen war. Ein rückständiger Flecken, für den man sich nur schämen konnte. Dabei ging es um einen Cluster von Wohngegenden innerhalb der Stadtgrenze von Los Angeles, der nur eine halbe Stunde Autofahrt von ihrem neuen Zuhause entfernt lag.

Miriam war in den letzten zwei Jahren nicht ein Mal rausgefahren. Das war das eigentliche Problem. Sie sahen sich deshalb so selten, weil Miriam nicht mehr mit ihrer Mutter sprach und sich weigerte, nach Hause zu kommen.

Vor dem Streit – wenn man überhaupt von einem Streit sprechen konnte – hatten Grace und Miriam sich fast jede Woche getroffen. Selbst für Schwestern hatten sie sich immer ungewöhnlich nahegestanden, hatten sich früher ein Kinderzimmer geteilt, kannten und bewahrten die Geheimnisse der jeweils anderen. Aber dann hatte Miriam den Kontakt zu Yvonne abgebrochen und war mit Blake zusammengekommen, und jetzt wunderte Grace sich immer öfter darüber, wie wenig sie noch verband. Keine der beiden konnte die Entscheidungen, den Lebensstil, die Ziele, den Job oder die wichtigen Menschen im Leben der anderen nachvollziehen. Manchmal spürte Grace die Distanz zwischen ihnen wie einen klammen Hauch im Nacken.

»Dann bleib heute Nacht einfach hier«, sagte Miriam und legte ihre Stirn in besorgte schwesterliche Falten. »Du siehst schon ziemlich betrunken aus. Blake kann mit deinem Auto fahren, und du übernachtest bei uns.«

»Okay«, sagte Grace.

Miriam wirkte überrascht über die schnelle und widerspruchslose Einwilligung, lächelte und drückte Graces Hand. Grace hatte eigentlich keine Lust, einen langen Abend mit Blake zu verbringen und in dem Gästezimmer mit dem Metallbett und den Plakaten seiner Drogenserie zu übernachten, aber sie vermisste ihre Schwester.

Sie schrieb ihren Eltern gerade auf dem Handy, was sie vorhatte, als jemand an ihrem Tisch auftauchte – ein hochgewachsener weißer Mann mittleren Alters mit Flanellhemd und einer abgenutzten Botentasche aus Leder. Er berührte Miriams Schulter mit den Fingerspitzen.

Miriam bemerkte ihn erst jetzt. »Oh, hi«, sagte sie. »Jules.« Sie wirkte ungewöhnlich nervös und erhob sich halb vom Stuhl, um ihm die Hand zu schütteln, woraufhin er ein Stück vom Tisch zurücktrat.

»Dachte ich doch, dass du das bist«, sagte der Mann. »Ich war gerade auf der Gedenkfeier für Alfonso Curiel. Hast du davon gehört?«

»Ich war da«, sagte sie.

Ich, nicht wir. Grace sah sich um und entdeckte Blake im Gespräch mit dem Barmann. Vielleicht benahm sich Miriam deshalb so steif. Blake neigte zu Eifersucht, und wahrscheinlich wollte sie den Typen abschütteln, bevor er zurückkam.

»Dann hast du auch gesehen, dass die Western Boys da aufgekreuzt sind?«

Grace dachte an die wütend aussehenden weißen Typen in den Polohemden. Bestimmt waren die gemeint.

»Ja«, sagte Miriam.

»Ich schreibe über sie, für ein Projekt über White Supremacy und Rassengewalt in Kalifornien. Gut, dass ich dich treffe. Ich weiß, dass du viel über das Thema nachdenkst. Vielleicht –«

»Sicher«, schnitt ihm Miriam mit einem liebenswürdigen Lächeln das Wort ab. »Du hast meine E-Mail-Adresse, oder? Unter der Woche habe ich bestimmt Zeit.«

»Super. Ich melde mich.« Er blieb stehen, als hätte er nicht mitbekommen, dass Miriam ihn verabschiedet hatte. »Wie geht’s deiner Mom?«, fragte er.

Grace versuchte den Blick ihrer Schwester aufzufangen – was für eine seltsame Frage. Dieser weiße Mann konnte doch unmöglich Yvonne kennen? Aber Miriam schaute sie nicht an. Eine Bewegung huschte über ihr Gesicht. Das Aufblitzen von Panik, da war sich Grace sicher.

»Gut«, antwortete Miriam. »Hey, schön dich gesehen zu haben.«

»Gleichfalls.« Er lächelte Grace zu. »Ist das deine Schwester?«

Noch so eine seltsame Frage, denn sie sahen sich nicht gerade ähnlich. Grace hatte plötzlich das Gefühl, betrunken zu sein. Die Luft schien zu wabern.

