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Andronicus: Von der Camena geküsst

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Wir haben bisher je einen Sabiner und einen Latiner kennengelernt, die zu Römern wurden, jetzt wird es Zeit für einen griechisch-stämmigen Neurömer. Unser Kandidat heißt Andronicus und stammt aus dem süditalischen Tarent. Nach Rom gelangte er im 3. Jh. v. Chr., als Sklave nach der Einnahme der Stadt durch die Römer. Er lebte dann im Haushalt der Livier und wurde später freigelassen, was ihm das römische Bürgerrecht und seinen römischen Namen einbrachte: Lucius Livius Andronicus. Denn ein Freigelassener behielt als cognomen den Namen, den er schon als Sklave hatte, und übernahm Vornamen und Familiennamen seines ehemaligen Herren, der die Freilassung bewirkt hatte (Antike Autoren bezeichneten ihn deshalb meist einfach als Livius, während man heute als Kurzform Andronicus bevorzugt, vor allem, um Verwechslungen mit dem gleichnamigen kaiserzeitlichen Historiker vorzubeugen).

Man erkannte in Rom seine literarischen Talente; er war als Lehrer für die Söhne des Hauses Livius tätig, vor allem jedoch wurde er, der Grieche, zum eigentlichen Begründer der römischen Literatur und des römischen Theaters. Und neben der Arbeit an den Stücken stand er auch selbst als Schauspieler auf der Bühne.

Soweit jedenfalls die Standardversion von Andronicus’ Leben, wie sie sich in Übersichtsdarstellungen findet. Die Details sind auch hier wieder einmal umstritten: Selbst sein Vorname Lucius ist nicht sicher, auch Titus ist in der Überlieferung im Angebot. Gravierender sind jedoch die offenen Probleme rund um seine Herkunft, denn sie betreffen die grundsätzliche Frage nach den Anfängen der römischen Literatur. Wir werden uns später diesem Thema zuwenden, aber zunächst einen Blick auf die literarische Produktion des Andronicus werfen.

Die ersten ludi scaenici, also Bühnenspiele, fanden in Rom schon 367 v. Chr. statt. Dabei handelte es sich jedoch noch um Tanzdarbietungen mit Musikbegleitung, die man aufführte, um anlässlich einer pestilentia die Götter zu besänftigen (Wir wissen nicht, welche Seuche das war, die Übersetzung mit „Pest“ im Sinne des Schwarzen Todes wäre jedenfalls falsch). Zu diesem Zweck hatte man eigens Experten aus Etrurien kommen lassen; der Konsul, der das veranlasst hatte, war übrigens der gebürtige Volsker Popillius Laenas, dem wir im vorigen Kapitel begegnet sind.

Die Seuche ging, die Begeisterung der Römer für die ludi scaenici blieb - auch deshalb, weil man im Laufe der Zeit das Ganze zunehmend mit witzigen Einlagen und einer Spielhandlung aufpeppte. Das erste echte Theaterstück bekamen die Römer aber erst zu sehen, nachdem Andronicus in die Stadt gelangt war.


Abb. 4: Terrakottafigur eines Schauspielers, der vielleicht eine Figur aus Menanders Komödie „Der Griesgram“ darstellt, um 330 v. Chr. (Paris, Musée du Louvre).

Denn Andronicus brachte die humoristischen Kleinkunstdarbietungen, die bis dahin die römische Bühne dominiert hatten, auf Weltniveau, sprich griechisches Niveau. Er entfaltete eine umfassende Übersetzertätigkeit, bei der er zahlreiche Dramen aus dem Griechischen in Latein übertrug. Man kennt die Titel von diversen Stücken, etwa die Tragödien „Das Trojanische Pferd“, „Achilles“, „Aegisthus“ und „Ajax“, und dazu die Komödien „Gladiolus“, „Virgo“ und „Ludius“. Von den Schriften selbst hat sich fast nichts erhalten, die heutige Ausbeute aller seiner Werke beträgt maximal 50 Zeilen Text.

Trotz dieser dürftigen Überlieferung kann man sich ein Bild von der Arbeitsweise des Andronicus machen, und man erkennt, dass dieser erste literarische Übersetzer der gesamten europäischen Geschichte in reflektierter und methodischer Weise vorging. Das beginnt mit der gezielten Auswahl der übersetzten Stücke: Alle Tragödien, die er übertrug, stammen aus der klassischen Tragödie des 5. Jhs. v. Chr., während er bei den Komödien die Richtung der attischen Neuen Komödie aus hellenistischer Zeit bevorzugte (Abb. 4).

