Читать книгу Überraschende Wendungen: So schreiben Sie atemberaubende Twists (Meisterkurs Romane schreiben) - Stephan Waldscheidt - Страница 7

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Spannung und Suspense

Überraschende Wendungen sorgen für Hochspannung. Nach der Wendung hat sich die Lage für die Charaktere radikal verändert, zwischen dem Davor und dem Danach ist ein Konflikt aufgebrochen wie eine Schlucht. Für den Leser stellen sich zahlreiche Spannungsfragen, etwa: »Wie reagiert der Charakter auf die neuen Umstände?«, »Welche Entscheidung wird er treffen?«, »In welche Richtung entwickeln sich die Ereignisse weiter?«, »Kann der Protagonist jetzt sein Ziel noch erreichen?« Der Leser springt über die Schlucht in eine neue Story hinein. Und das treibt seinen Puls in die Höhe.

Das Plötzliche, Unerwartete der Wendung bedeutet eine hohe Dynamik – und diese Dynamik, als einer der unverzichtbaren Faktoren von Spannung, zieht den Spannungsfaden weiter an.

Das Ungewisse der Konsequenzen, die Orientierung, die die neue Lage erfordert, das auf einmal geänderte Ziel oder die nähergerückte Gefahr – solche Dinge jagen auch die Suspense, als gespannte Erwartung eines kommenden Konflikts, auf eine neue Spitze.

Kein Wunder also, wenn sich Twists insbesondere in Thrillern zu Hause fühlen. Deren Leser verschlingen das Genre, weil sie Adrenalin-Junkies sind (zumindest die Sorte, die ihr Adrenalin-High gefahrlos auf dem Sofa durchleben will). Umgekehrt heißt das, dass Sie gerade als Autor dieses und angrenzender Genres oder Genre-Mischungen Twists liefern müssen.

Und Wendungen ohne Überraschung? Haben ebenfalls Ihren Platz in Ihrem Roman. Nicht jede Wendung muss den Leser überraschen. Doch statt der Überraschung bieten Sie dem Leser etwas anderes: Spannung und Suspense. Dann nämlich, wenn der Leser die Wende kommen sieht und womöglich auch schon weiß, wie es anschließend weitergehen wird.

Nehmen wir den klassischsten aller Countdowns: Noch zehn Minuten Zeit bis zur Evakuierung des Raumschiffs. Dann wird der Selbstzerstörungsmechanismus das Schiff und alles und jeden an Bord in Energie und sehr kleine Trümmerteile zerlegen. Der Leser weiß, dass diese Wendung kommt. Denn es versucht niemand das Unmögliche: den Countdown zu stoppen. (Was ebenfalls für Suspense gesorgt hätte.) Stattdessen flüchten alle zu den Ein-Personen-Rettungskapseln. In zehn Minuten kommt ein Wendepunkt für die Charaktere an Bord. Sie werden in alle (Sonnen-)Winde zerstreut und niemand wird wissen, wer noch überlebt hat. Keine Überraschung. Aber Spannung – Wer wird es zu einer Kapsel schaffen und rechtzeitig das Schiff verlassen können? – und Suspense – Was wartet auf die Charaktere, die sich retten können, draußen allein im All?

Mehr über die Grundlagen für mehr Spannung und Suspense in Ihren Twists erfahren Sie in meinem Schreibratgeber »Spannung & Suspense – Die Spannungsformel für jedes Genre«.

Plot und Struktur

Den Twist sollten Sie als Teil Ihres Plots sehen, also als wichtigen Punkt innerhalb der Struktur und Dramaturgie Ihres Romans. Nehmen Sie beispielsweise den Midpoint im Zentrum Ihres Romans. Auf diesen Punkt schreiben Sie in der ersten Hälfte des zweiten von drei Akten zu. Ebenso sollten Sie auch jeden Twist als ein Zwischenziel betrachten, auf das Sie die Handlung zuspitzen. Das nutzt Ihnen auch beim Schreiben: indem es Ihnen ein Zwischenziel gibt und eine absehbare Zahl von Seiten, den Roman also überschaubarer hält.

Eine überraschende Wendung kann einen der zentralen Wendepunkte bilden – in der 3-Akte-Struktur also einen der Plotpoints am Ende von Akt 1 und Akt 2, den Midpoint oder den Höhepunkt in Akt 3 (Klimax). Ein Muss ist das nicht.

Ebenso kann ein Twist weit vorn im Roman sinnvoll sein, etwa als auslösendes Ereignis den eigentlichen Roman in Gang setzen. Durch diese überraschende Wendung werden die weiteren Ereignisse angestoßen. Das kann das Entdecken eines Dimensionstors sein oder ein erster Kontakt mit Geistern wie in der legendären Fernseher-Szene mit der kleinen Carol Anne aus »Poltergeist« (1982).

