Читать книгу Die Stimme: Leser verzaubern mit den Stimmen von Autor, Erzähler und Charakter - Stephan Waldscheidt - Страница 5
Die Stimmen im Kopf des Lesers
Оглавление»Ich will daran glauben, dass es wahr ist, also sorg dafür, dass ich es glauben kann«, beschreibt Joseph Bates eine zentrale Forderung der Leser an den Autor.[Fußnote 1] Mindestens so wichtig dafür wie der Inhalt sind die Stimmen, in denen der Roman zu den Lesern spricht.
Sobald der Leser Ihren Roman zu lesen beginnt, drängen sich diese Stimmen in seinen Kopf, und das sind keineswegs nur die Stimmen der Romanfiguren. Je nachdem, wie sichtbar der Erzähler ist, ertönt auch seine Stimme im Leser. Und je nachdem, wie deutlich der Autor selbst unter der Erzählstimme hervorscheint, wird er vom Leser wahrgenommen.
Ob der Leser sich einem wohltönenden Chor von Stimmen hingeben kann oder ob er in einer Kakophonie aus Stimmengewirr ertrinkt, bestimmen Sie.
Falls Sie es aktiv bestimmen.
Viele Autorinnen und Autoren begehen den Fehler und lassen ihre Stimmen Stimmen sein. Stimmt (!) schon, die Stimme ist auch dann präsent, wenn Sie sich keine Gedanken über sie machen. Was eine miserable Idee wäre. Denn dann würden Sie auf ein gewaltiges Repertoire an Möglichkeiten verzichten, unter anderem:
• Ihre Stimmen aktiv einsetzen und damit mit die mächtigsten und wirkungsvollsten Instrumente in Ihrem Orchester als Autor nutzen.
• Ihre Stimmen bewusst verändern, um bestimmte literarische und erzählerische Wirkungen zu erzielen.
• Ihre Stimmen verbessern und optimieren.
• Eine neue Erzählstimme bewusst und zweckgerichtet aufbauen, insbesondere über die Komponenten der Stimme wie Haltung oder Ton.
• Fehler aufspüren und beseitigen. Und aus diesen Fehlern lernen.
• Ihren Lesern ein intensiveres Lese-Erlebnis verschaffen.
• Ihre Chancen auf einen Agentur- und Verlagsvertrag erhöhen.
• Ihre Chancen auf einen Bestseller vergrößern.
• Ihr erzählerisches und sprachliches Know-how auf eine neue Ebene heben.
• Mit anderen, etwa Ihrer Lektorin oder Kollegen, über Ihre Stimmen konstruktiv diskutieren.
• Ein besserer Autor, eine bessere Autorin sein.
Die Stimme in ihren vielen Formen gehört zu den Themen im Handwerk des Romaneschreibens, die am wenigsten greifbar sind. Weil die Stimme alles durchdringt, jedes Kapitel prägt, in jedem Satz zu Hause ist, sogar im Punkt am Ende, und weil sie sich in jedem Wort ebenso tummelt wie in jeder Pause zwischen Wörtern, Zeilen, Kapiteln oder gar Büchern einer Reihe. Sogar in jeder Silbe, jedem Echo eines Buchstabens klingt die Stimme an. Wer genau hinhört, findet sie sogar in dem, was zwischen und hinter den Zeilen steht.
Stimmen sind der Stoff, der alle Elemente Ihres Romans verbindet und zusammenhält.
Stellen Sie sich einen Ozean vor, der bunt mit Korallen und Seesternen bevölkert ist, in dem sich Riffe gegen die Wellen türmen und Vulkane das heiße Erdinnere ausspeien, wo Fischschwärme sich zwischen Tangwäldern tummeln mit Millionen winziger, schuppenglänzender Individuen, wo Haie in einen Fressrausch geraten und von Delfinen ausgelacht werden, wo Muränen lauern und Robben Pinguine jagen, um dann selbst von einem Orca verspeist zu werden, ein Ozean, in dem sich die intelligenten Kraken ebenso wohlfühlen wie die tumben Seegurken und die gruseligen Anglerfische der Tiefsee, ein Ozean mit Schiffswracks und Plastikmüll, auf dem riesige Tanker fahren und Seeleute schuften, wo Schnorchler ihren Sommer genießen und planschende Kinder ihre ersten Abenteuer erleben.
Stellen Sie sich vor, der Ozean wäre Ihr Roman.
Die Stimme? Sie ist das Wasser. Medium. Lebensgrundlage. Segen und auch Fluch. Überall und doch nicht fassbar. Mal in der Sonne glitzernd, mal jedes Licht verschluckend, erhebend und auch erdrückend. Ohne das Wasser gäbe es nichts von dem, was ich oben beschrieben habe.
