Читать книгу Brandsätze (eBook) - Steph Cha - Страница 11

Оглавление

2 – DIENSTAG, 25. Juni 2019

Sie warteten auf Ray. Seit einer Stunde standen sie schon aufgereiht unter der gleißenden Sonne auf dem betonierten Parkplatz. Sie wollten sich nicht einfach gemütlich ins Auto setzen und die Klimaanlage anstellen, denn wenn Ray rauskam, würde er nach ihnen Ausschau halten, und es war ihnen ein Anliegen, bereit zu sein, wenn er in ihre Richtung sah.

Es wäre ein schöner Tag für ein Picknick im Schatten oder einen kleinen Spaziergang gewesen, doch Shawn litt unter der brütenden Hitze, und über Nishas Oberlippe stand der Schweiß. Selbst die Kinder, die auf der Fahrt noch so aufgedreht gewesen waren, verhielten sich still. Ihre Aufregung wurde durch das lange Warten auf dem heißen, hässlichen Parkplatz gedämpft. Tante Sheila war zum Glück zu Hause geblieben, um das Essen vorzubereiten. Eine ohnmächtige Oma konnte jetzt wirklich keiner gebrauchen.

Dasha hielt einen im Sonnenlicht glitzernden Ballon in der Hand, der fast halb so groß wie sie war. Auf dem silberblauen Plastik stand in Regenbogenfarben Welcome Home. Sie hatte ihn selbst ausgesucht, von ihrem Taschengeld bezahlt und darauf bestanden, ihn mit nach Lompoc zu nehmen. Shawn sah jetzt ein, dass es die richtige Entscheidung gewesen war. Dasha in ihrem sonnengelben Kleid mit dem Ballon würde das Erste sein, das Ray zu sehen bekam.

Neben ihr schwitzte Darryl in dem Kragenhemd, in das Tante Sheila ihn gezwungen hatte. Die Krawatte hatte er auf der Fahrt erst gelockert, dann abgenommen. Shawn würde ihm später beim Binden helfen – oder Ray, falls er noch wusste, wie das ging.

Der Junge zog den Ballon zu sich herunter und wedelte ihn wie einen Fächer zwischen sich und seiner Schwester hin und her. Der Ballon quietschte in seinen Fingern. Dasha protestierte und umklammerte die lasche Schnur. Dann gab sie auf und beugte sich vor, um vielleicht doch eine kühle Brise zu erhaschen. Die beiden sehen aus wie betende Engel, die die Köpfe zusammenstecken und auf ihren Vater warten, dachte Shawn.

Um sie herum erstreckte sich eine von Maschendraht umzäunte Betonwüste – grimmiges Grau mit Flicken aus sterbendem Gras. Hinter dem Maschendraht lagen die starren, stummen Gebäude des Bundesgefängnisses, in dem Ray die vergangenen zehn Jahre verbracht hatte.

Endlich öffnete sich in der Mauer eine Tür, und heraus trat ein Mann mit einem Pappkarton im Arm, der sein Gesicht dem Himmel und der Freiheit zuwandte.

»Da ist er«, sagte Nisha, die auf den Zehenspitzen stand. »Da ist er!« Sie winkte und rief: »Ray!«

Er sah sie und lächelte. Richtete sich auf, ging schneller. Es war wirklich Ray, und einen Moment lang konnte Shawn den Anblick kaum fassen. Sein Cousin trug ein nagelneues Hemd und schicke dunkle Jeans – Nisha hatte ihm das Entlassungsoutfit schon vor einem Monat geschickt. Ray hatte früher großen Wert auf sein Aus­sehen gelegt, und es war seltsam, ihn jetzt wieder in normaler Kleidung zu sehen. Er schien zu schimmern wie eine in allen Details eingebildete Fata Morgana.

Er war es leibhaftig – und der Leib war gealtert, wie Shawn bemerkte. Nicht seit seinem letzten Besuch vor ein paar Monaten, aber seit dem letzten Mal, dass er Ray in Freiheit gesehen hatte. Außerhalb des zeitlosen Besucherraums war es offensichtlich: Ray war ein vierundvierzigjähriger Mann, der die letzten Überreste seiner Jugend in einer überbelegten Zelle hinter sich gelassen hatte. Sein Haar war leicht ergraut, und er war zwar schlank, besaß aber nicht mehr die drahtige Härte von früher. Die Tätowierungen an seinen Unterarmen hatten weiche Ränder bekommen und waren verblichen, und aus der schwarzen Tinte war ein schmutziges Grün geworden: Darryl und Dasha in gotischen Buchstaben, umgeben von einem dichten, dornigen Geflecht aus Mustern und Symbolen.