An solchen herausgehobenen Stellen spielt eine Überraschung ihre Kraft am besten aus, denn an diesen Stellen funktionieren Wendungen besonders gut. Dort nämlich erwartet der trainierte Leser Wichtiges und dieses Wichtige kommt gerade recht, nicht zu früh und nicht zu spät im Plotverlauf. Denken Sie an den Cliffhanger oder die aufschlussreiche Enthüllung am Ende einer Szene, denken Sie an den Midpoint eines Romans, wo der Leser gierig darauf wartet, dass die Protagonistin von der Suche nach Hinweisen endlich zum Kampf übergeht: Die Suche nach dem Täter hat ein Ende. Jetzt geht die Hatz auf den im Midpoint überraschend enthüllten Bösewicht los. In einem Liebesroman mag der Heldin an dieser Stelle klar werden, wem ihr Herz tatsächlich gehört. Und jetzt startet sie ihren Eroberungsfeldzug.

Faustregel: Je wichtiger der Twist für den Roman als Ganzes ist, desto eher sollte er einer der zentralen Wendepunkte sein oder mit ihm zusammenfallen.

Das heißt auch, dass Sie den Twist sinnvollerweise zusammen mit dem Plot entwickeln. Mehr dazu unten.

In der Drama-Theorie ist die Peripetie der Punkt des plötzlichen und unerwarteten Umschlags des Glücks oder Unglücks. In einem Dreiakter steht sie am Ende des zweiten oder Beginn des dritten Akts, in einem Fünfakter bildet sie den Gegenstand des dritten Akts. In einem Roman bietet sich für den größten Twist der Story der Plotpoint 2 nach etwa 75 bis 80 Prozent des Textes an.

Es spricht jedoch nichts dagegen, die Peripetie sogar noch weiter nach hinten zu schieben und sie zum Höhepunkt zu machen. Der Leser moderner Texte ist daran gewöhnt, dass nach dem Höhepunkt nicht mehr viel passiert. Die klassischen Texte jedoch, auch die streng nach der Heldenreise geplotteten, räumen der Heimkehr und dem Beweis der Veränderung des Helden – alles antiklimaktische Ereignisse – noch sehr viel mehr Seiten ein.

Denken Sie bei der Platzierung Ihres Twists auch daran, für wen Sie den Twist schreiben: in erster Linie für den Leser und erst in zweiter für eine Ihrer Romanfiguren. Häufig fällt beides zusammen.

Gerade weil die meisten Leser erfahren sind, erwarten sie an den herausgehobenen Stellen im Roman oder in einer Szene einen Twist, der sie überrascht – und nicht nur einen der Charaktere.

In Rob Boffards SF-Thriller »Tracer« entlarvt Protagonistin Riley eine Intrige. Sie kriecht durch Schächte und sieht dann folgende Szene:

»---

Ein Raum. Hell erleuchtet, mit dem üblichen Boden aus Metallplatten. Ein Lagerraum. Gray ist hier. Er hat mir den Rücken zugewandt, und er unterhält sich mit einem seiner Kumpels, verschwommen am Rande meines Blickfelds. Endlich kann ich seine Worte verstehen, die durch die Spalten in den Kacheln zu mir hoch dringen. »Ich habe gemacht, was du wolltest«, sagt er.

Die andere Person im Raum antwortet: »Nein, das hast du nicht. Du hast Mist gebaut, Arthur.«

Ich kenne diese Stimme. Es ist derselbe sanft flötende Ton, der mir gerade erst vor ein paar Stunden einen Job angeboten hat.

Oren Darnell tritt vor, in mein Blickfeld. Und als er das tut, erhasche ich einen Blick auf Prakesh.

Er ist hinter Darnell, auf dem Boden ausgestreckt – nicht gefesselt, aber besinnungslos. Mein Atem stockt mir in der Kehle. Nicht nur seinetwegen.

Neben Prakesh liegen Yao und Kevin.

---«

(Rob Boffard, »Tracer«, Heyne 2016, eigene Übersetzung)

Damit endet das Kapitel. Riley ist offenbar überrascht. Doch leider nickt der Leser nur, denn er weiß bereits, aus einem anderen Erzählstrang, dass Darnell ein Fiesling ist und Yao und Kevin gefangen hat. Die Überraschung funktioniert für den Leser nicht. Nur wenn er sich stark mit Riley identifiziert, wird er hier überhaupt etwas empfinden.

Kritisch ist hier die Platzierung. Mitten in der Szene hätte der Leser diese Stelle nicht als verloren betrachtet. Doch hier, am Ende der Szene, erwartet er mehr von der Geschichte. Er will selbst überrascht werden, statt nur anderen dabei zuzusehen, wie man sie überrascht.

Extra-Tipp: In einer dramatischen Szene bildet die überraschende Wendung im Midpoint oder Höhepunkt der Szene häufig den Dreh- und Angelpunkt. Mehr noch: Der Twist ist der Grund, warum Sie die Szene überhaupt schreiben. Wenn Sie also eine neue Szene plotten, fangen Sie mit dem Twist an.

Wie Sie den besten Plot und die dramatischste Struktur für Ihren Roman erschaffen, um auch Ihre Twists optimal zu platzieren, verrät Ihnen mein Schreibratgeber »Plot & Struktur: Dramaturgie, Szenen, dichteres Erzählen«.

Überraschende Wendungen: So schreiben Sie atemberaubende Twists (Meisterkurs Romane schreiben)

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