Читать книгу Höhepunkte des Mittelalters - Stephan Fussel - Страница 6

Vorwort

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Der Mensch der Gegenwart wird im Allgemeinen mehr und mehr von der Zahl beherrscht, sodass man von einer Verzifferung des Lebens sprechen kann. Warum sollte nicht auch die Vergangenheit durch Zahlen ausgedrückt werden? Tatsächlich aber haben Jahreszahlen bei der Mehrzahl der Schüler und Studierenden einen schlechten Ruf. Und das gern weitergegebene Klischee, dass der Geschichtsunterricht in der Schule nur aus dem Eintrichtern von Jahreszahlen bestanden habe, soll die besondere Oberflächlichkeit und Leere des Gebotenen illustrieren. Selbst unter Historikern wird die exakte Kenntnis dieser Zahlen oft als überflüssiger Ballast angesehen, die ein scheinbares Wissen vorgaukelt, zum wahren Geschichtsverständnis aber nichts beiträgt, ja ihm sogar hinderlich ist. Wer Jahreszahlen weiß, sie vielleicht sogar abschnurren kann, wird ipso facto verdächtigt, von Geschichte im eigentlichen Sinne nichts zu verstehen, so wie jemand, der numerisch gut rechnet, kaum als begnadeter Mathematiker angesehen, sondern eher als bloßer ,Zahlenschaufler‘ und ,Ziffernbolzer‘ abgetan wird.

Die Ablehnung der Jahreszahl hat gewiss ihre Berechtigung, wenn sie isoliert ein Faktum vermittelt, das nicht in einen größeren Zusammenhang historischen Geschehens gebettet ist. Das vorausgesetzt, wird man auf den Vorteil, den die Jahreszahlen für den historischen Überblick bieten, nicht leicht verzichten können: nämlich eine leicht verständliche Abfolge, die das zeitliche Nacheinander unvergleichlich knapp veranschaulicht. Vergangenes Geschehen wird durch Zahlen in seinem Ablauf fixiert und erst dadurch in der Zeit lokalisiert oder, wie man heute sagt, verortet. Dies scheint aber notwendig zu sein, um die innere und äußere Distanz zu den jeweiligen Ereignissen festzulegen, was die erste Stufe einer versuchten Sinnstiftung der Geschichte darstellt. Auch der Gedanke einer historischen Entwicklung lässt sich am einfachsten durch Zahlen und ihre Abfolge ausdrücken. Freilich basieren diese Überlegungen auf der stillschweigenden Voraussetzung eines linearen Geschichtsverständnisses, wie es die abendländische Kultur auszeichnet.

Man sieht also, wie leicht man vom Streit um die Bedeutung der Jahreszahlen zu grundlegenden Fragen geschichtsphilosophischer Art gelangen kann. So weit führen unsere Überlegungen hier nicht. Die historische Jahreszahl soll vielmehr als Mittel der Assoziation verstanden werden: als mnemotechnisches Zeichen, das bestimmte Vorstellungen auslöst, vergleichbar einem Eisberg, dessen kleineren Teil man sieht, während sechs Siebtel seiner Masse unsichtbar unter dem Meeresspiegel ruhen! Der gezielte Einsatz von Jahreszahlen setzt also ein gediegenes historisches Wissen voraus und verleiht erst dann der einzelnen Zahl symbolische Bedeutung. So sind die Jahreszahlen als Gerüst für den äußeren Bau, den wir aus dem vergangenen Geschehen errichten, ebenso brauchbar wie als Sinnelement für dessen Verständnis.

