Читать книгу Die Stimme: Leser verzaubern mit den Stimmen von Autor, Erzähler und Charakter - Stephan Waldscheidt - Страница 3
ОглавлениеAm Anfang war die Stimme
Am Anfang war nicht, wie der Schöpfungsmythos sagt, das Wort – am Anfang war die Stimme. Das Wort ist Gehalt und Symbol, die Stimme aber ist Emotion und Kraft und kommt damit eher beim Leser oder Zuhörer an als Inhalt und Verstehen.
Die Stimme ist der durch die Stimmlippen erzeugte und in den Mund-, Rachen- und Nasenhöhlen modulierte Schall. Damit ist sie erfahrbar, ganz körperlich, und durch die Verschiedenartigkeit von uns Menschen – Mund, Rachen, Nasenhöhle sind bei jedem ein klein wenig anders – klingt jeder Stimmerzeuger anders. Die Stimme ist so einzigartig wie ein Fingerabdruck. Ein Beleg hierfür sind Computer, die die Stimme zur Authentifizierung verwenden.
Die Stimme ist etwas Einzigartiges. Genau wie Ihr Roman – wie Ihr Erzähler, Ihre Charaktere, genau wie Sie. Über die Stimme finden Sie den individuellen Ausdruck für Ihre Geschichten.
Die Stimme ist bei zahllosen Lautäußerungen beteiligt, etwa beim Schreien, Weinen, Lachen, Singen. Diese Lautäußerungen werden von Emotionen angestoßen und transportieren sie.
Emotionen stehen im Zentrum Ihres Romans. Kein Wunder, dass die Stimme ein ebenso nützliches wie mächtiges Schreibwerkzeug ist.
Die Stimme entsteht bei der Artikulation von Sprache. Sie bringt den Inhalt Ihres Romans auf unverwechselbare wie persönliche Weise zum Leser.
Sie kennen den Begriff Stimme auch aus der Politik: In einer Demokratie hat jeder Wähler eine Stimme. Dort ist sie Ausdruck einer Haltung. Auch in Ihrem Roman ist eine mit der Stimme ausgedrückte Haltung essenziell, denn Sie stellen dem Leser damit einen Erzähler gegenüber, der überzeugt, mitreißt und von Anfang bis Ende fest in der Story hält.
In der Musik ist die Stimme eine Musiziervorschrift für einen oder eine Gruppe von Musikern. In Ihrem Roman sorgt die Stimme entsprechend für den Zusammenhalt aller Charaktere. Sie ist das Medium, in dem sie sich bewegen können und das ihnen damit auch einen Spielraum für ihre Handlungen vorgibt.
Und wenn wir schon bei der Musik sind: Auch Ihre Texte können Sie stimmen. Indem Sie die Stimme der Story, dem Plot, dem Thema und den Charakteren anpassen und beim Schreiben und Überarbeiten immer wieder nachjustieren. Eine erste Stimmung – also das Finden der passenden Stimme – ist vor dem Schreiben ebenso zentral wie in der Musik vor dem Spielen. Falsch gestimmt klingt alles schräg, was Sie dem Leser überbringen, egal wie aufregend die Story, wie sympathisch die Charaktere und wie dramatisch der Plot ist.
In meinem Ratgeber »Der Erzähler: Verführer, Tourguide, Entertainer und Basis der Erzählperspektive« schreibe ich über meinen fiktiven Onkel Max, einen begnadeten Erzähler. Neben seinen Fertigkeiten als Erzähler ist Max mit einer unnachahmlichen Stimme ausgestattet, voller Wärme, Volumen, Ausdruckskraft. Und mit diesem gewissen Etwas, das den Kopf seiner Zuhörer anregt und Bauch und Herz zum Schwingen bringt.
Übrigens ...
Eine Lektüre des Ratgeberbruders »Der Erzähler« ist für das Verständnis dieses Buchs über die Stimme nicht notwendig, gleichwohl hilfreich, insbesondere für den Umgang mit der Erzählperspektive und deren Optimierung.
