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3 – DONNERSTAG, 8. AUGUST 2019

In der Woori Pharmacy war endlich Feierabend. Grace tat der Rücken weh, und wegen des hellen Lichts hatte sie Kopfschmerzen bekommen. Gegen beide Wehwehchen waren ungefähr hundert verschiedene Pillen in der Apotheke vorrätig, aber nichts konnte ihre Erschöpfung nach zehn Stunden auf den Beinen lindern. Seit sie heute Morgen mit Paul aus dem Haus gegangen war, hatte sie keine Minute für sich gehabt und es nicht einmal geschafft, Miriam zum Geburtstag zu gratulieren.

Javi, der pharmazeutisch-technische Assistent, ging nach seiner Schicht direkt nach Hause, aber Grace und Paul hatten noch zu tun. Grace musste Javis Arbeit überprüfen und verschriebene Medikamente vorbereiten, sonst würde sie morgen früh nicht mehr hinterherkommen. Paul saß auf dem Hocker und tippte Zahlen in die riesige Kasse ein, die schon seit Graces Jugend im Laden stand, als sie hier im Laden ausgeholfen hatte und Onkel Joseph zur Hand gegangen war. Die meisten Apotheken arbeiteten sicher längst nicht mehr analog, aber sie überließ die Buchhaltung gerne Paul und Yvonne. Ihre Eltern konnten gut mit Zahlen umgehen und sahen nicht ein, warum sie Geld für Buchhaltungssoftware ausgeben sollten, wo sie doch so viele Jahre ohne klargekommen waren.

Mit fast fünfundsechzig sah Paul aus, als könnte er ohne Weiteres noch zwanzig Jahre an der Kasse stehen, wenn er wollte. Seine gerade Haltung war trotz der dicken Krampfadern, die langes Stehen schmerzhaft machten, beeindruckend, und er strahlte eine Aura von Kompetenz und Stolz aus, die Grace leider nicht geerbt hatte. Vielleicht war es Immigrantenschneid. Miriam hatte ihn auch nicht.

Grace war immer bewusst gewesen, dass ihre Eltern sehr hart arbeiteten. Sie hatten schon vor der Geburt der Kinder zusammengearbeitet – eine Zeit, die sich Grace kaum vorzustellen vermochte –, und danach hatte Paul jede Minute damit verbracht, Geld zu verdienen, während Yvonne die Töchter aufzog. Sie war eine aufopferungsvolle Mutter und erfüllte ihre Rolle mit einer Hingabe und einem Feuereifer, die ihr auf anderen Gebieten Preise eingebracht hätten. Seit Grace ebenfalls im Laden stand, erlebte sie die unerschütterliche Arbeitsmoral der Einwanderergeneration aus unmittelbarer Nähe und konnte sie besser verstehen. Mit ihren Eltern konnte sie nicht mithalten.

Zum Glück hatte sie studiert. Die Woori Pharmacy war der Familienbetrieb der Parks, aber Grace war die einzige approbierte Apothekerin in der Familie. Onkel Joseph war zwar Apotheker, aber nicht ihr echter Onkel, auch wenn sie ihn von klein auf kannte, denn er war Pauls bester Freund und Geschäftspartner. Nachdem Paul fünfzehn Jahre lang Onkel Josephs alten Laden gemanagt hatte, hatten sie die Woori gemeinsam gekauft, als Grace noch zur Highschool ging. Beide Männer hatten gehofft, ihre Kinder würden ins Geschäft einsteigen, aber nur Grace hatte es getan. Onkel Josephs Kinder redeten nicht mit ihm, und Miriam hatte nie Interesse gezeigt, selbst als sie sich noch zur Familie zählte. Nur Grace war ein braves Mädchen gewesen, hatte studiert und war wieder nach Hause gekommen. Onkel Joseph war jetzt im Vorruhestand, sodass sie die eigentliche Apothekerin in der Woori war. Ihre Eltern brauchten sie.