Nisha hatte einen Platz auf Rays Brust bekommen, wie Shawn wusste. Schon vor der Hochzeit hatte sich Ray Laneisha über das Herz tätowieren lassen, ein spontaner nächtlicher Entschluss, den er nicht bereut hatte. Auf dem rechten Bizeps eine weitere Ehr­erweisung: Ava. Shawn trug den Namen an der gleichen Stelle. Als er vierzehn geworden war, hatten er und Ray sich die Tattoos von ihrem Freund Tramell stechen lassen, und auf dem Rücken den Namen ihrer Gang, Baring Cross, angeordnet wie ein Kruzifix. Die Worte überschnitten sich beim R, Shawn spürte sie warm auf seiner Haut. Ray in Freiheit war ein unwirklicher Anblick. Berauschend und freudig. Doch mit ihm kehrte auch ein erhöhtes Bewusstsein für all das zurück, was sie hierhergeführt hatte. Die Vergangenheit hüllte sie in dünne, klebrige Schichten ein.

Die Kinder rissen ihn aus seiner Trance in die grelle Gegenwart zurück.

»Daddy!« Dasha sprang in die Luft und rannte auf Ray zu, als er durch die Tür im Zaun trat. Darryl und Nisha folgten ihr mit glänzenden Augen. Shawn hielt sich zurück und machte Fotos mit seinem Handy. Sie würden sie später von ihm haben wollen.

Ray stellte den Karton ab, nahm seine Tochter fest in die Arme und verbarg sein Gesicht an ihrer Schulter. Shawn sah, dass er die Augen schloss und seine Tränen von dem gelben Stoff des Kleides aufgesogen wurden.

»Gott sei Dank«, sagte Ray und nickte mit dem Kopf, während er sie weiter umarmte. »Gott sei Dank für diesen Tag.«

»Hey, Dad«, sagte Darryl mit einem schüchternen kleinen Winken. Er war sechzehn, und Shawn wusste, dass er sich schon sehr männlich vorkam.

Ray lachte und ließ Dasha los. Er machte das halbherzige Winken seines Sohnes nach und wischte sich mit der anderen Hand die Tränen aus den Augen. »Was war das denn?«, fragte er und öffnete die Arme. »Komm her.«

Darryl ließ sich von seinem Vater drücken, hielt die Arme aber eng an seinen Körper gepresst. Als Ray ihn nicht losließ, hob der Junge einen Arm und klopfte seinem Vater auf die Schulter, woraufhin Ray ihn nur umso fester umarmte.

Shawn fiel auf, dass er nicht sagen konnte, wer von den beiden größer war. Darryl war gerade wieder mitten in einem Wachstumsschub, jede Woche wurden seine schmalen Knochen länger. Manchmal überraschte es Shawn, wie schnell die Kinder sich veränderten, dabei sah er sie alle paar Tage.

»Er ist gefahren«, sagte Nisha strahlend. »Er wollte derjenige sein, der dich abholt.«

Darryl löste sich aus den Armen seines Vaters und zuckte die Achseln. »Es war gut zum Üben.«

Ray hielt seinen Sohn immer noch an den Schultern fest und starrte ihn an. »Du kannst Auto fahren?«

»Ich bekomme nächsten Monat meinen Führerschein.«

»Wenn du bestehst«, sagte seine Mutter. »Werd mal nicht übermütig.«

Darryl hatte seinen Probeführerschein für Anfänger im Januar bekommen. Shawn hatte ihm das Fahren beigebracht: Sie waren in Shawns Grand Cherokee durch die Nachbarschaft gecruist und hatten auf der Mall Ring Road ihre Kreise gedreht, damit Darryl bei niedrigem Tempo Fahrpraxis bekam. In den letzten Monaten war er bereits hin und wieder auf dem Freeway gefahren. Die Tour nach Lompoc war seine bisher längste, und der Junge hatte seine Sache gut gemacht. Shawn war stolz auf ihn.

In vielerlei Hinsicht war er diesen Kindern genauso sehr ein Vater wie Ray. Das war ein Tabuthema, aber er vermutete, dass alle außer Ray es ähnlich sahen. Lompoc lag dreieinhalb Autostunden von Palmdale entfernt. Als die Kinder noch klein waren, hatte Nisha sie so oft wie möglich mitgenommen, aber sie musste auch Geld verdienen, und die Kinder hatten, als sie älter wurden, zunehmend eigene Pläne. Ihr Vater spielte in ihrem Leben eine immer geringere Rolle. Aus dem Gefängnis heraus konnte er ihre Aufmerksamkeit nicht einfordern, und was immer sie an schlechtem Gewissen gehabt haben mochten, verschwand, je länger er weg war. Manchmal hatte Shawn sie mitgenommen und dabei geahnt, dass sie auch nicht öfter zu Besuch kamen als er, also vielleicht drei, vier Mal im Jahr. Ray hatte sie im Zeitraffer aufwachsen sehen.