Sie wollte sich gerade vorstellen, als Miriam ihr die Antwort abnahm. »Ja«, sagte sie. Ihre Stimme klang hart, fast feindselig.

Der Mann merkte es. »Ich schreib dir eine Mail.« Wieder betrachtete er Grace – einige Sekunden zu lang. »Nett, Sie kennenzulernen«, sagte er und ging.

»Was war das denn?«, fragte Grace, als er sich allein an einen Ecktisch setzte und ein rotes Moleskine-Notizbuch aus seiner Tasche zog.

»Nichts. Sorry. Ich wollte einfach nicht, dass er mit dir redet.«

Grace hatte nichts Unheimliches an ihm wahrgenommen, jedenfalls nicht in sexueller Hinsicht. Der Typ war noch älter als Blake.

»Wer ist das?«

»Bloß ein Autor, den ich kenne.«

Blake kam mit Graces Cocktail und zwei weiteren japanischen Whiskys für sich und Miriam an den Tisch zurück. Grace bedankte sich und trank. Der Screwdriver ging runter wie Saft. Da Miriam den Autor nicht mehr erwähnte, sagte auch Grace nichts. Sie nippten an ihren Getränken, und Blake und Grace erkundigten sich nach den Jobs des jeweils anderen – in erster Linie, um Miriam einen Gefallen zu erweisen, aber es war nett von Blake, so zu tun, als würde er sich für die Apotheke interessieren. Grace holte die nächste Runde und fühlte sich langsam ein kleines bisschen euphorisch. Sie begann sogar, sich für Blake zu erwärmen. Ganz offensichtlich betete er ihre Schwester an, und außerdem nervte er eigentlich nur etwa zehn Prozent der Zeit. Vielleicht sogar nur fünf Prozent.

»Das kann ja wohl nicht wahr sein«, sagte er und schreckte Grace aus ihrer beschwipsten Trance auf.

Sie schaute hoch. Kam etwa dieser Autor zurück? Doch der saß immer noch an seinem Ecktisch, hatte den Blick auf den Eingang der Bar gerichtet und sah, was Blake sah: ein halbes Dutzend Western Boys drängte grinsend herein, die Gesichter fleckig, rosa und schweißnass, die Uniformen zerknitterter als vorhin bei der Gedenkfeier, aber immer noch erkennbar. In diesem Hipsterlokal stachen sie heraus wie Pinguine in der Savanne – was genau ihre Absicht zu sein schien.

Sie plusterten sich auf und sahen sich um. Köpfe drehten sich, Gespräche brachen ab – sie wussten, dass das ganze Lokal sie beobachtete. Einer trat vor und ging zur Bar, die anderen folgten ihm wie Entenküken. Der Anführer der Truppe war etwa dreißig Jahre alt, hatte einen kantigen, fleischigen Kopf und dicke Bizepse, über die sich die Ärmel des Polohemdes spannten.

Miriam schüttelte den Kopf. Sie hatte gerade auf ihrem Handy etwas gelesen. »Das ist geplant und abgesprochen«, sagte sie und hielt Grace und Blake eine Facebookseite hin. »Die machen eine ›Zeckenkneipensauftour‹.«

Grace sah wieder zu dem seltsamen Autor hinüber, der die Szene aus seiner Ecke heraus mit gezücktem Stift und Notizbuch beobachtete. Er hatte gewusst, dass die Western Boys herkommen würden. Wenn Miriam ihn nicht abgewimmelt hätte, hätte er sie wahrscheinlich eingeweiht.

»Am liebsten würde ich denen die Fresse einschlagen«, sagte Blake.

»Allen?«, fragte Grace.

»Die haben echt Nerven.«

»Wer sind die eigentlich genau?«

»Rechte Versager«, erwiderte Miriam. »Die meinen, dass Amerikaner weiß sein müssen und Frauen in die Küche gehören – du verstehst schon.«

»Was hatten die auf der Gedenkfeier zu suchen?« Grace war selbst nur gezwungenermaßen hingegangen, dabei hielt sie den Tod des Jungen durchaus für eine Tragödie. Wie konnte man beim Tod eines Teenagers kein Mitleid empfinden? Wie konnte man losziehen, um Trauernde zu belästigen? Die Western Boys erinnerten sie an diese irren Gott hasst Schwule-Typen – diese wütenden, dummen weißen Menschen, die Beerdigungen von Homosexuellen heimsuchten.