In noch höherem Maße gilt das für solche, die man als Epochenzahlen bezeichnen kann. Epoche bedeutet ursprünglich eine Hemmung, ein Anhalten, einen unterbrechenden Einschnitt. Darunter versteht man den Moment, in dem ein bestimmter geschichtlicher Verlauf zu einem Abschluss gekommen scheint und neue Triebkräfte den historischen Weg in eine andere Richtung lenken. Erst später ist man von diesem punktuellen Begriff abgegangen und hat ihn auf den von diesem Zeitpunkt abhängigen Zeitraum übertragen und damit aus der Epoche eine Periode gemacht. Der Ausdruck Epochenzahlen jedoch hat die frühere und richtigere Auffassung bewahrt. Sie verziffern diesen Augenblick des scheinbaren Innehaltens der Geschichte und erzeugen damit die entsprechende Assoziation für den hinter der kargen Jahreszahl befindlichen Neuansatz des geschichtlichen Ablaufs. Niemand kann den Sinnbildcharakter eines solchen Vorgehens verkennen. Die reale Geschichte ändert sich nicht von einem Tag zum anderen und lässt zwei völlig verschiedene Perioden durch den Alltag des Menschen hindurchgehen!

Epochenzahlen symbolisieren also einen historischen Einschnitt, der durch ein besonderes Ereignis hervorgerufen wird. Manchmal haben das schon die Zeitgenossen vermutet und dem an sich nicht ungewöhnlichen Geschehen in einer ganz bestimmten Situation oder unter ganz bestimmten Voraussetzungen solch eine hohe Bedeutung zuerkannt. Waren mit dieser Einschätzung überwiegend persönliche Motive verbunden, so ist das durch die spätere historische Wertung selten bestätigt worden. Wurde das Geschehen jedoch von Menschen beurteilt, deren Horizont über das eigene Umfeld hinausreichte und die den ,Zeitgeist‘ hinter dem oberflächlichen Ereignis erfassten, so gehen die Historiker tatsächlich oft mit deren Ansicht konform.

In den hier gesammelten Beiträgen wird eine Reihe von Jahreszahlen herausgegriffen: Sie sind mit Ereignissen der mittelalterlichen Geschichte verbunden, welche für die historische Entwicklung Europas zweifellos von großer Bedeutung waren. Die dadurch symbolisierten Geschehnisse schließen eine Periode ab und zeigen in Ansätzen, wohin der geschichtliche Weg führen wird. In diesem Sinne sind es echte Epochenzahlen. Andere Ereignisse stellen hingegen den Höhepunkt eines politischen oder kulturellen Phänomens dar, das danach im Abklingen war, ohne sofort Neues anzukündigen. Es handelt sich also um die Darstellung von Höhepunkten, von historischen Wenden und von zukunftsträchtigem Geschehen. Manches, was hier zum Gegenstand der Betrachtung wird, bedingte sofort einen Wandel, manches war nur wie ein erstes Auf blitzen des Kommenden und entfaltete seine Wirkung erst später. Bei einigen Ereignissen fällt dieser Moment in eins zusammen; man erkennt den Untergang des Alten und das Herauf kommen des Neuen, das freilich nicht abgeklärt oder fertig erscheint, sondern als Phänomen, das genug des Fragwürdigen und Unsicheren in sich birgt.

Hier ist die Position des rückblickenden Historikers zweifellos günstiger als diejenige des Zeitgenossen. Er kann – unabhängig von seiner individuellen Sichtweise – das komplexe Geschehen, das sich um ein Ereignis schließt und diesem seine einzigartige Bedeutung verleiht, in umfassender und nüchterner Interpretation werten und somit auch den Epochencharakter des singulären Faktums kritisch beurteilen. Dabei muss er sich der sinnbildlichen Funktion von Geschehen und Jahreszahl immer bewusst sein.