Auch Shawn hatte mal im Knast gesessen, konnte sich aber dennoch nicht vorstellen, wie es war, ein ganzes Jahrzehnt zu verlieren, während die Welt sich weiterdrehte. Er war nie in einem Bundesgefängnis gewesen, hatte aber in seiner Jugend immer wieder mal im Central Juvenile und in Twin Towers eingesessen und zum Schluss dann drei Jahre in Lancaster. Damals war sein Leben aus den Fugen geraten. Manchmal war es die Hölle, immer aber ruhelos gewesen, denn der Boden unter seinen Füßen hatte sich nie sicher angefühlt. Bei jeder Entlassung war er aufs Neue orientierungslos gewesen, als würde er aus dem Koma erwachen. Die verlorene Zeit ließ sich nicht nachholen. Er war neidisch gewesen auf die Erlebnisse anderer Leute, die auf entspannte Tage, Freundschaften, Weihnachtsfeiern zurückblicken konnten. Vielleicht war es ein Segen, dass Ray nicht wusste, was er verpasst hatte. Darryls Fußballspiele, seine Begeisterung für Star Wars. Die Aufregung, als Dasha zum ersten Mal ihre Tage bekommen hatte, und die von Tante Sheila zur Feier des Tages gebackenen Red Velvet Cupcakes. Die schwierigen Nächte, in denen Nisha nicht schlafen konnte, in denen sie und Shawn in der Küche saßen und redeten, in denen Angst und Einsamkeit sie zu einer echten Familie zusammenschweißten.

Ray ließ seinen Sohn los und sah seine Frau an. Shawn fand, dass sie gut aussah. Sie hatte sich frisiert und geschminkt und schick angezogen. Sogar ihren Hochzeitsring hatte sie geputzt, er glänzte wie neu. Nisha war so alt wie Ray, und natürlich war auch sie seit Rays Verhaftung älter geworden, doch heute strahlte sie wie eine Schwangere.

»Big D, Little D«, sagte Ray, den Blick auf Nisha gerichtet. »Schaut mal kurz weg.«

Die Kinder sahen weiter ihren Vater an, verdutzt über die Aufforderung und die Spitznamen – soweit Shawn wusste, war sein Neffe noch nie Big D genannt worden. Ray gab ihrer Mutter vor ihren Augen einen langen, leidenschaftlichen Kuss, und Shawn lachte, als aus ihrer Verwirrung mit einem Mal zur Schau gestellter Ekel wurde – aus schierer Freude, ihre Eltern zusammen zu sehen.

Dann tauchte Ray wieder auf. Sein Arm war um Nishas Hüfte geschlungen. Er machte eine Kopfbewegung in Richtung Gefängnis. »Damit könnte ich da drin noch mal sechs Monate durchhalten.«

Nisha lachte, und auf ihrem Gesicht glänzten Glückstränen. »Denk nicht mal dran, Ray Holloway.«

Shawn machte noch mehr Fotos. Zum ersten Mal seit Jahren – seit sie Ray zu seinem vierzigsten Geburtstag gemeinsam in Lompoc besucht hatten – sah er sie alle vier zusammen. Eine schöne Familie. Lächelnd. Komplett.

»Schaut mal zu mir«, sagte er und hielt das Handy hoch.

Alle drehten sich um. Ray nickte ihm zu, als würde er ihn jetzt erst wahrnehmen. »Wer hat dich eingeladen?«, fragte er.

»Ich liebe dich auch«, sagte Shawn und drückte auf den Aus­löser, als Rays Gesicht sich zu einem Grinsen verzog.

Er hatte überlegt, zu Hause zu bleiben. Jazz, seine Freundin, half Tante Sheila bei den Vorbereitungen fürs Abendessen, und er wusste, dass sie es lieber gesehen hätte, wenn er bei ihr geblieben wäre. Es gab jede Menge zu tun – jedenfalls laut Tante Sheila –, und irgendwer musste auf Monique aufpassen. Jazz’ Tochter war gerade drei geworden und besaß eine Energie und Furchtlosigkeit, die höchste Wachsamkeit erforderte.

Aber Darryl und Dasha hatten Shawn gebeten mitzukommen, und Nisha hatte eingewandt, er müsse schon mit, weil Darryl unbedingt fahren wollte. Shawn hatte ihr versprechen müssen, dafür zu sorgen, dass ihr Sohn sie auf dem Hinweg nicht alle umbrachte, und dann auf dem Rückweg selbst das Steuer zu übernehmen. Da sie ihn also alle dabeihaben wollten, war er natürlich mitgefahren. Außerdem war Ray für ihn mehr ein Bruder als ein Cousin. Er und Tante Sheila waren die nächsten Blutsverwandten, die ihm geblieben waren.

Shawn ging zu den anderen und umarmte Ray. Die beiden Männer hielten sich fest, bis sie schnieften und lachten.

Shawn hob Rays Karton auf. »Auf geht’s, Mann. Nichts wie raus aus Lompoc.«

Sie quetschten sich in Shawns Jeep. Ray saß auf dem Beifahrersitz, Nisha und die Kinder hinten. Shawn ließ den Wagen an.

»Ich bin am Verhungern«, sagte Ray, als sie auf dem Freeway waren. »Können wir was zu essen holen?«

»Hast du nichts zu Mittag gegessen, Daddy?« Dasha steckte den Kopf zwischen den Vordersitzen hindurch.

