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K A P I T E L 5


SALVADOR DA BAHIA – BRASILIEN


Am 07. Februar 1832 ging die Reise weiter Richtung Salvador da Bahia. Nach 23 Tagen Inselaufenthalt auf St. Jago musste die Schiffsbesatzung und Expeditionsgruppe wieder mit den limitierten Platzverhältnissen des Schiffes auskommen. Darwin sagte zu FitzRoy beim Abendessen: „Das Schiff ist wie ein mobiles Haus für mich, mit allem erforderlichen Komfort, mit allem was man notwendig braucht. Die Tage auf hoher See sind eine wichtige Gelegenheit, die Forschungsdetails der Landexkursionen systematisch zu ordnen und zu dokumentieren. In Europa ist heute noch so wenig über tropische Tiere und tropische Pflanzen bekannt, dass aus dieser Forschungsarbeit wertvolle Ergebnisse und neue Erkenntnisse resultieren werden. So eine Chance und Gelegenheit, wie diese Beagle-Expedition, ist ein Geschenk des Himmels. . . . Wenn es keine Seekrankheitsproblematik gäbe, wären Seereisen wahrscheinlich eine der Lieblingsbeschäftigungen der Menschheit.“

Am 16. Februar erreichte die Beagle frühmorgens den Archipel Sao Pedro e Sao Paulo. Die Inseln Sao Pedro und Sao Paulo waren die Spitzen eines unterseeischen Berges. Der Archipel bestand lediglich aus einer Ansammlung kleiner Felsenflächen. Die karge, pflanzenlose Inselgruppe war von einer Masse an Seevögeln bewohnt. Es gab Tölpel, mit Ruderfüßen und Schwimmhautzehen, und es gab kreischende Schwalbenmöwen. Darwin sammelte Gesteinsproben, jagte Insekten, Spinnen, Krabben, Fischexemplare und kleine Haiexemplare. Einige Matrosen angelten vom Beiboot aus Fische. Darwin war, mit Stokes und Offizier Leutnant Wickham, seinen beiden besten Freunden an Bord, vom Kapitän auch mit der Vogeljagd und Vogeleiersammlung beauftragt worden, zur Beschaffung von frischem Reiseproviant. Das tat Darwin mit dem größten persönlichen Vergnügen. In seinen Jugendjahren gab es kein noch großartigeres Hobby für Darwin, als den Jagdsport. Er führte als Teenager, während der ganzen Jagdsaison, Buch über jeden Vogel, den er geschossen hatte. Seine Jagdbegeisterung ging in der Schulzeit sogar soweit, dass ihn seine Lehrer und sein Vater tendenziell für geistig beschränkt, geistig desorientiert oder jagdspezifisch übermotiviert hielten . . . Die Seevögel der Pedro e Paulo Inseln waren mit keinerlei Außenweltkontakt vertraut, sie waren absolut unerschrocken und handzahm, jeder der Archipelbesucher konnte sie problemlos mit den Händen einfangen. Nach dem ganzen Vormittag auf der kleinen Inselgruppe 100 Kilometer nördlich vom Äquator, mit nur rund 11.000 Quadratmetern Gesamtfläche, nicht größer als manches Agrarfeld oder mancher englische Garten, wurde die Reise mittags fortgesetzt.

Am späten Abend, des 16. Februars 1832, nach dem Abendessen, sollte Darwin zu einer Besprechung mit dem Kapitän aufs Oberdeck kommen. Als er die Treppe vom Kabinendeck zum Oberdeck verlassen hatte, wartete dort eine Meute Matrosen, in Kriegsbemalung und mit nackten Oberkörpern, auf ihn. Diese stürmten mit wildem Kampfgeschrei auf ihn zu, wie angreifende Piraten. Er versuchte noch zu flüchten, hatte aber keine Chance, den athletischen Matrosen zu entkommen. Die diensthabenden Offiziere, einschließlich Kapitän, trugen skurrile Kostüme und Gesichtsmasken oder weiße Tuchgewänder. Der Kapitän hielt eine Dreizacklanze in der rechten Hand, wie Neptun oder Poseidon. Darwin glaubte, alle wären plötzlich komplett verrückt geworden. Er fühlte sich wie ein Opfer in einer Draculaepisode. Darwin wurde an den zentralen Segelmast gefesselt. Dann kamen zwei besonders große Matrosen, mit Grizzlybärfigur, auf ihn zu. Einer hatte ein großes Messer in einer Hand, der andere trug einen Holzeimer und ein Stück Seife. Erst wurde Darwins Gesicht eingeseift, dann bekam er eine akkurate und zeitaufwändige Bartrasur. Die Mannschaft klatschte Beifall und jubelte den Hauptakteuren zu. Außerdem gab es Wein und etwas Rum zur Feier des Tages. Zum Abschluss der Rasur wurde Darwin in ein, mit Wasser gefülltes, Segeltuch geworfen, in der Form einer Hängematte. Dieses Spektakel dauerte insgesamt stundenlang, weil mehr als zwei Dutzend der Mannschaftsmitglieder und Expeditionsteilnehmer, die alle zum ersten Mal den Äquator überquerten, mit diesem traditionellen Seemannsritual in den Club der Äquatorüberquerer aufgenommen wurden. Am Ende der Zeremonie gab es niemanden mehr an Bord, der im Eifer des Äquatorfestes nicht mindestens einmal halbwegs nassgespritzt oder komplett gebadet worden war. In der Nacht scherzten und lachten Charlie und Jo über die exzessive Schiffsparty, die viel Spaß gemacht hatte. Stokes sagte: „Wer hart arbeiten kann, der kann auch hart feiern . . . “ Darwin antwortete: „Wahnsinn! . . . Ich hatte beinahe einen Herzinfarkt. Ich dachte, ich muss jetzt sterben, als die halbnackte, hysterische Meute mit Kriegsbemalung und Kriegsgeschrei plötzlich auf mich zukam. Keiner hatte mich vorgewarnt, dass es eine Äquatortaufe und Äquatorfeier gibt . . . “