Die Stimme ist der Weg, wie der von Ihnen so sorgsam ausgewählte und aufgebaute Erzähler zu Ihren Lesern findet. In Ihrem Roman ist die Stimme das Einzige und damit alles, was die Leser mit Ihrem Erzähler und dadurch mit der Geschichte verbindet. Die Bedeutung der Stimme für Ihren Roman ist entsprechend immens und betrifft jeden Aspekt vom Plot und der Dramaturgie über das Thema und die Charaktere bis hin zu Fragen von Spannung und anderen Emotionen, von Beschreibungen und Dialogen, von Sprache und Stil. Doch auch Charaktere und natürlich der Autor besitzen eigene Stimmen. Auch über diese gibt es im Folgenden viel Spannendes und Unverzichtbares zu entdecken, mit großer Bedeutung für Ihren Roman.
Über die Stimme werden Sie eine Menge erfahren, vieles davon neu oder in einen neuen Zusammenhang gebracht. Wie nebenbei legen wir damit weitere Grundlagen für die Erzählperspektive. Eins ist sicher: Es wird aufregend. Meine Stimme hier schafft es hoffentlich, Sie davon zu überzeugen.
Entscheidend für das Gelingen Ihres Romans ist, dass Sie sich zielgerichtet mit dem Thema Stimme auseinandersetzen, um dann Ihren eigenen Weg, Ihre eigenen Stimmen zu finden.
Ich freue mich auf Ihre (noch besser klingenden und noch besser erzählten) Romane.
Ihr Stephan Waldscheidt
Hinweis für Roman- und Schreibanfänger
Das Buch nennt sich aus gutem Grund »Meisterkurs«. Dennoch können auch Roman-Anfänger von ihm profitieren. Seien Sie sich jedoch gerade als weniger erfahrene Autorin oder Autor im Klaren darüber, dass wir viele Knackpunkte beim Schreiben ansprechen werden, denen Sie noch nicht begegnet sind und deren Bedeutung Sie daher kaum abschätzen können. Das ist, als würden Sie als Wasserhasser vor Ihrem ersten Segeltörn in einem Ratgeber über Achterliek, Großtrombe und Brüllende Vierziger lesen. Sie werden dort in jedem Fall Nützliches übers Segeln lernen, selbst wenn Sie noch nicht wissen, was da an Wind und Wellen auf Sie zukommt.
Die Themen hier sind so essenziell, dass ich es für sinnvoll halte, wenn Autorinnen und Autoren jeden Reifegrads sich damit befassen. Immer wieder.
Hinweis für mich
Gerade weil wir hier gemeinsam Neuland betreten, bin ich Ihnen für Hinweise, Anregungen, Ideen zu den Themen dieses Buchs dankbar: rat@schriftzeit.de
Übrigens ...
Selbst der ursprüngliche Titel dieses Ratgebers wurde von der Stimme beeinflusst, genauer: ihrem Klang. Anfangs hieß das Buch »Erzähler & Stimme«, getreu der Reihenfolge der beiden Teile im Buch selbst. Laut ausgesprochen aber klang der Titel dann gar nicht mehr so gut – und wesentlich besser umgekehrt: »Stimme & Erzähler«. Probieren Sie es aus. Bei »Stimme und Erzähler« wechseln sich betonte und unbetonte Silben harmonisch ab: —◡ — ◡—◡. Anders bei »Erzähler und Stimme«: ◡—◡ — —◡.
Weil es so viel Wichtiges über Stimme und Erzähler zu berichten gibt, habe ich das Buch zum schnelleren Durcharbeiten in zwei Bände aufgeteilt. Damit Sie bald wieder zurück zu dem kommen, was Sie eigentlich tun wollen: Schreiben.
Um das meiste aus diesem Buch herauszuholen, sollten Sie Ihre Stimme und Ihre Ohren während der Lektüre immer mal wieder einsetzen.