Читать книгу Über die Toten nur Gutes - Stephanie Carle - Страница 4
Kapitel 1 Kapitel 1
ОглавлениеSonntag, 18. Oktober, 7.30 Uhr
Lynne war in Eile. Hastig band sie die noch feuchten Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen, bei dem einige Strähnen an den Seiten herausfielen. Zum Föhnen war keine Zeit mehr. Du bist einfach zu gutmütig, wies sie sich selbst zurecht. Als ob du unter der Woche nicht schon genug Arbeit hättest! Aber Nigel war ein alter Freund und während ihrer Assistenzzeit in der Kinderklinik immer für sie da gewesen. „Alle sind krank, Lynne. Ich halte hier alleine die Stellung. Morgen ist Sonntag, du weißt, wie es da in der Notfallambulanz zugeht. Ich könnte wirklich deine Unterstützung gebrauchen.“
Also hatte sie eingewilligt. Es gab ja keinen, den es störte, wenn auch ihr Wochenende dem Beruf geopfert wurde und in der Gerichtsmedizin war zwar immer etwas zu tun, doch der Stress hielt sich zurzeit in Grenzen. Hauptsächlich hatte sie die letzten Monate damit zugebracht, ausstehende Fälle abzuschließen und sie in schriftlichen Berichten festzuhalten.
Während sie noch einen eiligen Schluck von ihrem mittlerweile kalt gewordenen Kaffee nahm, zog Lynne sich im Hinausgehen ihren Mantel über und die knallpinke Wollmütze auf den Kopf. Zugegeben, so kalt war es noch nicht, aber mit frisch gewaschenen Haaren fröstelte sie um diese frühe Uhrzeit doch. Na prima, es regnet. Das perfekte Erkältungswetter. Noch mehr ‚Notfälle‘…
Lynne schlug ihren Kragen hoch und rannte zu ihrem silbernen Chevrolet Malibu. Das war ein gewisser Vorteil an ihrem Sieben-Tage-die-Woche-Job: Das Auto gehörte vollkommen ihr; keiner Bank, keinem Finanzunternehmen oder sonstigem Geldverleiher. Ebenso wie die behagliche Penthousewohnung in der Babylon Street, die doppelt so groß war wie das Häuschen, in welchem sie mit ihren Eltern gelebt hatte. Bis zum Sutton Children’s Medical Center am St. Mary Place waren es knapp fünf Meilen und bei der morgendlichen Verkehrslage in dieser Stadt würde Lynne dafür fast zwanzig Minuten brauchen.
Sonntag, 18. Oktober, 8.00 Uhr
Schlag acht Uhr passierte sie die sich automatisch öffnenden Glastüren des Kinderkrankenhauses und war keine zehn Minuten später in die freundlich hellblaue Ärztekluft gestiegen.
„Man könnte meinen, diese Kleider seien extra für dich entworfen worden. Die Farbe spiegelt exakt den Himmel in deinen Augen wieder.“
Lynne musste unweigerlich lächeln. „Alter Charmeur! Das sagst du doch nur, weil ich dir mal wieder deinen alten Hintern rette“, erwiderte sie neckend und umarmte Nigel zur Begrüßung.
„Ach Lynnie, du kennst mich einfach zu gut.“ Der grauhaarige Mann zwinkerte ihr zu und richtete sein Stethoskop neu, das von der Umarmung anscheinend ein wenig von seinem Platz verrutscht war. Nigel war ein äußerst pingeliger Mensch, was seine Doktorangewohnheiten betraf. „Eigentlich wäre es die Aufgabe eines jungen, attraktiven…“, er suchte nach dem passenden Wort, „Chirurgen, so etwas zu dir zu sagen. Oder nein – lass es lieber einen Anästhesisten sein.“
„Du meinst ein Drogenabhängiger ist besser als ein Alkoholiker?“, fragte Lynne scherzhaft.
Nigel seufzte. „Ich sage dir, Mädchen, wir Kinderärzte sind die einzigen rechtschaffenen Menschen auf diesem Planeten.“
„Ich bin Rechtsmedizinerin.“
„Ach was“, Nigel winkte ab. „Deine Ausbildung hast du hier zur Kinderärztin gemacht. Das Leichenauseinanderschnippeln kam erst später dazu. Im Grunde deines Herzens bist du dem anständigen Beruf immer treu geblieben. Was denkst du, warum du heute wieder hier bist?“
„Weil ich dir aus der Patsche helfe, du alter Besserwisser!“, erklärte Lynne und warf ein paar Untersuchungshandschuhe nach ihm. Wäre Nigel ihr Vater gewesen, dann wäre wohl vieles besser gewesen. „Komm schon, was hast du für mich?“
„Die Notfallambulanz“, sagte Nigel ohne Umschweife. „Ich habe zurzeit zwei Problemkinder auf Station. Leukämie und Dialyse. Ich hoffe heute noch auf eine neue Niere. Und auf eine Knochenmarkspende.“
„Beides an einem Tag? Du bist entweder vollkommen verrückt oder immer noch viel zu idealistisch.“
„Wie ich bereits sagte: Die letzten rechtschaffenen Menschen, Lynnie.“ Mit diesen Worten verließ er den Umkleideraum, um sich an die Arbeit zu machen.