»Baby Dash, ich hab in den letzten zehn Jahren nichts Vernünftiges zu essen gehabt.«

Shawn erinnerte sich nur zu gut an den widerwärtigen Geschmack von Knastfleisch, farblos, gummiartig und faul riechend. Essen hatte für ihn lange Jahre keinen Genuss bedeutet, nur reine Nahrungsaufnahme. Tütenkartoffelbrei und Bohnen aus der Dose. Endlose Scheiben von weißem Toast, die im schlaffen Mund zu Brei wurden.

»Kannst du noch warten, bis wir zu Hause sind? Mom bereitet ein Festmahl vor«, sagte Nisha. »Im Ernst, sie ist schon seit einer Woche am Kochen.«

Ray schwieg ein paar Sekunden lang, und Shawn wusste, dass er an einen Cheeseburger mit Speck und Pommes dachte. »Wie lange dauert die Fahrt?«

»Dreieinhalb Stunden«, sagte Nisha. »Heute ist dein Tag, Liebling. Wir machen, was du willst.«

Er strich sich übers Kinn und wog seine Optionen ab, und Shawn sah, welche Freude es ihm bereitete, selbst entscheiden zu können. »Okay, ich kann warten«, sagte er schließlich. »Ich will nur in mein Zuhause.«

Das Zuhause war das Haus an der Ramona Road nahe der 138 in Palmdale. Ray war noch nie in dieser Gegend gewesen, seine Familie war ohne ihn hergezogen. Shawn wusste noch, wie er selbst das Haus zum ersten Mal gesehen hatte – am Tag seiner eigenen Entlassung aus dem Gefängnis vor sieben Jahren. Eine Entlassung für immer, wie er sich geschworen hatte.

Tante Sheila hatte ihn abgeholt. Allein. Ray saß in Lompoc ein, und Onkel Richard war an Prostatakrebs gestorben, während seine beiden Jungs hinter Gittern saßen, wofür Shawn sich bis heute schämte. Da alle Männer weg waren, war Tante Sheila bei Nisha eingezogen, um ihr mit Darryl und Dasha zu helfen. Sie hatten das Haus in Palmdale nach der Wirtschaftskrise gekauft und Los Angeles gegen Antelope Valley, das staubige Wüstenland in den hinteren Ecken von LA County eingetauscht. Nisha arbeitete am Flughafen LAX und musste seit dem Umzug statt zehn nun siebzig Meilen pendeln. Aber die Gegend war bezahlbar und ruhig, weit weg von den bitteren Erinnerungen und den Gangs in South Central. Außerdem wohnten sie kaum zwanzig Meilen vom California State Prison in Lancaster entfernt, wo Tante Sheila Shawn so oft wie möglich besucht hatte.

Palmdale war völlig anders als ihre alte Wohngegend. Keine Hektik, kein Chaos. Keine Eckläden, keine Helikopter, keine johlenden, herumstreunenden Teenager. Nur trockene Vorstadt mit einem groben, einfachen Äußeren. Es war langweilig hier, und Shawn hatte die fade Ruhe mit den Jahren schätzen gelernt. Er spürte, dass Ray in seinem Sitz hin und her rutschte, als sie am Ortsschild von Palmdale vorbeifuhren. Viel gab es nicht zu sehen: einen Großmarkt, einen Drahtzaun, struppiges Gebüsch auf hartem gelben Boden, Stromkabel vor einem leeren, brennenden Himmel.

»Das ist es also, ja?«, fragte Ray, als sie vom Freeway abgebogen waren und den von Reihenhäusern gesäumten Pearblossom Highway entlangfuhren.

»So schlimm ist es nicht«, sagte Nisha. »Zur Mall kommt man in fünfzehn Minuten, und da kriegt man ziemlich viel von dem, was wir auch in L.A. hatten. Sogar einen Tommy’s gibt es.«

Ray lachte und streckte den Arm nach hinten, um ihre Hand zu nehmen. »Baby, du weißt, wo ich gewesen bin. Für mich ist das hier der Himmel.«

Ihr Haus war beige und kastenförmig, hatte ein schräges Ziegeldach und sah genauso aus wie die drei anderen Häuser des Blocks. Von der Stange, schnell und einfach gebaut, aber groß genug, dass jedes der Kinder ein eigenes Zimmer hatte. Und Shawn ein Klappsofa.

Kaum waren sie in die Einfahrt gefahren, kam Tante Sheila aus dem Haus geschossen. Shawn ahnte, dass sie am Fenster nach ihnen Ausschau gehalten hatte. Ray stieg aus dem Auto und fiel seiner Mutter um den Hals. Sie umarmten sich eine ganze Minute lang, während die anderen zusahen. Diesmal nahm Nisha die Szene mit dem Handy auf.