»Weil das zu ihren Versagertaktiken gehört. Die kreuzen überall auf, wo sie denken, Linke provozieren zu können. Das reicht ihnen schon.« Miriam trank ihr Glas aus und stand auf. »Ich sage dem Türsteher Bescheid.«

Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch sah Grace ihrer Schwester nach. »Warte«, sagte sie. »Ich komme mit.« Sie sprang auf und ließ Blake mit seiner Wut allein am Tisch zurück.

Der Türsteher hatte braune Haut, war Latino oder vielleicht Filipino und so muskelbepackt, dass er beinahe fett aussah. Bei Miriams Anblick leuchteten seine Augen auf.

»Was geht?«, fragte er, als würden sie sich kennen. Grace fiel ein, dass es schon beim Einlass ein bisschen Geflirte gegeben hatte. Wahrscheinlich war er verknallt in sie.

»Hey«, sagte Miriam. »Die Typen, die gerade reingekommen sind – ist dir klar, wer das ist?«

»Ich habe die Mützen gesehen«, sagte er achselzuckend. »Aber wegen Mützen kann ich niemanden abweisen.«

»Das ist eine Hassgruppe. Das Southern Poverty Law Center hat sie auf der schwarzen Liste.«

»Das Southern was?«

Grace berührte Miriams Arm. Ihre Schwester würde den Türsteher nicht überreden können, zahlende Gäste rauszuwerfen, nur weil sie auf einer Liste standen, von der noch niemand gehört hatte.

Miriam machte trotzdem weiter. »Die sind nicht bloß zum Trinken hier, verstehst du? Die wollen Ärger machen. Das ist schon die dritte Bar auf ihrer Tour.«

»Sie scheinen mir aber nur Drinks zu bestellen und dabei alberne Uniformen zu tragen.« Er klang inzwischen ein wenig sauer. Das passierte Miriam öfter. Sie verhielt sich weniger niedlich, als sie aussah, und diese Diskrepanz war für andere irritierend.

»Kann ich den Manager sprechen?«

»Um ihm was zu sagen?«

»Ich finde, er sollte wissen, dass Nazis in der Bar sind. Was er dann macht, ist seine Sache.«

Er seufzte. »Mann, lass die doch einfach ihr kleines Treffen abhalten.«

»Ihr Nazitreffen.«

Sie sahen sich herausfordernd an. Dann schweifte der Blick des Türstehers ab. »Gehen Sie zu Ihren Freunden zurück«, sagte er.

Der Anführer der Western Boys stand auf einmal so dicht hinter Grace, dass sie einen Satz machte, als er zu reden begann. »Gibt es ein Problem?« Seine hoffnungsvolle Miene war widerwärtig.

Grace flehte ihre Schwester im Stillen an, den Mund zu halten.

Miriam zögerte keine Sekunde. »Ich bin nicht hergekommen, um mit der Simi-Valley-Hitlerjugend zu trinken.«

»Wir sind keine Nazis.« Sein Ton ließ Grace vermuten, dass er diesen Vorwurf häufiger abwehren musste.

»Ich hab noch nie klarstellen müssen, dass ich kein Nazi bin«, sagte Miriam.

»Halten Sie uns, wofür Sie wollen. Wir trinken hier nur was. Und Sie wollen uns rausschmeißen lassen.« Er schüttelte lächelnd den Kopf. »Tja, es ist nicht lange her, da wurden Leute wie Sie an der Tür abgewiesen. Da waren keine Schwarzen, keine Juden, keine Chinesen erlaubt.«

Sie schnaubte höhnisch. »Ihre Mütze können Sie ablegen, die Hautfarbe nicht. Sie sind sicher nach der vierten Klasse abgegangen, oder?«

»Ich habe in Berkeley studiert«, sagte er und verschränkte die Arme.

Grace spürte Miriams Überraschung. So etwas flößte ihr Respekt ein.

Der Türsteher mischte sich ein. »Genug jetzt. Sie«, sagte er zu dem Anführer, »geben Sie mir bloß keinen Grund, hier durchzugreifen.«

»Ich verteidige mich doch nur.« Er hob die Hände und wich mit übertriebener Ehrerbietung zurück.

»Du gibst denen genau, was sie wollen«, sagte der Türsteher zu Miriam. »Eine Frau wie du würde solche Typen sonst doch nicht mal anschauen.«

Sie ignorierte das Friedensangebot. »Der Manager sollte Bescheid wissen. Glaub mir. Der Typ ist nicht hergekommen, um in Ruhe was zu trinken.«

Als sie wieder am Tisch saßen, begann Blake sofort auf sie einzureden. Er ratterte geradezu manisch los und zeigte ihnen auf dem Handy einen Tweet mit einem körnigen Video der Western Boys, die an der Bar saßen und lachten. Im @TheCrookedTail mit @MiriamMPark, und wer kommt rein? Diese Faschisten. Gerade eben. Kommt her und macht denen klar, dass sie in unserem LA nicht erwünscht sind. #WesternBoysNightOut