Ihre Situation war nicht besonders fair, auch wenn sie sich niemals beschwert hätten. Sie hatten riesige Opfer gebracht, damit ihre Kinder in den USA aufwachsen konnten. Korea war in den Achtzigerjahren zwar ein armes Land gewesen, aber dort hätten sie es einfacher haben können. Paul hatte einen Collegeabschluss und einen guten Job bei Hyundai. Damit hätten sie sich zufriedengeben und in relativem Komfort in der Nähe von Familie und Freunden ihr Leben verbringen können, doch stattdessen zogen sie nach Los Angeles, wo sie niemanden kannten und die Sprache nicht verstanden. Pauls Diplom und Berufserfahrung waren hier wertlos. Er musste von vorne anfangen, zählen, lesen und schreiben lernen. Für Yvonne war es sicher noch schlimmer gewesen. Sie hatte Paul mit nur neunzehn Jahren geheiratet – einen zehn Jahre älteren Mann auf den unteren Stufen der Karriereleiter. Mit einundzwanzig musste sie mit ihm den Ozean überqueren, ohne selbst viel Einfluss auf diese Entscheidung gehabt zu haben, wie Grace vermutete.

Tag um Tag, Dollar um Dollar hatten sie sich in diesem fremden Land ein neues Leben aufgebaut, nur damit Grace und Miriam in Freiheit und Unabhängigkeit als Amerikanerinnen aufwachsen konnten. Manchmal fragte sich Grace, ob ihre Eltern das mitunter bereuten. Miriam war so amerikanisch, dass sie sich von der eigenen Mutter losgesagt hatte, was im Konfuzianismus geradezu ein Schwerverbrechen war. Grace war die pflichtbewusste Tochter und hatte sich auch mit siebenundzwanzig Jahren nicht von ihren Eltern gelöst. In Korea wäre sie inzwischen verheiratet und würde ihren Mann drängen, ihre Eltern in Rente gehen und bei ihnen einziehen zu lassen. Hier dagegen durfte sie mietfrei bei ihnen wohnen, und ihre Eltern wünschten sich nichts mehr, als dass sie die Apotheke übernahm, der Lohn für all die Jahre des Schuftens.

Grace hatte auch deshalb ein schlechtes Gewissen, weil ihr der Stolz ihrer Eltern auf den Laden bewusst war, sie ihn aber nicht wirklich teilte. Sie war dankbar und schätzte das Geschäft, sah es aber als das, was es war: ein knapp zwanzig Quadratmeter großer Glaskasten neben einem koreanischen Foodcourt und einem Supermarkt in einer hässlichen Einkaufsmeile im Valley. Die Glaswände zwischen den Aufstellern für Vitaminpräparate und Salben und den Postern mit Shampoowerbung und Lottoergebnissen waren durchsichtig, aber die Welt draußen war nicht zu sehen. Nie schien die Sonne, immerzu brannte das Kunstlicht des Hanin Market, ein Komplex, den sie sich mit einer koreanischen Bank, einer koreanischen Bäckerei, einem koreanischen Kosmetikladen und sogar einem koreanischen Ableger des U.S. Post Office teilten – nur damit die Koreaner aus dem Valley nicht extra nach Koreatown fahren mussten, um ihre Besorgungen auf Koreanisch erledigen zu können. Es war praktisch, aber nicht gerade der amerikanische Traum.

Außerdem war die Arbeit anstrengend. Grace konnte sich nicht vorstellen, die nächsten dreißig Jahre so weiterzumachen. Das Studium hatte sie auf die riesigen körperlichen Anforderungen nicht im Mindesten vorbereitet. Obwohl sie Kompressionsstrümpfe und klobige, hässliche Turnschuhe trug, ging sie jeden Abend mit Schmerzen nach Hause.

Andererseits hatte sie keine Ahnung, was sie sonst machen sollte. Sie war für diesen Beruf erzogen worden und nach der Arbeit dermaßen erledigt, dass ihr kaum Zeit blieb, sich etwas anderes zu überlegen. Sie war nicht wie Miriam, die Englische Literatur studiert und Grace die elterlichen Hoffnungen allein aufgebürdet hatte. Sie konnte nicht wie Miriam sein – eine von ihnen musste ja schließlich an die Familie denken.

