Читать книгу Die Stimme: Leser verzaubern mit den Stimmen von Autor, Erzähler und Charakter - Stephan Waldscheidt - Страница 7
Warum Sie die Stimme nicht einfach Stimme sein lassen sollten
ОглавлениеNicht wenige sind der Meinung, eine Stimme passiere einfach, sei es die Stimme von Charakter, Erzähler oder Autor. Und das wäre gut so.
Dieser gefährliche Irrglaube lässt sich leicht entkräften. Lassen Sie Ihre Stimme Stimme sein, geben Sie die Kontrolle über sie ab. Stellen Sie sich eine Sängerin vor, die drauflos singt, egal in welcher Tonart, in welchem Rhythmus, ob es harmonisch ist oder nicht, ja, sie interessiert sich nicht mal für Tonhöhen, nicht für Dur und Moll, nicht für den Takt. Wie viele Zuhörer werden so zu Fans? Wie viele Plattenverträge und Grammys bekommt sie? Wie viele Herzen lässt sie schmelzen? Wie viele Menschen werden in ihre Konzerte strömen, wer wird ihre Lieder auf YouTube covern, ja, wer wird überhaupt von dieser sinn- und ziellosen Ansammlung von Tönen bewegt?
Eben.
Ohne Kontrolle fehlt Ihnen jede Möglichkeit, die Stimme zu verändern, sie anzupassen, sie zu erweitern und zu verbessern. Ohne Interesse an der Stimme fehlt Ihnen das Vokabular, um mit anderen darüber zu sprechen, sich Tipps zu holen, Tipps zu geben.
Wenn eine Sängerin nicht weiß, was ein höherer und was ein tieferer Ton ist, wenn sie keine Ahnung hat, was ein Akkord sein soll und was einen Dreiviertel- von einem Viervierteltakt unterscheidet, dann hat sie keine Chance, ihre Stimme von einer Gesangslehrerin verbessern zu lassen, und auch keine Chance, konstruktive Kritik zu begreifen, geschweige denn, sie umzusetzen.
Ohne Kontrolle über Ihre Stimme können Sie sie nicht einsetzen, um bestimmte Effekte in Ihren Texten zu erzielen. Schlimmer: Ohne Kontrolle über Ihre Stimme verlieren Sie auch die Kontrolle über die anderen Sprach- und Erzähltechniken und damit über Ihren Roman.
Denken Sie an unsere Wassermetapher. Wenn das Wasser der Ozeane vergiftet ist oder wenn es verdunstet, sterben eben auch die Tiere und Pflanzen darin, Wassersportler werden fett, Touristen langweilen sich und Frachtschiffe laufen auf Grund. Von den Folgen fürs Weltklima ganz zu schweigen.
Bleiben wir konkreter: Nehmen Sie an, Sie haben alle Faktoren für eine hochspannende Szene beisammen – und dann bringt Ihr Erzähler die Szene stimmlich schlecht rüber und ruiniert sie damit für den Leser. Oder der Erzähler wirkt aufgrund seiner Stimme so unsympathisch, dass die Leser keine Spannung empfinden können. Vielleicht arbeitet Ihr Erzähler mit seiner Stimme gegen andere Ihrer Erzählinstrumente und seine distanzierte, ironische Ausdrucksweise macht Ihre als rührend gedachte Abschiedsszene kaputt.
Die gute Nachricht: Selbst wenn Sie sich nur ein wenig mit den Stimmen befassen oder überhaupt mal nur auf sie achten, gewinnen Sie Kontrolle zurück. Und Ihre mühsam erarbeiteten Unterhaltungswerte wie ein dramatischer Plot oder eine emotionale Liebesgeschichte können ihre Wirkung besser entfalten.