»Das habe ich vor fünf Minuten gepostet, und es ist schon über dreißig Mal retweetet worden.« Blake hatte über zwanzigtausend Twitter-Follower, wie er Grace gegenüber mindestens fünfmal erwähnt hatte. »Vermutlich waren sie vorher im Bells & Whistles. Da läuft ein Hashtag. Sie sind weg, bevor sie dort rausgejagt wurden, aber es waren schon Leute auf dem Weg, um sie sich vorzuknöpfen. Die kommen jetzt hierher.«

Graces Schwips wurde von Furcht zerstäubt. »Ist das dein Ernst? Wer?«

Blake grinste vor Aufregung. »Alle möglichen. Die Leute von den Democratic Socialists of America, Aktivisten, wahrscheinlich auch ein paar Gaffer, die sich am Samstagabend langweilen. Auch ein paar Leute von der Gedenkfeier. Wir waren nicht die Einzigen, die die Arschlöcher da bemerkt haben.«

Grace stellte sich vor, was passieren würde, wenn nicht bloß ein paar auf Krawall gebürstete, selbstgerechte Weiße aufeinandertrafen, sondern auch noch angepisste Schwarze mit dazukämen.

»Verdammt, Blake«, sagte Miriam. »Ich weiß, dass das Schwachmaten sind, aber weiße Schwachmaten haben gern mal Schuss­waffen dabei. Das könnte echt böse enden.«

Grace war erleichtert – wenigstens ihre Schwester zeigte ein bisschen Vernunft. »Wir gehen besser«, sagte sie.

»Was?« Blake war entrüstet. »Wir können nicht gehen. Wir müssen hier Widerstand leisten.«

Beide sahen Miriam an. Grace hoffte so sehr, ihre Schwester würde sich auf ihre Seite schlagen, dass sie das Gefühl hatte, der Raum würde sich drehen. Dann nahm Miriam Blakes Hand. »Diese Arschlöcher haben ihren Samstag damit verbracht, die Gedenkfeier für einen ermordeten Teenager zu stören«, sagte sie. »Ich lasse mich von denen nicht verjagen.«

Sie hatte sich entschieden. Grace wusste: Wenn Miriam eine Entscheidung getroffen hatte, konnte man sich auf den Kopf stellen – es würde nichts ändern.

»Gut, ich fahre nach Hause«, sagte sie.

»Du wolltest doch bei uns übernachten«, protestierte Miriam.

»Das war, bevor ihr beide einen Wildwest-Showdown angezettelt habt.«

»Kannst du überhaupt noch fahren?«

»Klar. Ich werde gerade wieder nüchtern.«

»Sicher? Du bist nicht sauer auf mich, oder?«

Miriam drückte ihre Hand, und Grace dachte an all die Gründe, die sie hatte, sauer auf ihre Schwester zu sein. Wegen eines idiotischen Revierkampfs ließ sie zu, dass Grace allein und betrunken die Bar verließ, womöglich ausgeraubt oder vergewaltigt wurde oder einen tödlichen Unfall baute. Sie hatte zugelassen, dass Blake ihren ersten gemeinsamen Abend seit Wochen versaute und ihnen die kostbare Zeit zu zweit mit Whisky und seiner Angeberei verdarb. Sie hatte den Kontakt zu ihrer Mutter abgebrochen und die Familie gesprengt, und Grace verstand immer noch nicht, warum. Eine Woge aus konfusen, alkoholgetränkten Gefühlen schwappte über sie hinweg. Sie musste sich an Miriam festhalten, um nicht umzukippen, nicht zu weinen.

»Ich will einfach nur nach Hause.« Sie umarmte ihre Schwester. »Bitte lass dich nicht erschießen.«

Nur mit Mühe fand sie ihren Wagen wieder, und als sie am Steuer saß, wurde ihr klar, dass sie so nicht ins Valley zurückfahren konnte.

Es war nach Mitternacht, aber als sie zu Hause anrief, nahm Yvonne sofort ab, hörte Grace lallen, weckte Paul und sagte, sie würden sie abholen. Weder schimpfte sie noch beschwerte sie sich – sie wirkte eher erleichtert, dass das Problem nicht schlimmer war und gelöst werden konnte. Vierzig Minuten später saß Grace neben ihrer Mutter im Auto und sabberte ihren Sicherheitsgurt voll, während Paul hinter ihnen ihren Wagen nach Hause fuhr. Ihr tat der Kopf weh vor Scham und Dankbarkeit, Bitterkeit und Liebe.

Brandsätze (eBook)

Подняться наверх