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Überraschende Wendungen

Überblick

»Jede Geschichte, die je erzählt wurde, kann in drei Teile heruntergebrochen werden. Den Anfang. Die Mitte. Und den Plot-Twist.«

(R. L. Stine, Autor von mehr als 400 Büchern, verkaufte Auflage: über 400 Millionen)

Was kann es Aufregenderes für ein Publikum geben, als zu erfahren, dass Pamela Ewing die komplette neunte Staffel von »Dallas« einschließlich Bobbys Tod nur geträumt hat? Was für eine Wendung! Äh ... nein? Aber es ist doch klasse, wenn ein neuer Charakter wie aus dem Nichts überraschend auftaucht und der Heldin das Leben rettet! Wie, auch nicht?

Ihre Leser lieben Überraschungen. Die richtigen, auf die richtige Weise überbracht, auf der Mikroebene einer Szene ebenso wie auf der Makroebene des Romans.

Während Überraschungen (und dazu gehört auch der Schock) bloß ein zu Literatur gewordenes »Hu!« sind, lenkt die überraschende Wendung (Twist) die Story oder Szene in eine neue Bahn. Der Leser bekommt, was er von Ihrem Roman will – ohne zu wissen, dass er es wollte. Ein gelungener Twist spricht den Verstand ebenso an wie Herz und Seele.

Die Rate an kleinen und großen Twists in Ihrem Roman und das Ausmaß der jeweiligen Wendung bestimmen entscheidend das Tempo der Story und das Pageturner-Potenzial Ihres Buchs mit. Das heißt eben auch, dass Sie sich nicht auf zwei, drei große Twists in Ihrem Roman verlassen dürfen. Ein zumindest kleiner Twist gehört in jede Szene, die es wert sein soll, geschrieben zu werden.

Twists sind wie Stromstöße, mit denen Sie Ihren Roman auf der einen und die Leser auf der anderen Seite wieder und wieder neu beleben, mit Energie versorgen, sie nach vorne treiben. Twists sind eine besonders starke Form von Veränderung, und erst durch Veränderungen gewinnt Ihr Roman überhaupt an Kraft und Lebendigkeit, ja, Lebensnähe. Ein Roman, in dem sich nichts verändert, tritt auf der Stelle.

Ziellose Charaktere interessieren sich offenbar nicht mal selbst für die eigene, traurig-passive Existenz, nicht genug, um in die Pötte zu kommen und endlich die Handlung voranzutreiben. Warum sollte sich ein Leser für diese Existenzen interessieren? Leser schlafen ein, manch einer soll schon vor Langeweile gestorben sein, wenn fünfzig Seiten lang keine Veränderung, kein Twist kam und ihm zeigte, dass das Leben lesenswert und das Lesen lebenswert ist.

Wenn jede Veränderung für den Leser wie ein Griff an den Elektrozaun ist, so sind Twists wie eine volle Ladung vom Defibrillator. Nur die Energie, nicht die Schmerzen.

Die Strom-Metapher macht es deutlich: Twists sorgen immer auch für (mehr) Spannung.

Ein gelungener Twist ist immer auch ein Punkt ohne Wiederkehr. Denn hinter die Erkenntnis der Wahrheit können Sie Ihre Leser nicht mehr zurückschicken. Das ist wie bei dieser berühmtesten aller optischen Täuschungen, »My Wife and My Mother-In-Law« von W. E. Hill. Egal, welches der beiden möglichen Bilder Sie zuerst sehen, die junge oder die alte Frau – sobald Sie beide sehen, können Sie es nicht mehr ungesehen machen. Die Bilder werden in ihrer Wahrnehmung hin- und herspringen. (Das Bild: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/thumb/4/4b/My_Wife_and_My_Mother-in-Law.jpg/640px-My_Wife_and_My_Mother-in-Law.jpg)

Bei den meisten Twists arbeiten Sie mit diesem Prinzip der Täuschung: Sie verkaufen dem Leser Ihre Story als »junge Frau« und enthüllen im Twist »die alte Frau«. Was der Leser bislang für eine Wange gehalten wird, entpuppt sich als Nase, die Halskette als Mund, das Ohr als Auge.