»Mein Baby, du bist zu Hause«, sagte Tante Sheila und ließ ihren Sohn gerade so weit los, dass sie sein Gesicht in ihre Hände nehmen und nachdrücklich schütteln konnte. »Geh ja nicht wieder weg. Niemals.«

Ohne Tante Sheila wäre auch Shawn vielleicht wieder im Knast gelandet. Sie hatte Nisha überredet, ihn aufzunehmen, bis er wieder auf eigenen Beinen stand. Einen Mann im Haus zu haben sei gut für die Kinder, argumentierte sie, und sollte er es wirklich fertigbringen, so weit von seinem alten Viertel entfernt noch einmal irgendeinen Gangstermist anzustellen, würde sie ihn eigenhändig wieder rauswerfen. Das Haus war sein Heim geworden, ein sicherer Hafen, um Atem zu schöpfen, während er in einer unsteten Welt neuen Halt fand.

Monique war Tante Sheila hinausgefolgt. Bei Shawns Anblick rannte sie los, dass ihre zu Zöpfen gebundenen Haare auf ihrem kleinen Kopf wippten.

»Papa Shawn«, rief sie. »Hoch! Hoch!«

Er hob sie hoch, und sie ließ die Beine baumeln, als sie auf seinen Schultern saß. Sie kannte Shawn, seit sie alt genug war, sich überhaupt an etwas erinnern zu können.

»Hey, Momo«, sagte er. »Das ist Onkel Ray.«

Sie riss die Augen auf.

»Du musst Monique sein. Ich mag deine Frisur.« Rays Stimme war sanft, und er wedelte mit dem Finger vor ihrem Gesicht. Sie lächelte, entblößte Gaumen und Milchzähne und verbarg dann ihr Gesicht an Shawns Hals.

»Monique, Baby, sag hallo.« Jazz erschien hinter ihrer Tochter und lachte über diesen Schüchternheitsanfall. Sie legte einen Arm um Shawns Hüfte und streckte Ray die Hand entgegen. »Ich bin Jazz«, sagte sie fröhlich.

Jazz hatte Ray unbedingt kennenlernen wollen. Sie hatte geradezu darauf bestanden. Eine der wenigen Streitigkeiten in den fast zwei Jahren ihrer Beziehung war ausgebrochen, weil Shawn sich geweigert hatte, Jazz mit nach Lompoc zu nehmen. Jazz fand, wenn sie und Ray ihm beide so wichtig waren, sollte er auch wollen, dass sie sich kennenlernten. Aber Shawn wusste, wie es sich anfühlte, unter den Blicken und der Kontrolle der Wärter in Knastkleidung und an einer unsichtbaren Leine gehalten im Besucherzentrum eines Gefängnisses zu sitzen. So sollte sie Ray nicht sehen, vor allem, weil sie ihn vorher nicht gekannt hatte.

»Ich hab viel von dir gehört«, sagte Ray und nahm ihre Hand. Er war bei Frauen immer gut angekommen und hatte seinen alten Charme nicht verloren.

»Von ihm?« Jazz beäugte Shawn mit deutlich sichtbarer Skepsis.

»Nee, du kennst doch Shawn.« Ray setzte eine ausdruckslose Miene auf und sprach mit tiefer Stimme. »Jazz ist cool. Sie ist Krankenschwester. Sie hat ein Kind.«

Jazz kicherte und zog Shawn dichter zu sich heran.

»Aber meine Mom und Nisha halten eine Menge von dir. Bleib bei ihm, sonst brichst du uns allen das Herz.«

Sie gingen ins Haus, wo Tante Sheila genug Essen für vierzig Leute vorbereitet hatte. Der Tisch bog sich unter Makkaroni mit Käse, frischen Buttermilchkeksen, Kartoffelsalat und gebackenen Bohnen. Es gab ein ganzes Tablett voll mit Schweinerippchen unter glänzender Barbecuesauce, und ein zweites mit Brathähnchen. Außerdem eine große Pizza von Domino’s mit Peperoni, Jalapeños und Ananas. Das war Shawns Beitrag und so ziemlich das einzige nicht hausgemachte Gericht. Schon in der Kindheit war das ihre Lieblingspizza gewesen, und Shawn wusste, wie gut sie nach jahrelangem Knastfraß schmeckte. Ray stierte die Festtafel an. Das Wasser lief ihm im offenen Mund zusammen.

»Na, ich wär so weit«, sagte er. »Beten wir.«

Sie standen im Kreis, hielten sich an den Händen und warteten auf Ray, als hätte er schon immer das Tischgebet für sie gesprochen. In Wahrheit konnte sich Shawn an kein einziges Mal erinnern. Als Kinder waren sie zwar regelmäßig in die Kirche gegangen, weil Tante Sheila und Onkel Richard jahrelang dafür gesorgt hatten, dass sie keinen Sonntag ausließen, aber Rays religiöser Eifer hatte seinen Ursprung in Lompoc. Manchmal nervten seine Predigten, aber der Glaube schien ihm gutzutun. Im Knast konnte man sicher Schlimmeres finden als den Weg zu Jesus.

Ray begann zu beten. »Wir danken dir, himmlischer Vater, dass du diese Familie zusammengeführt hast. Danke für meine Frau, und dass sie stark geblieben ist. Ihre Standhaftigkeit und Liebe waren in diesen langen Jahren meine Rettung. Für meine Kinder, die so gut und wunderschön sind –«

Seine Stimme brach, und Tante Sheila und Nisha sagten sanft Amen. Shawn öffnete die Augen und sah, dass Ray sich die Tränen abwischte. Nisha ergriff seine Hand, hielt sie fest und streichelte mit dem Daumen sein Handgelenk. Darryl und Dasha beobachteten die Szene mit großen Augen und voller Ehrfurcht.

