Читать книгу Über das Schreiben eines Romans: 55 Schreibtipps für Profis - Stephan Waldscheidt - Страница 11
Auslagern von Persönlichkeitsmerkmalen auf Nebenfiguren
ОглавлениеWenn Engel und Teufel um eine Seele streiten
Ihr Roman lässt sich vertiefen, indem Sie mit Subplots das Thema aus einer anderen Sicht beleuchten oder die Prämisse auf eine andere Art beweisen oder widerlegen. Bei Ihren Charakteren können Sie alternative Aspekte der Heldin mittels Nebenfiguren zeigen und – das ist besonders hilfreich – auch agieren lassen.
In Ihrem Roman »Die Wand« (Mohn Verlag 1963) lagert die Autorin Marlen Haushofer Facetten, Eigenschaften ihrer Heldin auf andere Figuren aus. In dieser Endzeitvision aus den 1960ern wird die Protagonistin in einem Gebiet der Alpen eingeschlossen – von einer unsichtbaren, unüberwindlichen Wand. Alles menschliche und tierische Leben jenseits davon scheint erloschen. Die namenlose Heldin will weiterleben. Sie arrangiert sich mit ihrer Lage. Das Weiterleben gelingt ihr nur mit Hilfe einiger Tiere, die sie auf ihrer Seite der Wand findet: des Hundes Luchs, der Kuh Bella und mehrerer Katzen.
Nicht von ungefähr gab Marlen Haushofer den Roman ihrem ersten Leser mit folgenden Worten zu lesen: »Hier ein Katzenroman.« Das ist mehr als bloßes Understatement.
Diese Auslagerung der Persönlichkeit findet sich, besonders bildhaft, in den Romanen der Reihe »His Dark Materials« von Philip Pullman (ab 1995 / der erste Band als Film: »Der goldene Kompass«, USA, Großbritannien 2007; Regie und Drehbuch: Chris Weitz). Dort hat jeder Mensch seine Seele in ein Tier ausgelagert, das ihn ständig begleitet.
Ein andres schönes Bild ist uns aus zahllosen Filmen und Cartoons vertraut: Auf der Schulter des Helden sitzend streiten sich ein Engelchen und ein Teufelchen miteinander.
In der Wirklichkeit findet sich Vergleichbares: bei den Totems der Indianer, die als eine Art Schutzgeist, Krafttier, Urahn betrachtet werden. Und nicht zuletzt bei dem Klischee, dass ein Hund seinem Besitzer mit der Zeit immer ähnlicher wird.
An folgenden Stellen aus »Die Wand« wird deutlich, dass Marlen Haushofer die Tiere als Symbole oder Aspekte ihrer selbst verwendet (bewusst oder unbewusst):
Luchs, schöner, braver Hund, wahrscheinlich macht nur mein armer Kopf das Geräusch deiner Tritte, den Schimmer deines Fells. Solange es mich gibt, wirst du meine Spur verfolgen, hungrig und sehnsüchtig, wie ich selbst hungrig und sehnsüchtig unsichtbare Spuren verfolge. Wir werden beide unser Wild nie stellen.
(…)
Wenn ich »Winter« denke, sehe ich immer den weißbereiften* Fuchs am verschneiten Bach stehen. Ein einsames, erwachsenes Tier, das seinen vorgezeichneten Weg geht. Es ist mir dann, als bedeute dieses Bild etwas Wichtiges für mich, als stehe es nur als Zeichen für etwas anderes, aber ich kann seinen Sinn nicht erkennen.
(…)
Luchs war immer selig, als ich ihn streichelte. Freilich, er konnte gar nicht anders, aber ich vermisse ihn deshalb nicht weniger. Er war mein sechster Sinn. Seit er tot ist, fühle ich mich wie ein Amputierter.
(…)
Im Traum bringe ich Kinder zur Welt, und es sind nicht nur Menschenkinder, es gibt unter ihnen Katzen, Hunde, Kälber, Bären und ganz fremdartige pelzige Geschöpfe.
Als Symbol für die Erzählerin selbst, in ihrer Gänze, steht (neben dem weißen Fuchs) eine weiße Krähe, die entsprechend im letzten Satz des Romans eine Rolle spielt. Die anderen Tiere – die im Roman und die aus dem oben zitierten Traum – stellen Facetten der Protagonistin dar, die mal mehr, mal weniger offensichtlich sind.
Indem Sie Teile der Persönlichkeit eines Charakters auslagern, können Sie in Ihrem Roman Aspekte Ihrer Hauptfigur nicht nur agieren, sondern sogar miteinander in Konflikt treten lassen.
Beispiel. In Ihrer Heldin streiten sich Ordnungsliebe und Chaos miteinander. Sie zeigen einen Streit zwischen Berta, der Tochter Ihrer Heldin, die für die Ordnungsliebe steht, mit dem Sohn der Heldin, Max, der für das Chaos antritt.
Sie können noch weiter gehen und wiederum aus den Handlungen der Kinder Rückkopplungen zur Mutter einflechten: Wie reagiert sie auf den Streit? Welche Seite nimmt sie ein? Was sind ihre Argumente dafür?
Das alles wird, sofern es sich um wesentliche und für den Roman wichtige Facetten der Persönlichkeit Ihrer Heldin handelt, Ihren Roman vertiefen. Zugleich bietet Sie dem Leser damit eine spannendere Alternative zu inneren Monologen.
Auch symbolische Wirkungen können Sie auf diese Weise verstärken.
Beispiel. In einem Unternehmen macht der neue Mitarbeiter dem alten Hasen seine Position streitig. Der schon stereotype Satz des alten Hasen dazu: »Du erinnerst mich an mich.« Der Aufsteiger symbolisiert, er versinnbildlicht den Hasen, wie er in seiner eigenen Jugend war. Interessant (weil konfliktreich) wird es dann, wenn der Junge einen anderen Weg einschlägt als der Alte damals und den Alten, gerade dadurch, schlägt. So etwa in dem Filmklassiker »Wall Street« mit Michael Douglas und Charlie Sheen (USA 1987; Regie: Oliver Stone; Drehbuch: Stanley Weiser, Oliver Stone).
__
*) Nein, dem Fuchs hat man keine weißen Reifen aufgezogen. Sein Fell sieht aus, als trüge es weißen Reif.
[Meinen Dank an Solveig, durch deren hilfreichen Kommentar im Blog ich diesen Artikel um einen Aspekt erweitern konnte.]