Am 20. Februar erreichte die Beagle den Archipel Fernando de Noronha, 350 Kilometer von der brasilianischen Küste entfernt. Die Inselgruppe bestand aus 21 Inseln. Die Hauptinsel war 10 Kilometer lang und 3,5 Kilometer breit. Dort wurde eine kurze Reisepause gemacht, um Wasservorräte und Nahrungsvorräte zu ergänzen. Darwin nutzte die wenigen Stunden des Aufenthaltes dazu, weiteres Forschungsmaterial zu sammeln. An den folgenden Seetagen schrieb Darwin Briefe an die Familie, an Professor Henslow in Cambridge und an Freunde. Vorfreude auf die kommenden Erlebnisse, innere Angstphantasien vor möglichen Gefahren und intensives Heimweh prägten seine gemischten Gefühle.

Am 28. Februar segelte die HMS Beagle in den Hafen von Salvador da Bahia. Die Beagle ankerte inmitten einer zahlreichen Ansammlung von großen und kleinen Schiffen. Darwin machte seine ersten Schritte auf südamerikanischem Boden, 3.600 Kilometer von St. Jago und 7.800 Kilometer von Plymouth entfernt. Während die Schiffsbesatzung als Erstes einen Besuch der historischen Altstadt von Salvador da Bahia unternahm, führte Darwin der erste Landgang zielstrebig in den angrenzenden atlantischen Regenwald Mata Atlantica. Darwin war voller Faszination für den tropischen Urwald nach dem ersten Waldspaziergang in Brasilien. Er schrieb darüber in sein Tagebuch: „Die Eleganz der Gräser, die Neuheit der tropischen Pflanzen, die Schönheit der Blumen, das schimmernde Grün der Vegetation, die imposante Üppigkeit der Flora erfüllen mich mit Bewunderung und Begeisterung. Der Insektenlärm ist so laut, dass er selbst auch von einem Schiff aus, das vor der Küste ankert, gehört werden kann. In der Abgeschiedenheit des Waldes scheint dagegen eine mysteriöse Stille zu herrschen . . . Einem Naturliebhaber verschafft ein solcher Tag eine tiefere Freude, als er jemals wieder zu erfahren hoffen kann! . . . Nachdem plötzlich ein Tropensturm einsetzte, suchte ich unter einem Baum Schutz, der so dicht war, dass er von einem gewöhnlichen englischen Regen niemals durchdrungen worden wäre. Hier jedoch floss schon nach wenigen Minuten ein kleiner Sturzbach den Stamm herunter. Diese Gewalt des Regens ist vermutlich ein maßgeblicher Grund für das dichte Grün am Boden des tropischen Regenwaldes.“ Darwin sammelte im Regenwald von Salvador Blumen und Insekten in so großen Mengen, dass selbst Botaniker und Zoologen von der Vielzahl der Arten überrascht sein könnten. Auch ein riesiges, prächtiges Eidechsenexemplar wurde von Darwin geschossen und als stolze Jagdtrophäe aus dem Urwald abtransportiert. Am Strand war Darwin der Fang eines Igelfisches gelungen, der über die außergewöhnliche Fähigkeit verfügte, sich nahezu zu einer Kugelform aufzublähen.

