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K A P I T E L 2


DIE ABREISE – DEZEMBER 1831


Es hatte eine gefühlte Ewigkeit gedauert bis die Weltreise endlich anfing. Die Abfahrt wurde immer wieder verschoben. Vom originalen Plan, am 25. September abzureisen, verzögerte sich die Abreise letztlich bis Ende Dezember. Renovierungsarbeiten, Umbaumaßnahmen zum optimierten Forschungsschiff, mit Dreimaster-Bark-Takelage statt Zweimaster-Brigg-Takelage, die Ausstattung mit speziellem technischem Equipment und anschließend immer wieder hoch problematische Wetterbedingungen waren die Gründe für die Verzögerungen. Eine hohe Priorität hatte die Navigationstechnik der HMS Beagle, die mit neuen Chronometern, neuen Kompassen und neuen Sextanten perfektioniert wurde. Englische Schiffschronometer revolutionierten die Seefahrt als eine technische Weltinnovation. Die Seeuhr Nr. 1, auch H4 genannt, von John Harrison, einem Schreiner und Uhrmacherautodidakten, löste 1761 das historische Längengradproblem. Der erste 81-tägige Hochseetest, eine Transatlantikreise der HMS Deptford von Portsmouth-England nach Kingston-Jamaica, ergab eine Differenz von 5 Sekunden zur Londoner Greenwich Mean Time. Die Genauigkeit des Chronometers H4 betrug, gemäß den Resultaten weiterer Praxistests, weniger als eine Sekunde Abweichung pro Tag in der Seefahrtspraxis auf hoher See, trotz massiver klimatischer Schwankungen und permanentem Wellengang. Die geographische Längengradposition eines Royal Navy Schiffes konnte mit dieser Technik relativ hochgradig exakt bestimmt werden. Kapitän James Cook, Entdecker der Ostküste Australiens und Neuseeland-Pionier, kehrte 1775 von seiner zweiten Südseereise zurück. Während dieser zweiten Cook-Expeditionsreise, 1772-1775, erprobte Cook jahrelang eine Kopie des genialen H4 Chronometers, die konstant und zuverlässig funktionierte. Als Harrison 1776 starb, war seine Seeuhrvision praxisbewährte Realität geworden. In den folgenden Jahren und Jahrzehnten rüstete die Royal Navy nach und nach alle ihre Schiffe mit Chronometern aus. Neuanfertigungen von Harrisons Präzisionsuhrentechnik wurden nun in Serienproduktion hergestellt.

Die permanente wochenlange Startbereitschaft der Schiffscrew und die erzwungene Untätigkeit, des Wartens auf akzeptable Wetterbedingungen, waren schon zu einer demoralisierenden Strapaze geworden. Darwin glaubte sogar, etwas Schlimmeres, als so eine deprimierende Gefängnissituation, sei für ihn kaum vorstellbar. Er wurde auf der Reise eines Besseren belehrt. Aus der wochenlangen Wartezeit ergab sich aber der große Vorteil, sich schon vor der Abfahrt sehr intensiv und persönlich mit dem Kapitän, den Marineoffizieren, den Matrosen und allen Crewmitgliedern vertraut machen zu können. Das erleichterte später den täglichen Umgang sehr, im Arbeitsalltag an Bord. Für Darwin anfangs noch unbekannte Gesichter und fremde Personen wurden im Oktober, November und Dezember zu einem vertrauten Team. Die Schiffsbesatzung arbeitete im Drei-Schicht-System, das der James-Cook-Schüler William Bligh, 1787-1789 Kommandant der HMS Bounty, bei der Royal Navy einführte und etablierte. Statt des traditionellen Wechsels, von 4 Stunden Wachdienst und 4 Stunden Schlaf, praktizierte die Navy nun einen Arbeitsrhythmus von 4 Stunden Dienst und 8 Stunden Ruhephase.

Darwin wurde eine spezielle Ausnahmeposition in dieser 73-köpfigen Expeditionsmannschaft ermöglicht. Er teilte sich eine Kabine mit dem jungen Offizier John Stokes, der als stellvertretender geografischer Vermessungsleiter und Kapitänsassistent, als Navigator und Kartograf fungierte, mit der Hauptaufgabe, die Kartografiearbeit der Expeditionsetappen perfektionistisch zu leisten. Darwin durfte auch die Kapitänskabine als Stauraum nutzen und, wenn der Kapitän sich im Dienst nicht in der privaten Kabine aufhielt, durfte die Kapitänskabine von Darwin als Privatraum, zum Schreiben von Dokumenten und Lesen von Literatur genutzt werden. Außerdem erhielt er das Privileg, mit dem Kapitän beim Essen am Kapitänstisch zu sitzen. Es gab eine Kabinenetage im Schiffsrumpf, darunter befand sich eine Lagerräumeebene und über der Kabinensektion befand sich das Oberdeck mit Kartenraum, Kapitänsdienstraum, Offiziersdienstraum und dem Außendeck. Die Schiffslänge der HMS Beagle betrug 27,5 Meter, die Breite 7,5 Meter.