Sie bearbeitete das letzte Rezept und streckte sich. Wieder ein Tag vorbei.

Paul rief von der Kasse aus auf Koreanisch: »Alles erledigt?« Er erhob sich vom Hocker und machte sich für den Heimweg bereit.

Grace wollte vorher noch Miriam anrufen. Die Fahrt nach Hause dauerte keine zehn Minuten, und sie wollte ihre Mutter nicht an Miriam erinnern – auch wenn Yvonne den Geburtstag natürlich nicht vergessen hatte.

»Ich muss Unni anrufen«, sagte sie.

Er verstand und nickte. Also hatte er daran gedacht, nur den ganzen Tag über nichts gesagt. »Dann besser jetzt«, sagte er. »Ich warte im Auto.«

»Soll ich ihr Glückwünsche von dir ausrichten?«

»Wenn du willst.«

»Willst du mit ihr sprechen?«

»Sie kann zu Hause anrufen«, sagte er und ging.

Mit Paul hatte sich Miriam genau genommen nicht überworfen, aber soweit Grace wusste, bestand auch zwischen ihnen kein Kontakt mehr. Das mochte an Pauls Solidarität mit Yvonne liegen, denn er war stinksauer gewesen, dass Miriam sich ihrer Mutter gegenüber so herzlos verhielt, doch es konnte genauso gut darin begründet sein, dass er ohne die vermittelnde Rolle seiner Frau keine funktionierende Beziehung zu Miriam aufrechterhalten konnte. Als Grace auf der Uni war, hatte sie nur dann mit Paul gesprochen, wenn Yvonne ihn ans Telefon holte. Warum sollte es mit Miriam anders sein? Ihr Vater war da eben seltsam. Er würde Miriam niemals von sich aus anrufen, geschweige denn sich mit ihr verabreden.

Das Freizeichen ertönte, und Grace hoffte, die Mailbox würde rangehen. Sie hatte Miriam seit diesem furchtbaren Abend in der Bar nicht mehr gesehen. Nachdem sie gegangen war, waren anscheinend etwa dreißig Leute dort aufgetaucht, und es hatte Geschrei und ein Handgemenge gegeben, bis irgendwann jemand die Polizei rief, woraufhin natürlich alle stinksauer waren und zwei Männer verhaftet wurden: ein Demonstrant, weil er einen Western Boy geschlagen hatte, und ein Western Boy, weil er einen Demonstranten geschlagen hatte. Der Western Boy hatte ein Bowiemesser am Fußknöchel getragen. Wahrscheinlich hatte er das einfach mal in irgendeinem Film gesehen, aber es war trotzdem erschreckend, denn in Filmen wurden mit solchen Messern Kehlen durchgeschnitten.

Miriam tat so, als wäre das keine große Sache gewesen, als wäre Grace völlig grundlos durchgedreht. Aber in den letzten eineinhalb Monaten war es immer häufiger zu Unruhen und Auseinandersetzungen auf den Straßen und hasserfüllten Debatten im Internet gekommen, und die Proteste und Gegenproteste hatten sich in einem Fieber der Selbstgerechtigkeit immer weiter aufgebauscht. Gestern dann hatte eine Grand Jury in Bakersfield die Anklage gegen Officer Trevor Warren wegen der Erschießung von Alfonso Curiel abgewiesen.

Grace hatte die Geschichte seit der Kundgebung verfolgt, auch wenn ihre Wut und Trauer inzwischen verraucht waren, wie sie ehrlicherweise zugeben musste. Sie hatte deshalb ein schlechtes Gewissen, konnte sich aber nicht dazu bringen, sich weiter um einen fremden toten Jungen Gedanken zu machen, jedenfalls nicht mit besonderer Leidenschaft. Der Rest der Welt drehte sich ja offensichtlich weiter.