Bei weiteren Landgängen besichtigte Darwin, in Begleitung von Stokes und Wickham, auch das Stadtgebiet von Salvador da Bahia. 1536 war das Gebiet von Salvador dem Portugiesen Francisco Pereira, durch den portugiesischen König Johann III., als Besitz übertragen worden. Die Stadt wurde 1549 gegründet und von mehr als 1.000 portugiesischen Einwanderern besiedelt, darunter auch Jesuiten. Dann wurde eine Festung mit dem Namen Sao Salvador gebaut. Bis zur Errichtung des Generalgouvernements, im Jahr 1551, gehörte ganz Brasilien zum Bistum Funchal auf Madeira. Der 1552 zum ersten Bischof von Salvador ernannte Pedro Fernandes Sardinha, der klerikale Konflikte mit den Jesuiten-Missionaren hatte, starb 1556 nach einem Schiffbruch vor der brasilianischen Küste, indem er von Indios verspeist wurde. Es gab in den folgenden Jahrzehnten diverse Rivalitäten zwischen Franzosen und Portugiesen. 1598, 1624 bis 1625 und 1638 wurde Salvador von Holländern besetzt. Das wirtschaftliche Kerngeschäft war im 16. und 17. Jahrhundert der Zuckerexport. Die afrikanischen Sklaven der portugiesischen Kolonisten wurden auf den Zuckerrohrfeldern und Kaffeeplantagen der Region als Arbeiter eingesetzt. Durch den Einfluss der Jesuiten wurden Indios von der Sklaverei verschont und stattdessen angolanische Afrikaner als Sklaven nach Brasilien gebracht. 1551 lebten in Salvador die ersten 50 afrikanischen Sklaven Brasiliens. Bis 1832 kamen mehr als 3 Millionen afrikanische Sklaven nach Brasilien. Durch den Zuckerhandel war Salvador bis 1650 die größte Stadt Südamerikas. Salvadors historische Blüte, als Hauptstadt Brasiliens, endete 1763, als Rio de Janeiro zur Hauptstadt ernannt wurde. Salvadors Altstadt, mit den engen Gassen und den Lagerhäusern des Hafenareals, erinnerte Darwin an sein erstes Studentenjahr in Edinburgh. Die koloniale Architektur, die repräsentativen Residenzen, sakrale Renaissancebauten, barocke Verwaltungsbauten und elitäre Villen, umgeben von tropischem Regenwald und der brasilianischen Atlantikküste, waren aber ein spezielles Szenario.

Dieser Ort wäre ein Paradies auf Erden für Darwin gewesen, wenn die Sklaverei nicht existiert hätte. Er notierte später in sein Tagebuch über die Sklaverei in Brasilien: „Starke, erwachsene Männer, Frauen und Kinder waren zu einer Erniedrigung abgerichtet worden, die tiefer steht als die Sklaverei des hilflosesten Tieres. Pseudokultivierte Primitive, aus europäischen Elitekreisen, instrumentalisierten Mitmenschen und Kinder Gottes zu Arbeitstieren.“ Es gab darüber sogar einen kurzfristigen Eklat zwischen Darwin und FitzRoy. FitzRoy hatte davon gesprochen, dass die brasilianischen Sklavenhalter relativ human und menschenfreundlich mit ihren Sklaven umgehen würden, im Unterschied zu anderen Sklavenkolonien. Darwin reagierte auf diesen Gedanken mit einem verbalen Wutanfall über die Sklaverei. Für FitzRoy waren der Tonfall und die Wortwahl, gegenüber dem Kapitän, respektlos und indiskutabel. Gegenüber einem autoritären Kapitän der Royal Navy gab es Grenzen bei den Umgangsformen und beim Umgangston. Darwin dachte nur, es ist nicht der Sinn des Lebens, dass Menschen wie Heuschrecken über andere Menschen herfallen und wie Heuschrecken über den Planeten herfallen. Aus dieser Sicht war der größte Feind der Menschheit die Menschheit selbst. Menschen haben Geistesfähigkeiten und Geistesenergie zur Verfügung, um möglichst viel geistige Qualität zu erarbeiten und zu entwickeln. Es ist inhuman und antihuman Geistesfähigkeiten und Geistesenergie zu pervertieren, indem existenzielles Elend und geistiges Elend produziert oder personifiziert wird. Ein Zitat von Marucs Tullius Cicero – ein römischer Intellektueller, Philosoph, Senator, Konsul und Cäsar-Gegner im Bürgerkrieg 49-45 vor Christus, der Cäsar als Tyrannen und als ein wildes Tier bezeichnete – lautet: Die Welt ist ein Irrenhaus. Die Welt ist voller Narren, die Welt ist voller Chaoten. Stultorum plena sunt omnia. Mit anderen Worten: Die Antisozialen und die Dissozialen, die Psychopathen und die Chaoten, die Charakterprimitiven und die Desorientierten sind die Multiplikatoren der Kulturdegeneration, der Koexistenzchaotik und der Weltdegeneration.

Darwins Reise. Roman. EPUB-Ebook

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