Ray räusperte sich und setzte das Gebet fort – lauter diesmal, fast rief er seine Worte. »Und ich danke dir, Vater im Himmel, dass du mich erlöst hast. Dass ich meinen Verstand nicht verloren habe, dass du für meine Sicherheit gesorgt hast. Dass du mich aus der Dunkelheit geführt und mich nach Hause gebracht hast, von wo mich nie wieder jemand wegholen kann.«

Shawn schloss die Augen. Er hörte Nisha schniefen. Tante Sheila murmelte noch ein paarmal Amen.

»Und ich bete für die, die wir verloren haben. Beschütze sie, Herr im Himmel.«

Jazz drückte Shawns Hand, er drückte zurück.

»Schütze dieses Haus, oh Herr«, donnerte Ray. »Lass nicht zu, dass wir je wieder auseinandergerissen werden.«

Während die Kinder abräumten, setzten die Erwachsenen sich ins Wohnzimmer und öffneten eine Flasche Champagner. Als Ray aufstand, um sich noch einmal Nachtisch zu holen, nickte Nisha Shawn zu. Er hatte ihr versprochen, heute Abend ein ernstes Wort mit Ray zu reden, und dies war die Gelegenheit dazu.

Shawn folgte seinem Cousin, der sich im Esszimmer einen Stapel frische Chocolate Chip Cookies auf seinen Teller lud und eine große Kugel Vanilleeis daraufklatschte.

»Mach mal halblang, Mann«, sagte Shawn lachend. »Dir wird noch schlecht.«

Ray grinste ihn an. »Ist mir egal, und wenn ich die nächsten drei Monate auf dem Klo verbringe. Ich esse das alles auf.« Mit einem Riesenbiss verschlang er einen halben Cookie.

»Mit Manny ist alles besprochen«, sagte Shawn. »Er will dich kennenlernen, um sicherzugehen, dass du nicht irre bist, aber danach kannst du gleich anfangen.«

Ray nickte und kaute.

»Ich hol dich Freitagmorgen ab. Zur Sicherheit sollten wir um halb fünf losfahren.«

Ray lachte und spuckte dabei Kekskrümel auf den Boden. »Scheiße, um die Zeit fährst du zur Arbeit? Du bist ein echt fleißiger Nigga.«

»Ich bin vor allem ein Nigga, der pendeln muss, so wie du auch bald.«

Shawn arbeitete jetzt schon seit seiner Entlassung aus Lancaster für Manny’s Movers, ein Umzugsunternehmen. Manny Lopez war der Cousin von Shawns Bewährungshelfer und ein großzügiger Mensch, der an zweite Chancen glaubte. Er hatte Shawn eingestellt, um seinem Cousin einen Gefallen zu tun, und jetzt würde er Shawns Cousin einstellen, um Shawn einen Gefallen zu tun. Der Job war gut, vor allem, seit Shawn zum Abteilungsleiter aufgerückt war und die Umzüge organisierte und leitete. Der einzige Wermutstropfen war, dass sich Mannys Büro in Northridge befand und die Umzüge sich über ganz L.A. verteilten. Das Ende der Welt, wie man in Palmdale selbst sagte. Shawns Arbeitsweg war fast so lang wie Nishas.

Ray schluckte. »Okay, also um halb fünf. Ich weiß das zu schätzen, Shawn.«

»Ich muss dich warnen. Die erste Woche wird hart. Bei uns fangen viele junge Typen an, richtige Muskelprotze, die nach einer Woche hinschmeißen.«

»Ich habe keine Angst zu arbeiten. Ich habe Angst, nicht durchzuhalten, verstehst du?«

Das Risiko war hoch. Shawn wusste es, Nisha wusste es, Ray wusste es. Ein frisch Entlassener auf Bewährung konnte nicht wählerisch sein. Es gab noch andere Möglichkeiten, die besser bezahlt waren und bei denen man nicht mit den Möbeln fremder Leute quer durch das County rödeln musste. Die meisten davon waren allerdings illegal.

Ray hatte seit der Highschool keinen richtigen Job mehr gehabt. Shawn auch nicht, bis Manny ihm die Chance gegeben hatte. Früher hatten sie pausenlos mit der Baring Cross Crew rumgehangen, hatten Dummheiten gemacht, Ärger bekommen, Dope vertickt und Leute abgezogen, wenn sie Geld brauchten. Als sie aussteigen wollten, machte das die Arbeitssuche schwierig. Irgendwann war Ray so demoralisiert gewesen, dass er mit einer Spielzeugpistole, die er für Darryl gekauft hatte, eine Bank überfiel. Als er drei Stunden später gefasst wurde, trug er immer noch die siebentausend Dollar in bar bei sich, die er zusammen mit der Pistole in einen Beutel gestopft hatte. Das galt als bewaffneter Überfall. Ein dämliches Verbrechen, das ihm eine zwölfjährige Haftstrafe beschert hatte, die wegen guter Führung auf zehn reduziert wurde. Und jetzt war er wieder da.