Ohne die Stimme gäbe es keinen Roman. Das gilt sogar für die Romane, in denen die Stimme versucht, nicht aufzufallen, in denen sie ist wie klares, lauwarmes, geschmackloses Wasser. Und doch ist das Wasser da.
Entsprechend schwierig ist es, einen Aspekt aus der Stimme herauszugreifen, um ihn sich genauer anzusehen – in unserem Bild hätten Sie dann nur Wasser in Händen (und das nicht lange), welches genauso aussieht wie das Wasser ein paar tausend Ozeankilometer weiter westlich.
Selbst Beispiele bringen ihre Schwierigkeiten mit: Denn sobald der Leser einen Aspekt der Stimme bemerkt, wird er aus dem Fluss der Story gerissen. Aber Sie sind ja als Autor hier im Buch und daher können und wollen Sie genauer hinsehen, mehr erkennen, mehr begreifen. Sie werden eine Menge Entdeckenswertes finden, um es zu analysieren und am Ende in Ihren Romanen anzuwenden.
Übrigens ...
»Leider hat mir der Sprecher auch so gar nicht gefallen. Irgendwie bin ich nicht mit ihm warm geworden und das macht für mich schon die Hälfte von einem guten Hörbuch aus.« (cvcoconut über Romy Fölck, »Bluthaus«)
Mit dem Sprecher eines Hörbuchs gesellt sich eine weitere Stimme zum Chor hinzu. Das Gleiche gilt für Filme und TV-Serien nach Romanvorlagen. Und erleichtert oder erschwert dem Hörer oder Zuschauer den Zugang zur Geschichte. In jedem Fall beeinflusst es ihn.
Einige Fehler und Irrtümer treten in Zusammenhang mit der Stimme immer wieder auf. Das sind keine Kleinigkeiten, sondern Knackpunkte, die Sie massiv daran hindern, das Potenzial Ihrer Stimmen und Ihrer Romane auszuschöpfen.
1. Alle reden bei »Stimme« nur von der »Autorenstimme«.
Ein großer Fehler. Und einer, der Sie als Autorin oder Autor kleiner macht, als Sie sind. Denn Sie verfügen neben Ihrer Autorenstimme über unzählige andere Stimmen: die Stimmen der Erzähler, die Ihren Roman oder Handlungsstrang erzählen, und die Stimmen der Charaktere selbst, etwa in Dialogen. Nicht zu vergessen: die lautlosen Stimmen von alldem Unausgesprochenen und Unaussprechlichen.
2. Es gibt eine Autorenstimme, die man entdecken muss. Und dann gut.
Irrtum. Ihre Autorenstimme ist nichts Fixiertes. Sie ist permanent im Fluss und verändert sich wie das Wasser des Flusses. Sie aus dem Wasser zu greifen, reißt sie aus dem Zusammenhang. Ihre Autorenstimme wächst mit Ihnen und Ihrem Vokabular, verändert sich mit Ihnen und Ihren Erfahrungen, erweitert sich mit jedem Erzähler und Charakter, den Sie sprechen lassen, mit zufällig aufgeschnappten Informationen und bewusst recherchiertem Wissen, und sie wird mächtiger mit jedem Stückchen Handwerk, das Sie lernen.
3. Stimme ist dasselbe wie Stil.
Nein. Die Stimme umfasst den Stil, ist jedoch weit mehr. Der Stil ist lediglich ein Teil der Stimme: ihre technische, handwerkliche Seite. Zu dieser zählen Emotionen, Haltungen und vieles mehr.
4. Die Stimme ergibt sich beim Schreiben von selbst.
Der Satz ist insofern richtig, als Sie nicht stimmlos schreiben können. Und dass Sie nicht bei jedem Satz über die Stimme nachdenken sollten. Doch damit sich intuitiv eine passende und effektive Stimme herausschält, brauchen Sie Erfahrung sowie Wissen um Erzählhandwerk und Sprache. Erst dann ergibt sich eine Stimme, die Ihren Erzählabsichten und Ihrer Geschichte dient, statt sie laufend zu unterwandern. Nur dann geht das Schreiben der Stimme wie von selbst. Damit Sie mehr Zeit haben, über Charaktere, Plot und Spannung nachzudenken.
5. Als Entdecker (Aus-dem-Bauch-heraus-Schreiber) muss ich mir über die Stimme keine Gedanken machen.
Sie müssen es nicht. Aber Sie sollten es tun, um einen sehr viel besseren Roman zu schreiben. Gerade Sie als Entdecker brauchen das Wissen um Erzähler und Stimme, um nach dem Aus-dem-Bauch-Schreiben und Die-Story-Entdecken bei der (nüchternen, kopfgesteuerten) Überarbeitung so viel Nutzen aus der Stimme zu ziehen, wie Sie nur können.
All diese Irrtümer stellen wir im Lauf des Buchs vom Kopf auf die Füße.