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Risiken ungewöhnlicher Erzählperspektiven

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Brief an meine ermordete Schwester

Die heute am weitesten verbreitete Erzählperspektive in Romanen, die nahe dritte Person, ist auch deshalb so beliebt, weil sie die geringsten Risiken für den Autor birgt. Gerade Anfänger unterschätzen die Herausforderungen der ersten Person, der Ich-Perspektive. Rasch wirken manche Konstruktionen gestellt und nicht mehr glaubwürdig. So wie in dem Debüt-Roman der Engländerin Rosamund Lupton, »Sister« (Piatkus 2010 / eigene Übersetzung / dt. »Liebste Tess«), über den ich in einem der vorigen Kapitel bereits geschrieben habe und den ich hier aus einem anderen Blickwinkel betrachte.

Der Roman, eine Art Krimi mit literarischem Anspruch, wird als Brief einer Frau an ihre jüngere Schwester erzählt, in der ersten Person. Schon nach wenigen Seiten stört die allzu auffällige Exposition, die sich in Sätzen wie »Aber wie du weißt …« zu erkennen gibt und darin gipfelt, dass die Erzählerin ihrer jüngeren Schwester ihren Namen sagt, nachdem sie hört, wie er von vor dem Haus wartenden Journalisten ausgesprochen wird: »… mein eigener Name springt mich an: ‚Arabella Beatrice Hemming‘« und, nur wenige Zeilen später, wiederholt sie ihren Namen: »… es dauert einen Moment, bevor mir klar wird, dass ich, Arabella Beatrice Hemming, der Grund dafür bin.«

Kein Mensch würde solche Dinge in den Brief an die eigene Schwester schreiben. Gehen Sie daher in Ihrem Roman bedacht mit der Exposition um und klopfen Sie sie auf unauthentische Inhalte ab.

Die Erzählung aus der ersten Person heraus bietet noch weitere Schwierigkeiten. Ein großes Problem bei einem Ich-Erzähler ergibt sich etwa dann, wenn er, in der Vergangenheitsform, von einem Verbrechen erzählt und den Täter nicht nennt. Obwohl er – in Luptons Roman sie – zur Zeit der Erzählung ja sehr wohl weiß, wer der Täter ist und welches Motiv er für sein Verbrechen hatte. Er muss also einen überzeugenden Grund anführen, warum er mit der Sache hinter dem Berg hält.

Die gute Nachricht: Hier sind die Leser sehr leicht zu überzeugen, denn schließlich wollen sie auf die Folter gespannt werden.

Lupton behilft sich mit folgender Konstruktion, in der sie der Schwester – tatsächlich dem Leser – erklärt, wieso sie das Geheimnis bis zum Ende für sich behält. Das Beispiel bringe ich deshalb erneut, weil man Verschiedenes daraus lernen kann.

Und es geht darum, dir zu sagen, warum du ermordet wurdest. Ich könnte am Ende beginnen, dir die Antwort geben, die letzte Seite, aber du würdest eine Frage stellen, die ein paar Seiten weiter zurück führt, dann noch eine, den ganzen Weg dahin zurück, wo wir jetzt sind. Also werde ich dich einen Schritt nach dem anderen führen, so, wie ich selbst dahinterkam, ohne mit meinem Wissen vorzugreifen.

Überzeugt Sie das? Mich nicht. Gar nicht davon zu reden, dass neben dieser doch sehr bemühten Konstruktion das Schreiben eines Briefs an die tote Schwester recht weit hergeholt ist.

Paradoxerweise lassen sich die Leser oftmals eher zum Ablegen ihres Unglaubens (dem berühmten »suspension of disbelief« bewegen, wenn Sie auf vergleichbar abenteuerliche oder weit hergeholte Konstruktionen verzichten – und einfach Ihre Geschichte erzählen.

Den letzten Anstoß, Luptons Buch wegzulegen, hat mir ein Cliffhanger gegeben, der einzig auf den Effekt zugeschnitten wirkt:

Die Erzählerin kommt in die Wohnung der Schwester zurück. Dann:

Jemand war in deinem Schlafzimmer. Die Trauer hatte alle anderen Gefühle erstickt und ich fühlte keine Angst, als ich die Tür öffnete. Ein Mann war im Zimmer und wühlte in deinen Sachen. Wut schnitt durch die Angst.

»Was machen Sie da?«

In dem neuen Geisteszustand der Tiefseetrauer erkannte ich meine eigenen Wörter nicht mehr. Der Mann drehte sich um.

Die Identität des Mannes wird so rasch nicht enthüllt. In einer anderen Erzählperspektive wäre der Cliffhanger nicht mal schlimm, womöglich gelungen. Hier aber empfand ich ihn als konstruiert.

Was eine weitere Gefahr aufzeigt: Hat der Leser Ihre ungewöhnliche Konstruktion oder Erzählweise erst einmal bemerkt, wird sie ihm auch im Folgenden eher auffallen und er wird sensibler reagieren, sprich: leichter aus seinem Erzähltraum zu reißen sein. Jede ungewöhnliche Erzählweise ist eine Einmischung des Autors und mit Risiken behaftet.

Ein Literat sorgt dafür, dass seine Leser seine literarischen Konstruktionen erkennen, um sie würdigen zu können. Ein Erzähler hält sie unterhalb der Wahrnehmungsschwelle.

Das heißt nicht, dass Sie – als Erzähler – nur immer weiter die ausgetretenen Pfade des Erzählens laufen sollen. Aber Sie sollten sich der Risiken bewusst sein, die links und rechts davon lauern. Im Zweifelsfall ist es die bessere Variante, erst das Laufen richtig zu beherrschen, bevor man sich durchs dichte Unterholz schlägt.

Auf der Suche nach dem Schatz: dem Platz in der Bestsellerliste.

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