»Aber schau dich an. Du hast es geschafft.« Ray zeigte mit einem Cookie auf Shawn. »Ich mag Jasmine übrigens. Sie tut dir gut.«

»Ich mag sie auch.«

»Nicht zu fassen, dass Mom das eingefädelt hat. Für die Kuppelei hätte sie den Nobelpreis verdient.«

Shawn lachte. Es stimmte. Vor ein paar Jahren war Tante Sheila ins Krankenhaus gegangen, um einen Knoten in ihrer Brust untersuchen zu lassen, und hatte ihren Besuch dazu genutzt, sich mit einer hübschen schwarzen Krankenschwester ohne Ehering anzufreunden, die, wie sie herausfand, geschieden war. Am Ende der Untersuchung hatte Tante Sheila es geschafft, Jazz zu einem Blind Date mit ihrem Ex-Knacki-Neffen, der auf ihrem Klappsofa wohnte, zu überreden. Der Knoten hatte sich als gutartig herausgestellt.

»Du solltest bei ihr Nägel mit Köpfen machen«, sagte Ray. »Der Mann in deinem eigenen Haus sein.«

Deinem eigenen Haus. Das war eine Spitze, aber Ray hatte den Anstand, sie zu überspielen, indem er sich einen weiteren Cookie in den Mund stopfte.

Shawn wusste, dass Ray ihn liebte, aber auch, dass sein Cousin ihm nie verzeihen würde, dass er da gewesen war, als Ray es nicht war. Während Ray im Knast gesessen hatte, war Shawn mit Rays Mom, Rays Frau und Rays Kindern zusammen gewesen. Es zählte nicht, dass sie Shawns Tante, Shawns Freundin, Shawns Nichte und Neffe waren – Rays Anspruch war größer, und das ließ er ihn spüren. Es sei nicht fair, hatte er einmal in seiner Wut zu Shawn gesagt. Die gleiche weinerliche Beschwerde hatte er ihm schon in ihrer Kindheit an den Kopf geworfen, wann immer Tante Sheila für Shawn Partei ergriffen hatte. Sie war Rays Mutter, warum sollte er also um ihre Gunst buhlen müssen?

Das Arrangement war als Übergang gedacht gewesen, aber nach einigen Monaten hatte Nisha Shawn gebeten zu bleiben. Die Kinder liebten ihren Onkel. Ray war sauer. Er sah seine ganze Identität als Ehemann, als Vater, als Mann infrage gestellt. Er warf Nisha vor, ihn ersetzen zu wollen, und Shawn, sich an seine Frau heranzumachen. Aber er saß im Gefängnis, konnte nichts ausrichten und gab am Ende bis auf gelegentliche Anfälle von passiver Aggression und Gemaule klein bei. Es war ihm lieber, dass Shawn ihr zu Hause half, als dass es Nisha in den Sinn käme, ihn zu verlassen. Also hielt er den Mund, und Shawn blieb. Sechs Jahre lang.

Darryl kam aus der Küche und nahm sich einen Cookie. Er sah seinen Vater an und lächelte verlegen, wollte ihm nah sein, wusste aber nicht, was er sagen sollte, und überspielte es durch intensives Kauen. Als Ray ihm auf die Schulter klopfte, lief der Junge vor Freude rot an. Neuerdings wirkte Darryl manchmal so erwachsen, dass Shawn fast das Herz brach, doch jetzt sah er wieder die ungetrübte Zärtlichkeit dieses Kindes.

»Wie läuft’s in der Schule?«, fragte Ray.

Darryl zuckte die Achseln. »Ganz okay.«

»Der Unterricht und so – alles gut?«

»Ja, alles gut.«

»Gut, gut.«

Shawn begriff, wie sehr Ray nach zehn Jahren ohne seine Kinder den Anschluss verloren hatte. Sie waren jetzt Teenager und keine kleinen Kinder mehr, die einfach drauflosplapperten. Von ihrem Alltag wusste Ray nicht viel und konnte ihnen deshalb nur sehr allgemeine Fragen stellen. Er würde seine Kinder erst kennenlernen müssen, und das bedeutete Arbeit – eine Arbeit, die er noch nie hatte machen müssen.

»Lernst du ordentlich? Hast du gute Noten?«, fragte Ray.

»Ganz okay.«

»Hauptsache, du schwänzt nicht den Unterricht«, sagte Ray zufrieden.

Darryl warf Shawn einen kurzen Blick zu und senkte dann den Kopf. Im Mai hatte Nisha einen Anruf von der Palmdale High bekommen. Darryl hatte nach den Osterferien an drei Tagen gefehlt und am nächsten Tag immer einen Entschuldigungszettel abgegeben, unterschrieben von »Laneisha Holloway«, auf dem stand, ihr Sohn sei krank gewesen und habe zum Arzt gehen müssen. Die Schulsekretärin sprach nicht aus, was Nisha nur zu gut wusste: dass Darryl vor Gesundheit nur so strotzte. Sie beschuldigte ihn auch nicht offen, die Unterschrift seiner Mutter gefälscht zu haben, sondern fragte Nisha stattdessen, ob es Darryl gut ginge und ob er noch öfter wegen Arztbesuchen freigestellt werden müsste.