Und wie sich herausgestellt hatte, war der Junge doch kein Chorknabe gewesen und bei seinem Tod nicht zum ersten Mal mit der Polizei aneinandergeraten – in Wahrheit war er gerade auf der Flucht vor ihr, als er in den Hinterhof seines Elternhauses rannte. Und da war auch kein rassistischer Nachbar gewesen, der ihn völlig grundlos gemeldet hatte. Jemand hatte Alfonso Curiel nach Mitternacht draußen herumstreifen sehen und mitbekommen, dass er vor den Haustüren anderer Leute Pakete klaute. Viele Gangs hatten sich inzwischen auf Paketdiebstahl spezialisiert, und es wurde spekuliert, dass Curiel zu einer kriminellen Bande gehörte.

Natürlich war all das keine Rechtfertigung dafür, dass er erschossen wurde, aber – ob zufällig oder nicht – die Presse verhielt sich seit diesen Enthüllungen auffallend ruhig, und Grace machte die Tragödie weniger zu schaffen. Trotzdem kam ihr die Entscheidung der Grand Jury vor wie ein Schlag in den Magen, denn ohne einen Prozess gab es keine Chance auf die geringste Gerechtigkeit für den armen Jungen.

Die Reaktion erfolgte prompt: In ganz Kalifornien kam es zu Demonstrationen, und die größte fand in Downtown Los Angeles statt, wo die Polizei in Kampfmontur anrückte, bereit, jeglichen Tumult im Keim zu ersticken. Miriam erlebte hautnah mit, wie die Polizei Pfefferspray einsetzte und es zu Verhaftungen kam.

Sie postete Bilder davon in den sozialen Medien. Grace war sich sicher, dass sie ständig das Handy in der Hand hatte, Retweets zählte, Kommentare likte. Aber wenn Grace sie anrief, nahm Miriam nicht ab.

Genau wie jetzt. Es war nach halb acht – wahrscheinlich saß sie irgendwo mit Freunden beim Essen und verbrachte einen wunderbaren Abend. Sie würde sehen, dass Grace angerufen hatte. Das reichte.

Das Haus roch nach Miyeok, koreanischer Seetangsuppe – der leicht brackige Geruch stieg Grace sofort in die Nase, als sie eintrat. Yvonne stand in der Küche und hantierte mit den Töpfen auf dem Herd. Grace schaute sie an, und ihr Herz zog sich zusammen. Ihre Mutter sah so klein und müde aus. Ihre Schultern hingen schlaff herunter, ihre Augen wurden immer schlechter.

»Ich bin zu Hause«, sagte sie.

»Eung«, erwiderte Yvonne schwach. Ohne aufzusehen schwenkte sie den Kopf in Graces Richtung. »Essen ist fertig. Kannst du den Tisch decken?«

Grace holte Teller, Löffel und Essstäbchen und verteilte sie, während Yvonne Seetangsuppe, Eundaegu-jolim, Banchan und Reis auf den Tisch stellte. Paul war in sein Zimmer gegangen, um sich umzuziehen oder fernzusehen oder was auch immer er abends machte, während die Frauen sich um das Essen kümmerten. Mit unfehlbarem Instinkt erschien er immer genau in dem Augenblick, wenn alles fertig war. Als er das Gebet sprach, schloss Grace die Augen. Sie erinnerte sich daran, was Miriam immer gesagt hatte: Umma kocht das Essen, wir decken den Tisch, und Appa setzt sich hin und dankt Gott.

Er erwähnte weder Miriam noch ihren Geburtstag. Das tat er in Yvonnes Gegenwart nie. Doch es half nichts. Die Atmosphäre im Haus war bedrückend.

Grace saß auf ihrem Platz und betrachtete den reich gedeckten Tisch. Ihre Mutter saß neben ihr, ihr Vater gegenüber neben dem leeren Stuhl. Das also hatte Yvonne den ganzen Tag lang gemacht: ein riesiges Festmahl gekocht, eine ganze Platte mit Kohlenfisch und Rettich in einer scharfen Gochujang-Sauce. Grace liebte den Eundaegu-jolim ihrer Mutter. Er war auch Miriams erklärtes Leibgericht, das Yvonne immer dann gekocht hatte, wenn ihre ältere Tochter zu Besuch kam.