Manchmal kann der komplette Roman auf einen Twist hinauslaufen und jedes Wort ist ein Hinweis. Wie in John Irvings »Owen Meany«, dessen Twist und zugleich Höhepunkt dem ganzen, sehr langen Roman zuvor sofort einen (neuen) Sinn gibt. Das nennt man auch umdeutendes Ende.

Oder wie in Yann Martels »Schiffbruch mit Tiger«, wo der unzuverlässige Erzähler am Ende eine erschütternde Wahrheit enthüllt: Die Tiere, die mit ihm das Rettungsboot teilten, waren keine. Und der Tiger? Das war der Erzähler selbst. Aber darf der Leser ihm glauben?

Es kann hilfreich sein, zwischen Wendung und Umkehrung zu unterscheiden. Eine Wendung ist es, wenn Sie dem Leser den Mörder enthüllen. Eine Umkehrung liegt vor, wenn der unbescholtene und freundliche Assistent des Kommissars, den die Leser genau so wahrgenommen und akzeptiert haben, sich als der Mörder entpuppt. Also sich nicht nur etwas anderes offenbart, als der Leser erwartete – sondern das Gegenteil: Der vermeintlich an der Aufklärung des Verbrechens arbeitende Assistent war tatsächlich die ganze Zeit damit beschäftigt, die Aufklärung zu verhindern.

Manche Schreibratgeber unterscheiden Twists (überraschende Wendungen) und Reversals (überraschende Umkehrungen). Ein Reversal ist jedoch nichts anderes als eine Sonderform des Twists. Sprich: In diesem Buch ist stets auch Reversal mit gemeint, wenn Twist dasteht.

Ein Twist kann alle wichtigen Story-Aspekte wenden. Die Grenzen sind fließend und beliebige sowie mehrfache Kombinationen sind nicht nur möglich, sondern sorgen für einen noch dichteren Roman.

Eine Auswahl:

• Wissen

Beispiel: Die Heldin erfährt im Twist, wem sie den Rauswurf aus dem Mode-Unternehmen verdankt.

• Emotionen

Beispiel: Die vor der Wende hoffnungsvolle Stimmung der jugendlichen Schatzsucher schlägt nach der Wende in Verzweiflung um, als sie sehen, wie das Boot mit dem Schatz versinkt. Und damit auch ihre letzte Chance, die unbewohnte Insel zu verlassen.

• Handlung

Beispiel: Die Suche nach dem Drachen erfährt mit dem Finden des Drachens in seiner Höhle eine Wendung. Denn jetzt macht der Drache Jagd auf die, die ihn aufgeweckt haben.

• Thema

Beispiel: Das vermeintliche Thema Eifersucht, das den Roman bis zum Twist angetrieben hat, schlägt nach der Wende in einen Rache-Plot um.

• Charakter

Beispiel: Im Twist offenbart sich überraschend das wahre Gesicht der scheinbar so gastfreundlichen alten Dame. Sie ist eine Vampirhexe und sie will das Blut ihrer Besucher trinken.

• Sprache

Beispiel: Nach den Enthüllungen des Twists wechselt die Sprache von einem nüchternen in einen spannungssteigernden Ton.

Eine besondere Form eines Twists ist die Pointe. Doch nicht jede Pointe ist ein Twist. Zwar überrascht die Pointe immer. Zum Twist wird sie erst dann, wenn sie dem Davor oder Danach einen Dreh verpasst. Eine Pointe braucht zudem nur eine kurze Vorbereitung, wie ja auch die besten Witze kurz sind. Sie eignet sich also ideal für Szenen und steht dort am wirkungsvollsten am Ende. Genau wie bei einem gelungenen Witz.

Überraschende Wendungen: So schreiben Sie atemberaubende Twists (Meisterkurs Romane schreiben)

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