Als Nisha Shawn später von dem Anruf erzählt hatte, war sie stolz auf ihre geistesgegenwärtige und ruhige Reaktion gewesen. Sie hatte getan, was ihrer Meinung nach alle Eltern getan hätten: Sie hatte Darryl gedeckt – mit einer dreisten Spontanlüge über eine neu entdeckte Getreideallergie – und sich geschworen, ihm zu Hause die Leviten zu lesen.

Dafür hatte sie Shawn eingespannt, und er hatte den Jungen beiseitegenommen und ein ernstes Gespräch mit ihm geführt. Er sagte ihm, dass er zur Schule gehen und auf seine Mutter hören solle, dann würde er nicht im Gefängnis landen. Ray wusste nichts davon, Nisha hatte ihm also nichts gesagt. Ganz wie Shawn vermutet hatte.

»Nicht dass ich ein großes Vorbild wäre. Ich war ein grauenhafter Schüler«, sagte Ray. »Ich habe ständig geschwänzt und den größten Mist gebaut.«

»Was denn?«, fragte Darryl mit echter Neugier.

»Ach, das willst du gar nicht wissen.« Ray lächelte verschämt und genoss im Stillen seine Erinnerungen.

»Nichts Gutes«, sagte Shawn. Rays Nostalgie bereitete ihm Sorgen. Shawn hatte die guten Zeiten nicht miterlebt, die Albernheiten und die Feiern, die sich mit den schlechten abgewechselt hatten. Rays Jugend war anders gewesen, und er hatte eine längere Kindheit gehabt. Damals hatte »in einer Gang sein« vor allem bedeutet, zu posen und mit Freunden abzuhängen. Ray sprach über diese Zeit wie ein abgehalfterter Sportler, der an seine Highschoolerfolge zurückdenkt und in weichgezeichneten Erinnerungen schwelgt.

»Dein Onkel ist immer so ernst.« Rays Lächeln verbarg nicht seinen Unmut. Shawn hatte ihn verärgert, hatte ihm den traurigen Versuch vermasselt, seinen Sohn mit seiner Vergangenheit als böser Bube zu beeindrucken – jene Vergangenheit, die ihm fast ein Jahrzehnt in einem Bundesgefängnis eingebrockt hatte.

Dasha rief aus der Küche: »Mom! Onkel Shawn! Sagt Darryl, er soll seinen Hintern hierherbewegen.«

Ray rief zurück: »Darryl kann hierbleiben. Komm auch, Little D. Der Abwasch kann warten.«

Der Wasserhahn wurde abgestellt, und Dasha kam an den Tisch.

»Umarm deinen Daddy mal«, sagte Ray.

Ray war ein eifersüchtiger Mensch und hatte viel Energie darauf verschwendet, sich den Kopf über Shawn und Nisha zu zerbrechen, als wären sie zu dieser Art von Verrat fähig. Trotzdem musste Shawn sich eingestehen, dass ein kleiner Teil von ihm – das Schlechteste tief in ihm drin – seinen Cousin mit bitterer Missgunst als Rivalen ansah. Seit er denken konnte, kämpfte er gegen das üble Gefühl an, nur lose mit der Welt verbunden zu sein, jederzeit von ihr abgeschnitten werden zu können. Das Gefühl kam und ging, blieb mitunter aber jahrelang. Wenn seine Tante und sein Onkel nicht gewesen wären, wäre er elternlos aufgewachsen; wenn sein Cousin nicht gewesen wäre, wäre er ohne Bruder aufgewachsen. Diese Bindungen hatten ihn überleben lassen. Es schien also nur folgerichtig, dass er den Kindern seines Cousins ein Vater war. Diese Kinder, Darryl und Dasha, waren seine Kinder. Aber man konnte nicht umhin, dass Ray ihr Vater war.

Shawn kehrte ins Wohnzimmer zurück, wo Jazz und Nisha auf seinem alten Klappsofa saßen und Champagner tranken, während Tante Sheila in einem Sessel Platz genommen hatte und Monique etwas vorlas. Jazz lächelte ihm zu, und er betrachtete ihren Mund, den er so liebte, und ihre gütigen, klaren Augen.

Auch Nisha sah ihn an und nickte bedeutungsvoll in Richtung Esszimmer. Er hob den Daumen, und sie legte die Hand aufs Herz. Nein, seine Gefühle für Nisha waren ganz anders als die für Jazz. Er liebte sie, aber wie? Nicht wie eine Ehefrau, nicht wie eine Freundin. Nicht wie eine Mutter, nicht ganz. Vielleicht wie eine Schwester.

Brandsätze (eBook)

Подняться наверх