Lynne seufzte. Sie selbst hatte damals genau aus dem Grund eine andere medizinische Richtung eingeschlagen. Eltern sagen zu müssen, dass ihr Kind die Krankheit nicht überleben wird, war einfach zu belastend. Oder das Wissen, misshandelte Kinder wieder in die Obhut der Menschen geben zu müssen, die ihnen diese grauenvollen Dinge überhaupt erst angetan hatten.
Die sonntägliche Notfallambulanz war da vorteilhafter. Wenn die Sache wirklich todernst war, dann konnte sie die Kinder mitsamt ihren Eltern in den OP schicken und damit auf Station und in andere ärztliche Hände überweisen. In den übrigen, glücklicherweise zahlreicheren Fällen von Löchern in Köpfen, hohen Fieberattacken oder plötzlicher Erkältungssymptome, war man als Notfallarzt meistens der Held des Tages.
In dieser Überzeugung raffte Lynne sich auf. Sie grüßte die Schwester am Empfang, die seit eh und je dasselbe lustige gelbe Shirt mit der aufgedruckten Ente in Doktoruniform trug und wie eh und je freundlich und viel zu laut „Guten Morgen, Dr. Cooper“ quäkte, als sei das Bild auf ihrem Oberteil eine Fotografie ihrer selbst. Lynne grüßte ebenso freundlich, nur mit gedämpfterer Stimme zurück und verzog sich schnell in das Behandlungszimmer. Ein Blick in den Warteraum hatte ihr gezeigt, dass noch keine Patientin gekommen waren, insofern war es entweder eine ruhige Nacht gewesen oder der zuständige Kollege hatte gute und effektive Arbeit geleistet.
Lynne war froh, ihre Unterlagen mitgebracht zu haben. Auf diese Weise konnte sie wenigstens noch einen Teil ihrer eigentlichen Arbeit erledigen, so dass sie in der kommenden Woche nicht wieder jeden Tag bis spät abends in der Rechtsmedizin festsaß. Wobei… zu Hause wartete ja keiner auf sie.
Sonntag, 18. Oktober, 12.30 Uhr
Der Vormittag gestaltete sich als weitaus stressiger als angenommen und bis zur Mittagszeit war Lynne keine Akte weit gekommen. Ständig waren neue Elternteile mit ihren kleinen Patienten eingetroffen und Lynne war nur mit Abhören und Rezepteschreiben beschäftigt.
Als sie gerade die Tür öffnete, um sich einen kleinen „Sonntagsimbiss“, eine von Woche zu Woche wechselnde Spezialität aus der Cafeteria zu besorgen – dem einzigen Ort, den sie in ihrem neuen Job vermisste – stand schon wieder ein Vater mit seinen zwei blassen Jungs am Anmeldetresen. Der Größere der beiden hustete beinahe keuchend, während der Kleinere, der auf dem Arm des Vaters saß, stumm vor sich hin fröstelte.
Lynne verdrehte genervt die Augen. Da geht sie hin, meine Mittagspause. Den Sonntagsimbiss gab es leider nur bis um eins. Vielleicht hätten die Jungs es auch überstanden, eine halbe Stunde im Wartezimmer auf ihre Behandlung zu warten, doch irgendwo besaß Lynne eine selbstzerstörerische Ader und deshalb schloss sie die Tür wieder und gab der durch die Seitentür eintretenden ‚Entenschwester‘ Bescheid, dass sie die Patienten hereinbitten konnte.
Leider bevor sie sich die auf den Akten vermerkten Namen angesehen hatte und als die Aufgerufenen hereintraten, traf Lynne beinahe der Schlag.
Glücklicherweise schien es ihrem Gegenüber genauso zu ergehen.
„Dean, was machst du denn hier?“, stotterte Lynne.
Der Angesprochene lächelte freundlich und um den Mund bildeten sich dabei vereinzelte Fältchen. „Dasselbe könnte ich dich fragen. Ich wusste nicht, dass du Kinderärztin bist…“
„Bin ich nicht“, sprudelte es aus Lynne heraus und sie biss sich sofort auf die Lippen. Scheiße, was redest du denn da? Natürlich bist du Kinderärztin!