Der Kapitän Robert FitzRoy hatte die Admiralität um einen wissenschaftlichen Naturforscher als Expeditionsmitglied gebeten, beispielsweise von der Universität Cambridge oder der Universität Oxford. Er dachte dabei an das Vorbild der legendären Expeditionsreisen von Georg Forster, 1772-1775 Geograf und Naturforscher der zweiten James-Cook-Südseereise sowie Alexander von Humboldt, 1799-1804 Geologe und Geograf seiner, aus eigenen privaten Familienmitteln finanzierten, Südamerika-Mittelamerika-Forschungsreise. Beide leisteten substanzielle Fortschritte in der Wissenschaft, bei der Erforschung der Weltnatur und Weltgeografie. Kapitän FitzRoys Vorgesetzter Sir Beaufort, von der Admiralität, nutzte seine privaten Kontakte zur Universität Cambridge. Botanik-Professor Henslow war ein Vertrauter von Beaufort-Freund Peacock und Henslow stand in engem persönlichen Kontakt mit Darwin. Henslow hielt Darwin für die bestmögliche Wahl, als ein motivierter und qualifizierter Nachwuchswissenschaftler, der die Cambridge-Universität, auch als Persönlichkeit mit Charakter, Niveau, Intellekt und Knowhow, auf der zweiten Beagle-Expeditionsreise vertreten könnte.

Am Abend des Abreisetages, als das Schiff mit hoher Geschwindigkeit stetig vorankam, herrschte große Vorfreude an Bord, auf das lange ersehnte Realisieren der ersten Tagesetappen der Reiseroute. Mit etwas Glück würde Darwin nun schon in 10 Tagen Teneriffa kennenlernen, als ein exotisches Naturparadies, wovon Humboldt ausführlich berichtet hatte. Nach dem Abendessen spürte Darwin, dass er mit der Seekrankheit rechnen musste und er sich körperlich nicht richtig wohl fühlte. Er verabschiedete sich vom Kapitän und von seinem Kabinenpartner Stokes.

„Herr Kapitän, meine Herren, ich ziehe mich jetzt, mit Ihrer Erlaubnis, auf die Kabine zurück. Ich werde heute, im Nachtgebet, für uns alle beten, dass wir gesund und lebendig unseren Reisemarathon überstehen werden!“

Der Kapitän antwortete: „Lieber Darwin, ich bin optimistisch, dass alles gut gehen wird! Wir sind auf einem der technisch neuesten und bestausgestatteten Schiffe der Royal Navy. Ich bin einer der besten Kapitäne, die die Royal Navy zur Verfügung hat und meine Aufgabe ist es, alle Beteiligten sicher, gesund und lebendig zu den Reisestationen und zurück nach England zu bringen. Schlafen Sie gut!“

FitzRoys Eigenlob war nicht gänzlich übertrieben, denn ihm war der beste Royal Navy Akademieabschluss aller Zeiten gelungen und er war ein persönlicher Schüler von Admiral Sir Robert Otway, einem der britischen Seekriegshelden im Kampf gegen die französische Revolutionsflotte. Der Großvater, des mit 13 Jahren in die Royal Navy eingetretenen und jetzt 26-jährigen FitzRoy, gehörte 1768-1770 der Regierung als Premierminister an. FitzRoys Vater, der 1829 starb, diente in der British Army als General. Der Halbbruder seiner Mutter verhandelte als Außenminister die britischen Interessen, auf dem Wiener Kongress 1814-1815. FitzRoys älterer Halbbruder bewährte sich als Adjutant der Kommandozentrale von Oberbefehlshaber Wellington, beim finalen Sieg über Napoleon, in der Schlacht von Waterloo 1815.