Ein Problem mag das Wort „Höhepunkte“ darstellen. Es ist allgemein semantisch mit etwas Positivem verbunden. Das wird auch hier wiederholt zum Ausdruck kommen, bei aller Vorsicht und wertenden Zurückhaltung, die dem Gelehrten aus guten Gründen eigen ist. Dennoch wird das Wort nicht ausschließlich in diesem Sinne verstanden, sondern grundsätzlich viel buchstäblicher. „Höhepunkt“ meint in diesem Zusammenhang dasjenige, das sich über das gewöhnliche, voraussehbare Geschehen erhebt, was als oft ungeheurer Einbruch in die vertraute Wirklichkeit erfahren wird; und das kann nach menschlichen Maßstäben durchaus auch negativ sein. Voraussetzung für die Auswahl der Ereignisse war allein ihr epochaler Charakter, ihre Bedeutung für den weiteren Verlauf der Geschichte (nicht nur der mittelalterlichen). Dass die historische Betrachtung der einzelnen Ereignisse und ihre Wertung stark vom jeweils zeitgenössischen Denken abhängig sind, wird niemanden verwundern. Die Autoren der einzelnen Beiträge haben das in Rechnung gestellt, sind sich aber auch klar darüber, selbst unserer Gegenwart in dieser Hinsicht Tribut zu zollen.

Die hier vorgestellten Ereignisse wurden subjektiv, aber nicht grundlos ausgewählt. Sie sind nicht das Ergebnis einer Grundsatzdiskussion. Sie sind nach dem Prinzip herangezogen worden, die zehn Jahrhunderte des europäischen Mittelalters einigermaßen gleich zu berücksichtigen und verschiedene Aspekte der Geschichte zugänglich zu machen. Dass es sich um die 15 wichtigsten Ereignisse handelt, wird niemand behaupten. Dass der Schwerpunkt auf die deutsche Geschichte gelegt wurde, kann nicht überraschen, doch ist die Wirkung des epochalen Geschehens stets von europäischer Bedeutung.

Obwohl der Begriff „Höhepunkte“ primär Augenblickscharakter hat und hier davon auch bewusst ausgegangen wird, sollten doch einige sehr wichtige, nachhaltig wirkende Phänomene der mittelalterlichen Geschichte nicht ausgeklammert werden, die das Ergebnis der Entwicklung über einen kürzeren oder längeren Zeitraum hin darstellen und sich nicht von einem einzigen Datum her assoziativ erfassen lassen. So kann man die Entstehung der Stadt nicht symbolisch mit einer bestimmten Jahreszahl und dem damit verbundenen Ereignis in Zusammenhang bringen. Für die einzelne Stadt ist das sicher oft möglich, vor allem wenn es sich um eine nachweisbare Gründung handelt, aber nicht für die Stadt als europäisches Phänomen. Hier muss deren historische Entwicklung und deren Blüte als „Höhepunkt“ gewertet werden.

Noch ein paar einführende Worte zu den einzelnen Ereignissen. Im Frühmittelalter wurden solche gewählt, die faktisch und symbolisch die Entstehung des abendländischen Europa als eines neuen historischen Komplexes in Ablösung der antiken Welt ermöglichten und ihm wesentlich konstitutive Elemente vermittelten. Der Übertritt des merowingischen Königs Chlodwig zum katholischen Christentum trug entscheidend zu dessen Durchsetzung als Grundlage menschlicher Existenz in dieser Periode bei. Mit der Entfaltung des abendländischen Mönchtums in der Nachfolge des umbrischen Anachoreten Benedikt wurde einem bedeutenden kulturellen, religiösen und zivilisatorischen Element der Weg ins Mittelalter gebahnt. Die Abwehr der muslimischen Berber bei Tours und Poitiers machten den europäischen Sonderweg erst möglich. Die Erneuerung des westlichen Kaisertums durch Karl den Großen schließlich löste Europa aus der ideologischen Abhängigkeit vom oströmischen Reich und förderte die autogene Entwicklung des lateinisch-barbarischen Westens.