Ebenso wichtig war das Ringen mit der Sprache, denn das Griechische ist in gewisser Weise geschmeidiger als Latein, es erlaubt z. B. fast unbegrenzte Wortneubildungen durch Zusammensetzungen, was im Lateinischen viel schwieriger ist. Ebenso galt es, für die verschiedenen griechischen Versmaße passende Entsprechungen in der lateinischen Sprache zu finden.

Der erste von Andronicus übertragene Text war allerdings kein Theaterstück, sondern ein noch anspruchsvolleres Projekt, die Übersetzung der Odyssee. Von seiner „Odusia“, wie er das Epos auf Latein nannte, ist zumindest die Anfangszeile erhalten. Anstelle des Hexameters Homers verwendete er den Saturnier, der zwar nicht sehr elegant ist, aber als altrömisches Versmaß seinen Lesern vertraut war. Im Original heißt es

„Andra moi ennepe, Moûsa, polytropon …“

was bei Andronicus wurde zu

„Virúm mihí, Caména, ínsecé versútum …“

In der deutschen Übersetzung von Johann Heinrich Voß lautet Homers Zeile

„Sage mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes …“

wobei offensichtlich Voß (1751 – 1826), nach mehr als zwei Jahrtausenden europäischer Kulturgeschichte, keine Bedenken hatte, beim Leser die Kenntnis des Wortes Muse vorauszusetzen. Ganz anders Andronicus, der noch nach einer lateinischen Entsprechung für Mousa suchte und bei Camena landete. Die Camenae (es gab mehrere) aus der römischen Mythologie waren eigentlich eine Entsprechung der griechischen Quellnymphen, nicht der Musen. Aber durch die Ähnlichkeit ihres Namens mit dem Wort carmen (Lied) glaubte man später, sie seien auch für die Dichtkunst zuständig. An diesem Detail zeigt sich, wie sorgfältig sich Andronicus um eine Übersetzung bemühte, die dem Original gerecht wurde und dem neuen Leserkreis trotzdem verständlich war.

Später entwickelte sich eine eigenständige römische Literatur, die nicht mehr nur von Übersetzungen griechischer Werke abhängig war. Ein Punkt jedoch, der bei Andronicus als Erstem zu konstatieren ist, bleibt für die römische Literatur bis zum Ende typisch: Die allermeisten römischen Autoren stammten nicht aus Rom.

Die Frage, wann genau Andronicus nach Rom kam (und warum), hängt mit der wechselvollen Geschichte der tarentinisch-römischen Beziehungen zusammen. Im Jahr 284 v. Chr. kamen die Römer der kleinen Stadt Thurioi zu Hilfe, mit der sie verbündet waren und die von den Stämmen der Lukaner und Bruttier bedrängt wurde. Eigentlich war dies kein direkter Konflikt mit Tarent – aber die Tarentiner sahen hier einen römischen Übergriff auf ihr eigenes Einflussgebiet im südlichen Italien und votierten für Krieg.

Tarent war eine der bedeutendsten griechischen Kolonien in Italien; es hatte eine ansehnliche eigene Armee und, ähnlich wie Rom, ein System verbündeter Städte, den Italiotenbund. Dessen Wert war allerdings begrenzt, denn das Lieblingsspiel der griechischen Poleis, der Krieg aller gegen alle, wurde auch unter diesen Verbündeten gespielt. Davon abgesehen war aber ohnehin klar, dass Rom in eine ganz andere Liga gehörte, und so suchte Tarent einen mächtigen Verbündeten außerhalb Italiens.

Die Wahl fiel 281 v. Chr. auf König Pyrrhos von Epiros, ein Cousin von Alexander dem Großen, und begierig, sich denselben Feldherrenruhm wie der makedonische Vetter zu erwerben. In der Praxis war seine Bilanz aber eher bescheiden, vor allem, weil Pyrrhos nach anfänglichen Misserfolgen schnell die Lust verlor. Da sich die römischen Barbaren als zäher erwiesen als erwartet, verließ Pyrrhos 275 v. Chr. Italien für immer; drei Jahre später kam er in Argos bei einem weiteren militärischen Abenteuer ums Leben.

Damit war die Option Pyrrhos endgültig vom Tisch, und es kam zum Friedensschluss Tarents mit Rom. Die Bedingungen waren recht günstig, und Tarent war hinfort ein Verbündeter Roms. Als jedoch Hannibal im Zweiten Punischen Krieg kreuz und quer durch Italien zog, gehörte Tarent zu der Minderheit römischer socii, die eine Chance auf völlige Unabhängigkeit witterten und sich Hannibal anschlossen. Das war 213 v. Chr., vier Jahre später wurde Tarent von den Römern zurückerobert und diesmal gab es keine milden Friedensbedingungen: Die Stadt wurde geplündert, die Stadtmauern geschleift und die Einwohner deportiert.