Aber der eigentliche Höhepunkt war die Miyeok-guk, die Seetangsuppe, die Yvonne zu jedem Geburtstag in der Familie zubereitete, von ihrem eigenen abgesehen. Sie hatte Grace erzählt, dass Mütter diese Suppe direkt nach der Entbindung zu sich nehmen, weil die Nährstoffe die körperliche Erholung unterstützten, und dass ihre eigene Mutter ihr die Suppe nach den Geburten von Miriam und Grace eimerweise ins Krankenhaus getragen hatte. Es war eine Art traditionelle koreanisch-kulinarische Nabelschnur, die jedes Jahr an Geburtstagen zur Feier der Verbindung mit der Mutter, der Geburt und dem Körper gegessen wurde. Und da stand sie, mitten auf dem Tisch, unmöglich zu übersehen, und stellte sie vor die schwierige Aufgabe, nicht über sie zu sprechen.

Grace war fassungslos über Yvonnes Masochismus. All die vergebliche Liebesmüh – mein Gott, es war einfach zu viel. Es kam ihr vor, als würde vor ihren Augen eine Tote geehrt werden – und zwar mit einer zur Selbstbestrafung auf einem Schrein der Schuld dargebrachten Opfergabe.

Paul begann zu essen. Grace verspürte keinen Hunger, tat es ihm aber pflichtbewusst nach. Yvonne rührte sich nicht. Ihre Hände lagen in ihrem Schoß, ihr Blick war abwesend.

»Yeobo«, sagte Paul und ließ die Stäbchen sinken. »Iss. Es schmeckt gut.«

Aus Pauls Mund kam das einem sanften, großzügigen Zugeständnis gleich. Diese offene Anerkennung ihrer Bedürftigkeit war fast schmerzhaft.

Sie aßen. Yvonne stocherte trübselig in der von ihr zubereiteten Mahlzeit herum. Es schmeckte wie immer großartig, aber alle waren sich der Situation und ihrer Gefühle so bewusst, dass die Küche sich feucht und stickig anfühlte und die Suppe einen ranzigen, schweißigen Geruch annahm, der Grace den Appetit raubte.

Das Schweigen wurde unerträglich, und Grace war dankbar, als Paul den Fernseher anstellte, auf dem einer der beiden koreanischen Sender lief. Grace hatte versucht, ihren Eltern Netflix nahezubringen. Sie hatte dafür sogar einen Smart-TV gekauft und den alten Flimmerkasten ersetzt, der sie seit ihrer Kindheit begleitet hatte und den niemand haben wollte, nicht einmal, als sie ihn auf Craigslist zum Verschenken anbot. Aber ihre Eltern fanden, dass sie zu alt für so etwas waren. Yvonne schaute sich ihre paar Lieblingsserien zur regulären Sendezeit an, und wenn sie mal eine Folge verpasste, lieh sie sich in dem koreanischen Videoladen im Hanin Market die DVD.

Jetzt gerade lief ein neues Historiendrama mit einem Schauspieler, den Grace vor Kurzem erst gesehen hatte, als er sich in seine wunderschön an Krebs sterbende Adoptivschwester verliebt hatte. Grace wusste nicht genau, worum es hier gerade ging, aber es schien ihr, als hätten ihre Eltern in den letzten zwanzig Jahren nur Variationen des immer gleichen Palastintrigendramas geschaut. Männer und Frauen in wallendem Hanbok mit weiten Ärmeln und großen Haartrachten, die hinter papierenen Schiebetüren flüsterten. Kämpfende Prinzen, intrigante Konkubinen. Grace mochte koreanische Serien eigentlich, aber die historischen waren schwierig. Dem gehobenen Koreanisch konnte sie nur schwer folgen, außerdem konnte sie nie die Epochen auseinanderhalten. Eine Weile hatte sie eine Serie über Zeitreisen geschaut, aber wie immer das Interesse verloren, sobald Fächer und Pferde auftauchten. Was ging es sie an, was ihre Vorfahren vor Hunderten von Jahren in einem anderen Land getan hatten?