Der Mann mit den rötlichen Haaren zog die Brauen hoch. Mit dem Daumen zeigte er in Richtung Tür. „Aber… das ist doch die Kinder-Notfallambulanz, oder? Man hat mich hier hereingeschickt.“
„Ja, das ist auch richtig“, erklärte Lynne und spürte, wie ihre Hände feucht wurden. Wie lange hatte sie ihn nicht mehr gesehen? Zwölf Jahre? Sie war damals sechzehn gewesen. „Ich helfe hier aus.“
„Aber du bist schon Ärztin?“, rückversicherte er sich mit fragendem Blick.
Lynne senkte verschämt ihren Blick. „Ja. Zumindest steht auf meinem Schild ‚Lynne Cooper M.D.‘“
Er lachte. Herzhaft. Ehrlich. „Wow. Das ist toll. Es freut mich, dass es dir gut geht.“
„Ja“, sagte Lynne gedehnt und nickte dann zu dem kleineren Jungen. „Er sieht dir sehr ähnlich.“
„Ja, nicht wahr? Aber der Große ist das Abbild von Jennifer.“ Er plauderte wie alte Bekannte das für gewöhnlich taten. Nur, dass sie eben mehr als nur Bekannte gewesen waren.
„Was fehlt ihnen denn?“, fragte Lynne und versuchte, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren.
„Ich hoffe, das kannst du uns sagen. Sie haben Schüttelfrost und husten beide.“
„Fieber?“
Dean nickte. „Ja. Mein kleiner Clark noch höher als sein Bruder.“
Lynne begann mit der Routineuntersuchung, hörte die Jungen ab und schaute ihnen in Mund und Ohren. „Ich dachte, du lebst jetzt in…“, sie stockte. Sie wusste es nicht. Hatte es nie erfahren.
„…Europa?“, vollendete er ihren nicht zu Ende gesprochenen Satz.
„Ja.“
Er schüttelte bedauernd den Kopf. „Nein. Ich bin so weit gereist, um auf einem fernen Kontinent zu studieren, und schließlich habe ich dort doch nur eines gefunden: Eine Frau aus Amerika.“ Er lachte, während vor seinem inneren Auge die Erinnerungen noch einmal als Film abzulaufen schienen. „Naja. Sie kommt aus New Orleans, ist das nicht total komisch? Jetzt bin ich also wieder hier gelandet. Im guten, alten Shreveport.“
Sehr komisch. Wirklich. Verzeih, wenn ich nicht vor lauter Komik einen Lachanfall bekomme. Lynne schluckte einen bissigen Kommentar hinunter und konzentrierte sich darauf, den Plastikaufsatz auf das Fieberthermometer zu stecken. Sie stellte sich dabei äußerst ungeschickt an. Momentan war ihr eher nach Heulkrampf zumute.
„Und du? Hast du hier Medizin studiert?“, erkundigte er sich mit ehrlichem Interesse.
Lynne schüttelte den Kopf. „Chicago“, presste sie hervor. Du bist verheiratet? Du hast Kinder? Du bist glücklich?
„Wow“, sagte er anerkennend. „Und am Ende zieht es einen doch immer wieder hierher zurück, nicht wahr? Dein… Mann?“
Wieder schüttelte sie den Kopf. „Meine Arbeit“, verbesserte sie ihn, noch immer kurz angebunden, um nicht zu viel von ihr zu offenbaren. Er brauchte nicht zu wissen, dass sie ihm viele Jahre lang hinterhergetrauert hatte. Ihm war es offensichtlich anders ergangen.
„Und, was fehlt meinen Mäusen?“, fragte er nach einer schweigsamen Pause.
„Es ist gut, dass du hergekommen bist. Der Kleine steht kurz vor einer Lungenentzündung. Ich schreibe ihm etwas auf, aber du solltest morgen trotzdem gleich zu eurem Kinderarzt gehen. Er muss Clarks Zustand kontrollieren. Wenn es schlimmer wird, sollte er in ein Krankenhaus kommen.“
„So schlimm?“ Dean rutschte unsicher auf seinem Stuhl herum.
„Wahrscheinlich ist es morgen schon viel besser“, versuchte Lynne ihn zu beruhigen. „Wenn die Medikamente anschlagen, ist die Sache in wenigen Tagen ausgestanden. Louis benötigt kein Antibiotikum. Ich verschreibe ihm etwas Homöopathisches. Es wäre mir aber trotzdem recht, wenn dein Hausarzt sich auch ihn noch einmal anschaut.“
„Danke“, sagte Dean und nahm die zwei rosafarbenen Rezeptblätter entgegen. Kurz vor dem Hinaustreten hielt er inne und drehte sich noch einmal zu ihr um. „Hey, jetzt wo wir beide wieder hier sind, könntest du uns doch mal besuchen. Ich würde mich sehr freuen. Wir wohnen im Aspen Circle…“
„Ich weiß“, würgte Lynne ihn schnell ab und zeigte erklärend auf die vor ihr liegende Akte. „Ich überlege es mir.“