Scheinbar passt alles gut zusammen: Andronicus wurde 209 v. Chr. versklavt und kam in das Haus Livius. Sein erstes literarisches Werk in Rom war 207 v. Chr. ein Hymnus zu Ehren der Göttin Juno; den ehrenvollen und wohl auch lukrativen Auftrag hierfür erhielt er auf Veranlassung seines Patrons Livius Salinator, und Andronicus wurde eine Art literarischer Celebrity. Die erste Aufführung eines von ihm übersetzten Stückes wird auf 197 v. Chr. datiert. Dies jedenfalls sind die Eckdaten zu Andronicus Karriere, die später vom römischen Autor Accius zusammengestellt wurden (geb. ca. 170 v. Chr.?), der selbst Theaterstücke schrieb und sich für die Geschichte seines Metiers interessierte.

Nun wissen wir nicht, auf welche Dokumente sich Accius stützte, und wie getreu er ihren Inhalt in seine Rekonstruktion einfließen ließ. Schlimmer noch: Die Darstellung des Accius ist uns nicht aus seiner eigenen Feder erhalten, sondern nur in der Wiedergabe in Ciceros Rhetoriklehrbuch „Brutus“. Cicero kann man hier allerdings nicht als fair bezeichnen, ging es ihm doch darum, Accius Schludrigkeit nachzuweisen.

Eine neue Generation von Gelehrten, neben Cicero auch Varro und Atticus, hatte sich um 50 v. Chr. daran gemacht, die Frühgeschichte der römischen Literatur neu zu bewerten. Kernpunkt dabei war die Feststellung, dass das erste römische Theaterstück aus der Übersetzerwerkstatt des Andronicus schon 240 v. Chr. aufgeführt wurde. Und das hat gewichtige Konsequenzen: Dann kann er wohl nicht erst 209 v. Chr. nach Rom gelangt sein. Man hat bis in die moderne Forschung versucht, Accius hier trotzdem partiell zu retten, mit der Annahme, er habe einfach zwei römische Siege über Tarent verwechselt – wenn Andronicus nicht 209 v. Chr. versklavt wurde, dann eben schon 272 v. Chr. Diese Rekonstruktion führt aber sofort zu neuerlichen Problemen.

Zum einen gab es 272 v. Chr., anders als 209 v. Chr., kein verheerendes römisches Strafgericht über Tarent, die Bevölkerung wurde nicht deportiert. Dazu war Andronicus, falls 272 v. Chr. überhaupt schon geboren, höchstens ein Kind, kein ausgebildeter Experte für griechisches Theater. Aber wenn er der Erste war, der die Kenntnis griechischer Dramen nach Rom gebracht hat, kann er sich logischerweise dieses Wissen nicht in Rom angeeignet haben – und erst recht nicht die praktische Erfahrung mit griechischem Theater, die er später als Schauspieler mitbrachte! Er kann also schwerlich bereits als Kind nach Rom gelangt sein.

Unter dem Strich bleibt die Vermutung, dass die ganze Story vom Sklavendasein des Livius Andronicus nichts als eine gelehrte Spekulation war. Ein freigelassener Sklave erhielt durch seinen ehemaligen Herrn den Namen und das Bürgerrecht – eine Standardprozedur. Aber ein freier Ausländer, der durch die Fürsprache eines römischen Patrons das Bürgerrecht erhielt, übernahm ebenso dessen Namen. Das Verhältnis zwischen Andronicus und dem Haus Livius kann also ein klassischer Fall von Patronage gewesen sein, wie es zwischen begabten Künstlern und einflussreichen Aristokraten mehr als einmal in der Weltgeschichte vorkam. Dass Andronicus nebenbei auch Lehrer der jungen Livii war, ist keineswegs ausgeschlossen.

Für Cicero und die anderen „Revisionisten“, die die Geburtsstunde der römischen Literatur von 207 nach 240 v. Chr. verschoben, ging es aber wohl um mehr als bloße Chronologie: Jarrett Welsh hat deutlich gemacht, dass sie auch der Kontext beschäftigte. Der Juno-Hymnus von 207 v. Chr. wurde direkt nach der siegreichen Schlacht am Metaurus in Auftrag gegeben, einem Wendepunkt des Zweiten Punischen Krieges. Die erste Theateraufführung von 240 v. Chr. jedoch fällt in eine Zeit des Friedens und hat keinen militärischen Bezug. Und irgendwie ist ja der Gedanke tröstlich, dass selbst bei einem martialischen Volk wie den Römern nicht alles aus dem Krieg geboren war, und dass es römische Gelehrte gab, die diesen Punkt auch für wichtig hielten.

Literatur: BEARE 1940, COWAN 2009, FUHRMANN 2005, LIVINGSTON 2004, SANFORD 1923, SEELE 1995, SZEMERÉNYI 1975, WELSH 2011

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