Vom Kaisertum gehen auch die hochmittelalterlichen Beiträge aus. Dessen Wiederherstellung durch den sächsischen König Otto I. war vor allem für die deutsche Geschichte folgenschwer und für deren Glanz und Elend wesentlich verantwortlich. Die Auseinandersetzung um den Vorrang von geistlicher oder weltlicher Gewalt, die man mit dem Namen Canossa verbindet, ist darüber hinausgehend ein Sinnbild für die Krise der europäischen Gesellschaft, in der die Ansätze einer modernen Welt sichtbar werden. Die Eroberung von Jerusalem auf dem Ersten Kreuzzug steht ebenfalls sinnbildlich für das Auf brechen einer archaischen Welt durch die Erweiterung des abendländischen Horizonts. Der Hoftag zu Mainz im Jahre 1235 zeigt die mittelalterliche Kaiserherrlichkeit an einer Wende; sie verblasst in der übersteigerten Pracht eines der Tradition schon fremd gewordenen Kaisers und öffnet zugleich einem neuen politischen Selbstverständnis die Tore.

Im Spätmittelalter werden die historischen Epochen – Wendepunkte und Zukunftsmarken – in vielen Bereichen erkennbar. Politisch folgenreich bis in die jüngere Vergangenheit war die endgültige Durchsetzung der Habsburger im Südosten des Reiches. Bis in die napoleonische Zeit wirksam war das Grundgesetz, in dem die Königswähler im römisch-deutschen Reich fixiert wurden und das auch dessen territoriale Sonderentwicklung stark beeinflusste. Die Verbrennung des tschechischen Theologen Hus schließlich weist auf die letzte große abendländische Krise religiöser, nationaler und sozialer Natur, an deren Folgen die mittelalterliche Welt zerbrechen sollte. Großen Anteil an dieser Wende hatten die Universitäten, deren relativ späte, aber dann schnell aufeinander folgende Gründungen auf deutschem Reichsboden die Verbreitung einer intellektuellen Weltsicht mit all ihren spürbaren Konsequenzen forcierte und so über das Mittelalter hinausführte. Entscheidende Hilfe dabei bot der Buchdruck mit beweglichen Lettern, der im 15. Jahrhundert eine mediale Revolution ungeahnten Ausmaßes hervorrief. Die große soziale Neuerung des Mittelalters aber war die Stadt, die den Menschen aus einer agrarisch bestimmten Welt, einer rechtlich eingeschränkten Stellung und Kirchturmperspektive befreite, um ihn einem aspektreichen Gemeinwesen sinnvoll einzugliedern. Dieses mittelalterliche Phänomen wirkt bis heute gesteigert fort, freilich nicht nur zum Guten. Einen tiefen Einschnitt in der europäischen Entwicklung markierte die große Pest in der Mitte des 14. Jahrhunderts, wohl die schwerste und nachhaltigste Epidemie, die das Abendland je betroffen hat. Ihr Einfluss auf die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zustände ist kaum zu überschätzen, aber auch die Religiosität und Mentalität des spätmittelalterlichen Menschen wurden durch die Pest und ihre Folgen entscheidend berührt.

Die hier ausgewählten und dargestellten Ereignisse sollen den Leser nicht nur mit mehr oder weniger bekanntem historischen Geschehen enger vertraut machen. Die Verfasser möchten Jahreszahlen und Schlagworte aus ihrer Isoliertheit befreien, das historische Umfeld erklären, auf Zusammenhänge und Bedingtheiten hinweisen und nicht zuletzt die Relevanz von Fakten, deren Deutung und Wertung zurechtrücken. Damit sollte nicht nur die Sicht auf das immer noch missverstandene Mittelalter freier werden, sondern auch das europäische Selbstverständnis gewinnen, wenn man ein so großes Wort in diesem bescheidenen Rahmen formulieren darf.

Mein Dank gilt Herrn Wolfgang Hornstein, dem Geschäftsführer des Primus Verlags, der mich mit der Herausgabe dieses Bandes betraute, Frau Regine Gamm für ihr präzises Lektorat und allen Kolleginnen und Kollegen, die sich so bereitwillig und verlässlich an dem Sammelwerk beteiligten.

Wien, im Mai 2004

Georg Scheibelreiter

Höhepunkte des Mittelalters

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