Der König warf eine Teetasse nach einem kauernden Diener, dann kam Werbung. Paul schaltete auf den anderen koreanischen Sender um. Er schaute nie Werbung, und fast hatte man das Gefühl, dass er einen Preis zu gewinnen glaubte, wenn er nur schnell genug den Sender wechselte. Als die melodische Stimme des koreanischen Nachrichtensprechers zu Aufnahmen des in ein Flugzeug steigenden Präsidenten ertönte, schaltete Grace innerlich ab. Sie hätte der Sendung folgen können – wenn sie sich konzentrierte, war ihr Koreanisch gut genug, um alles zu verstehen –, aber es schien ihr die Mühe nicht wert.

Dann erschien das Gesicht von Alfonso Curiel auf dem Bildschirm. Sie erkannte das Foto. Es war nicht das Schulporträt von der Kundgebung, sondern ein anderes, das immer mal wieder gezeigt wurde, auf dem Curiel einen Hoodie trug und mit verschränkten Armen in die Kamera starrte. Sie war immer noch dabei, die Schlagzeile zu entziffern – Koreanisch lesen fiel ihr schwer –, als plötzlich wieder der Sender gewechselt wurde. Werbung für einen koreanischen Haushaltsgeräteladen flimmerte über den Bildschirm und verkündete Sonderpreise für Reiskocher und Waschmaschinen. Grace sah ihre Eltern an. Ihre Gesichter waren angespannt. Reglos. Wachsam.

»Da läuft immer noch Werbung.« Sie nahm ihrem Vater die Fernbedienung ab und schaltete wieder um.

In den Nachrichten wurde ein verwackeltes Video gezeigt, und Grace war sofort klar, was sie da sah: Bodycam-Aufnahmen von Curiels Tod. Er stand da und winkte mit leeren Händen Trevor Warren zu, dann bewegte er langsam eine Hand in Richtung hintere Hosentasche – um seinen Geldbeutel herauszuholen, wie sich später herausgestellt hatte. Der Sprecher beschrieb die Szene in schnellem, ernstem Koreanisch, während dicht hintereinander fünf Schüsse zu hören waren. Eine in Tränen aufgelöste schwarze Frau wurde eingeblendet. »Vergesst seinen Namen nicht«, sagte sie und zeigte in die Kamera. Darunter liefen koreanische Untertitel.

Das Video musste gerade erst veröffentlicht worden sein, aber Grace verstand nicht, weshalb. Wahrscheinlich gab es irgendeine juristische Erklärung, aber der Zeitpunkt der Veröffentlichung war nicht nur konfliktträchtig, sondern auch ausgesprochen dumm. Die Grand Jury hatte erst kürzlich entschieden, die Wunde war noch frisch. Und jetzt gab es den Beweis, dass der Junge nicht bewaffnet gewesen und kaltblütig getötet worden war.

Paul nahm die Fernbedienung und schaltete zurück zu der Serie, aber die Werbung war noch nicht vorbei. Als Grace wieder nach der Fernbedienung greifen wollte, gebot ihr Paul mit einem warnenden Blick Einhalt. Sie sah Yvonne an, die mit gesenktem Kopf dasaß und regelrecht erstarrt war. Es war so jämmerlich, dass Grace wütend wurde. Sie konnten sich nicht mal die Nachrichten ansehen? Nicht mal das ertrugen sie?

Seit Miriam aufgehört hatte, mit Yvonne zu reden, und vielleicht auch schon ein paar Jahre länger, löste jede noch so harmlose Erwähnung von Schwarzen, Ethnien oder Rassismus in der Familie Park große Anspannung aus. Grace fragte sich, ob das in anderen Familien auch so war, ob ihre Freunde und deren Eltern dieses Thema ebenso mieden wie das Sprechen über Sex.