Am nächsten Morgen bemerkten Darwin und sein Kabinenpartner Stokes, dass Darwin extrem unter der Seekrankheit litt. Darwin musste den Versuch abbrechen, aufzustehen und sich waschen zu gehen. Er fühlte sich völlig kraftlos, schwindelig, betäubt und sterbenskrank. Alleine der Gedanke an Frühstück löste einen starken Brechreiz in ihm aus. Darwin und Stokes hatten sich, schon am ersten Tag auf See, gegenseitig Spitznamen gegeben. Darwin nannte seinen älteren Bruder Erasmus im Familienkreis kurz Eras und John Stokes nannte er jetzt meistens Jo, unter vier Augen. Stokes revanchierte sich bei Darwin und nannte Charles Darwin dann Charlie, wenn sie privat in der gemeinsamen Kabine miteinander sprachen und Darwin ihn Jo nannte. Stokes war jetzt seit sieben Jahren bei der Royal Navy im Dienst, er hatte sich den Status eines praxisbewährten, hochbegabten Offiziers erarbeitet und befand sich auf dem besten Weg einer Marinekarriere. John Stokes war dennoch erst 20 Jahre alt. Charles Darwin war 22 Jahre alt. Darwin fehlte aber bisher, als Sohn einer hochgradig reichen Familie, als Schüler und Student, noch eine praktische, elementare Berufserfahrung. Als wissenschaftlicher Beauftragter der Cambridge-Universität wurde Darwin, trotz seiner Unerfahrenheit als Forschungsreisender, doch von allen Beteiligten, einschließlich des Kapitäns, mit viel Respekt und hoher Aufmerksamkeit behandelt. Das Privileg, von der Admiralität ausgewählt zu werden, an der zweiten Beagle-Südamerika-Expedition teilnehmen zu dürfen, war eine besondere Auszeichnung für Darwin und die gesamte Schiffscrew. Die Hauptaufgaben der Expedition waren die exakte Vermessung der Küsten Südamerikas und die Komplettierung der exakten Kartierung dieser Erdregion. Speziell die Präzisionsgerätevermessung und die Kartierung der Regionen von Kap Hoorn und der Magellanstraße, von Feuerland und Patagonien, aber auch die Komplettierung der exakten Vermessung und Kartierung der Inseln dieser Küstenregionen und der Inseln auf den Seewegen der Reiseroute, gehörten zum Expeditionsplan.

Trotz der dramatischen Übelkeit und der völligen Hilflosigkeit war Darwins Sinn für Humor nicht ganz verloren gegangen.

Er sagte scherzhaft: „Jo, sobald wir im Hafen von Teneriffa sind, werde ich an Land gehen und Wildschweine jagen, um uns danach ein Festessen zu kochen, vergiss bitte nur nicht, mich rechtzeitig zu wecken, wenn wir in den Hafen segeln!“ . . .

Stokes empfand etwas Mitleid mit dem leichenblassen Darwin: „Charlie, in der ersten Woche der ersten Beagle-Südamerika-Expedition ging es mir auf hoher See ganz genauso wie Dir jetzt. Nachdem wir dann an Land der ersten Hafenstation gingen, sagte der damalige Expeditionsleiter Kapitän King zu mir: Keine Seekrankheit ist so schlimm, wie sie sich anfühlt. Das Problem verfliegt spätestens an Land wieder, genauso plötzlich wie die Seekrankheit gekommen ist. King meinte: Kopf hoch Stokes, wir sind die Männer für spezielle und schwierige Aufgaben, die für unser Land wertvolle Dienste leisten, welche aber leider auch unbequeme und problematische Dienste sein können . . . Kapitän King sprach sehr gerne von Kolumbus, als sein größtes persönliches Vorbild und als heute berühmtester Seemann der Seefahrtsgeschichte. Kolumbus soll in einer Gesprächsrunde, bei einem Essen mit Kardinal Mendoza, dem Oberhaupt der katholischen Kirche in Spanien, die legendäre Kolumbus-Eiparabel diskutiert haben. Kolumbus war als einziger Gast in der Lage, ein gekochtes Hühnerei senkrecht auf den Tisch zu stellen, was alle anderen Gäste vergeblich versuchten. Das gelang ihm durch das Eindrücken der Eierschale an einem Ende, im Gegensatz zu den anderen, die alle das Ei nicht beschädigten . . . Ein Kritiker der Kolumbus-Heldenverehrung erklärte während des Festessens mit dem Kardinal, Kolumbus wäre nichts wirklich Großes gelungen, denn jeder gebildete Mensch könnte, mit einem hochseetauglichen Segelschiff, das Gleiche tun. Kolumbus erwiderte darauf, der relevante Unterschied besteht darin, dass niemand, in der bekannten und dokumentierten Geschichte der europäischen Seefahrt, vor ihm auf die Idee gekommen war, diese Forschungsreise persönlich zu machen . . . Genauso wie er persönlich dazu in der Lage war, das gekochte Hühnerei senkrecht auf den Tisch zu stellen, so hatte er seine Atlantiküberquerung tatsächlich geleistet, um die Westpassage konkret zu erforschen und um diese neue Seeroute de facto zu praktizieren.“ . . .

Stokes kommentierte das Kolumbusidol von Kapitän King: „Darwin, jetzt sind wir die Nachfolger von Kolumbus, die seine Kolumbusmentalität praktizieren. Wir erforschen das Unerforschte und vervollständigen Stück für Stück das Mosaik der Weltgeographie, bis es komplett ist.“

Darwin hatte, trotz der Kopfschmerzen, aufmerksam zugehört. Die Worte von Stokes Kapitän King motivierten ihn, nicht sofort über Bord zu springen, um den Höllenqualen ein schnelles Ende zu machen. Leider dauerte dieser Zustand des Deliriums ganze 10 Tage.

Darwins Reise. Roman. EPUB-Ebook

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