Vor zwei Jahren hatte Miriam einen Mann namens Kenechi mit nach Hause gebracht, einzig und allein – davon war Grace überzeugt –, um ihre Mutter zu ärgern. Er war der perfekte schwarze Testfreund für koreanische Eltern: ein solider Ivy-League-Investmentbanker aus einer Mittelschichts-Einwandererfamilie. Abgesehen davon war er völlig unpassend für Miriam, fast die Karikatur eines spießigen Finanztypen im rosa Polohemd, der ständig die elitäre Wharton Business School erwähnte. Wäre er weiß gewesen, hätte Miriam ihn gehasst, da war sich Grace sicher, doch so stellte sie ihn nach dem dritten Date ihren Eltern vor. Sie hatte sie nicht darauf vorbereitet – Grace vermutete, dass ihre Mutter eigentlich mit einem Japaner gerechnet hatte, was für sie schon schlimm genug gewesen wäre –, und Yvonne benahm sich furchtbar daneben. Die Sprachbarriere hätte hierbei eigentlich sogar von Vorteil sein können, aber Yvonne schaffte es tatsächlich zu fragen, wie viele Eltern er habe, und die offensichtliche Abscheu in ihrem Gesicht konnte man ebenfalls nicht ihrem schlechten Englisch ankreiden. Das einzige Gute an dem unerträglichen Abendessen war seine unerwartet kurze Dauer gewesen. Grace hatte den Typen nur dieses eine Mal gesehen, und es war zugleich das bisher letzte Mal, dass Miriam ihre Eltern sah.

Aber auch wenn der Abend schlimm gewesen war, erklärte er nicht, warum es zu diesem dauerhaften Bruch in der Familie gekommen war. Kenechi war nur eine kurze Affäre. Am Ende fand Miriam heraus, dass er Dutzenden junger asiatischer Frauen auf Instagram folgte, und brach den Kontakt zu ihm ab. Ein paar Wochen später lernte sie Blake online kennen und erwähnte Kenechi nie wieder. Anfangs triezte Grace sie noch mit ihm, um herauszufinden, was passiert war, aber Miriam wurde dann immer schnell sauer und wechselte das Thema.

Nein, es steckte mehr dahinter, etwas Großes, da war sich Grace sicher. Sie spürte es wie eine Glaswand, real und bedrohlich, aber nur unter bestimmten Umständen sichtbar: durch Schmutz oder Fingerabdrücke oder das Aufblitzen einer Lichtreflexion. Alfonso Curiel war ein solches Aufblitzen, das das Glas sichtbar machte, und Grace wollte die Hand ausstrecken und die Scheibe berühren. Sie fühlen, ihren Widerstand spüren und sichergehen, dass sie wirklich da war. Um die Größe und den Umfang abzutasten und dann vielleicht einen Weg zu finden, sie zu entfernen, ohne dass sie zersplitterte.

»Was für eine schreckliche Geschichte«, sagte sie.

Yvonne nahm Pauls dreckigen Teller und stellte ihn auf ihren eigenen, stand auf und begann den Tisch abzuräumen.

»Das ist doch irre, dass sie ihn nicht mal anklagen«, fuhr Grace fort und ließ ihre Mutter nicht aus den Augen. »Ihr habt’s auch gesehen, oder? Er hat ihn kaltblütig erschossen.«

Sie gaben keine Antwort, und Grace fragte sich, ob ihnen für dieses Gespräch überhaupt die richtigen Worte zur Verfügung standen. Sie und ihre Eltern sprachen untereinander eine Mischung aus Englisch und Koreanisch, wechselten mitunter mehrmals in einem einzigen Satz zwischen den Sprachen hin und her, und keiner von ihnen war perfekt zweisprachig. Koreanisch war Graces Muttersprache, die aber schnell in den Hintergrund gedrängt worden war, sobald sie in die Schule ging, weshalb sie nun Kinderkoreanisch und Apothekenkoreanisch sprach, aber bei komplizierten Wörtern und Sätzen über ihre eigene Zunge stolperte. Paul und Yvonne sprachen einfaches Englisch, das ausreichte, um nichtkoreanische Kunden zu bedienen, aber obwohl sie nun seit dreißig Jahren in Kalifornien lebten, hatten sie die Sprache nie richtig gelernt. Meistens verstanden sich Grace und ihre Eltern. Sie verfügten über genug Worte, um alles Wichtige mitzuteilen, wie Grace fand – Bedürfnisse, Ängste, Trost, Liebe. Aber sie hatte keine Ahnung, was »anklagen« auf Koreanisch hieß, was wiederum bedeutete, dass ihre Eltern sie vermutlich nicht verstanden, wenn sie das englische Wort benutzte.

Miriams Meinung nach waren sie und Grace überbehütet und desinteressiert aufgewachsen, weil ihre Eltern mit ihnen immer nur über ihr eigenes winziges Universum gesprochen hatten: Schule und Kirche, Familie und Freunde. Für sie war klar, dass sich Paul und Yvonne ganz bewusst dafür entschieden hatten, die Töchter wie Orchideen in einem Gewächshaus zu halten, damit sie abhängig blieben und gehorchten, ohne nachzudenken. Es war unfair, Yvonnes mütterliche Hingabe als egoistische List zu verunglimpfen und damit die eigene Undankbarkeit zu rechtfertigen.

Grace wollte das Thema gerade fallen lassen, als Paul den Kopf schüttelte. »Du kennst nicht die ganze Geschichte.«

»Nein«, gab sie zu. »Aber ich weiß, dass er ein unbewaffneter Teenager war und jetzt tot ist.«

»Menschen machen Fehler. Die Polizei wusste nicht, dass er unbewaffnet war, und er lief vor ihnen weg.« Paul pulte mit seinem rissigen Fingernagel zwischen seinen Zähnen herum.

»Du kannst nicht ernsthaft behaupten wollen, es wäre seine Schuld gewesen.«

»Grace«, sagte er streng, und sie merkte, dass sie laut geworden war. Er schaute zu Yvonne hinüber, die neben der Spüle stand, eine Melone aufschnitt und so tat, als würde sie nicht zuhören. »Geuman dwo.«

Geuman dwo. Hör auf. Lass es sein. Es reicht. So hatten ihre Eltern sie als Kind zur Ordnung gerufen, ein scharfer Befehl, der ihre Autorität durchsetzte und Fragen im Keim erstickte. Jetzt ging er Grace nur noch gegen den Strich.

Sie sprach laut genug, dass Yvonne sie hören konnte. »Es ist jetzt zwei Jahre her«, sagte sie, und in ihrer Stimme lag die ganze Erbitterung über das monatelange erzwungene Schweigen. »Warum sagt ihr mir nicht, was passiert ist?«

Yvonne kam mit einer Schüssel voller hellgrüner Honigmelonenstücke an den Tisch zurück. In ihren Augen standen Tränen – sie zitterte vor Anstrengung, sie zurückzuhalten, trotzdem liefen sie über ihr verhärmtes Gesicht. Sie setzte eine Ecke des Plastiktabletts nach der anderen ab, als hätte sie Angst, einen Laut zu erzeugen.

»Tut mir leid, Umma«, sagte Grace. Ihre Wut wich einem viel schlimmeren Gefühl, einer Mischung aus Frust und Angst und Schuld. Yvonne setzte sich und tupfte sich die Augen ab.

Was da im Fernsehen passierte, in ihrem Newsfeed, draußen in der Welt, was anderen Menschen anderswo zustieß – das war sicherlich alles wichtig, aber nicht Teil ihres Lebens. Grace wollte nicht zulassen, dass es all das trübte, was sie als wahr empfand, die grundlegende Güte und den Wert der Menschen, die sie liebte. Denn sonst wäre sie kein Stück anders als Miriam.

Yvonne wischte mit dem Nagel ihres Ringfingers eine letzte Träne ab, die wie eine Perle aussah. Mit einem kurzen, abschließenden Seufzen rieb sie sich die Nase und spießte dann mit der winzigen Gabel ein Stück Melone auf. Sie hielt es Grace hin und die andere Hand darunter, um die Safttropfen abzufangen. »Probier mal«, sagte sie und setzte ein zerbrechliches Lächeln auf.

Grace verspürte den üblichen Widerstand – sogar zu Hause war es ihr peinlich, wenn Yvonne versuchte, sie wie ein Kind zu füttern. Aber vielleicht war es heute Abend besser, ihre Bemutterung zu akzeptieren. Sie öffnete den Mund und nahm den süßen Bissen entgegen.

Brandsätze (eBook)

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