Читать книгу Über die Toten nur Gutes - Stephanie Carle - Страница 6

Kapitel 3 Kapitel 3

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Montag, 19. Oktober, 5.50 Uhr

Nachdem es mit Prince Charming so gut geklappt hatte, sollte sein zweiter Coup auch keine großen Probleme mit sich bringen. Immerhin hatte er lange recherchiert und genauestens Buch darüber geführt, wann die besten Tage für die einzelnen Hinrichtungen waren. Jetzt war die große Reinemache angesagt und sein Vorhaben wollte er zu Ende bringen, bevor die Polizei ihn stoppte. In seiner Gänze zu Ende bringen: alle vier. Und dann den Feigling. Der war die Krönung.

Dass die Polizei ihn stoppen würde, daran zweifelte er nicht; die Detectives arbeiteten gut und waren ein eingespieltes Team. Doch noch wanderte er unerkannt durch die Straßen des frühmorgendlichen Shreveport. Sonntag war Prince Charmings Tag gewesen. Montag war der Tag von Nummer Zwei und auch für ihn bedurfte es noch einiges an Vorbereitungen.

Montag, 19. Oktober, 6.20 Uhr

Auch nachdem Lynne sich bei ihrem Kuschelkater Jerry ausgeheult hatte, hatte sie keinen Schlaf finden können. Die ganze Nacht hindurch hatte sie sich von einer Seite auf die andere gewälzt und sich gefragt, wieso er Frau und Kinder hatte. War er so schnell über sie und die ganze Sache hinweggekommen? Hatte sie einfach so hinter sich gelassen? Vergessen?

Warum bist du zurückgekommen, Dean? Diese Frage beschäftigte sie auch noch als sie die Stufen zur Rechtsmedizin hinunterging und das zu einer Uhrzeit, zu der nicht nur die Toten noch schliefen. Da Captain Conrad Harper, Leiter der Ermittlungsabteilung für Kapitalverbrechen am Shreveport Police Department, bereits um fünf Uhr auf ihrem Handy angerufen und sie gebeten hatte, wegen eines außerordentlich wichtigen neuen Falls heute früher anzufangen, hatte Lynne immerhin diese dringliche Aufgabe als Vorwand für ihr frühzeitiges Aufstehen und konnte somit vor sich selbst rechtfertigen, dass sie wieder einmal bewusste Überstunden herbeiführte.

Der typisch sterile und ein wenig gewöhnungsbedürftige Geruch einer rechtsmedizinischen Einrichtung begrüßte sie bereits bevor sie die Tür zu den eigentlichen Obduktionsräumen aufgeschlossen hatte. Sie war schon bald nach ihrer Einstellung zur Leiterin aufgestiegen. Dr. Sutton, ein alter Kerl mit übelstem Humor, war zu dem Zeitpunkt bereits weit über siebzig gewesen und in den erzwungenen Ruhestand geschickt worden, wo er wenige Monate später verstarb. Lynne seufzte. Wahrscheinlich würde es ihr irgendwann genauso gehen. Seit sie hier war, lebte sie nur für ihre Arbeit.

Als das Licht mit einem leisen Surren des Bewegungsmelders anging, stellte Lynne zufrieden fest, dass man die Leiche bereits hergebracht hatte. Ein neuer Tag, neue Arbeit und hier sollte Dean doch nicht auftauchen.

Nachdem sie sich zwei Paar Latex-Handschuhe übergestreift und das Diktiergerät auf Funktionsfähigkeit überprüft und schließlich angestellt hatte, zog Lynne den Reißverschluss des schwarzen Sacks auf, schlug ihn zur Seite und erstarrte. Diese Augen! Sie würde sie nie vergessen.

Wankend wich sie einige Schritte vor dem Leichnam zurück, als könnte der Mann plötzlich zum Leben erwachen, herausspringen und… Reiß dich zusammen!, rügte sie sich, schloss die Augen und zwang ihren Atem wieder in ruhigere Bahnen. Nachdem sie sicher war, dass sie sich wieder unter Kontrolle hatte, ging sie zurück zum Obduktionstisch, um sich noch einmal zu vergewissern, dass ihr müdes Gehirn ihr nicht nur einen Streich gespielt hatte. Nein, er war es, zweifellos. „Percy Chesterway“, murmelte sie gedankenverloren. „Hast du also endlich gekriegt, was du verdienst.“

Erst nachdem sie die Worte ausgesprochen hatte, wurde ihr blitzartig bewusst, dass das Aufnahmegerät lief und sie griff sofort danach, um die gerade neu angelegte Datei zu löschen. Was machte sie eigentlich? Er war eine Leiche wie jede andere und es war ihre Aufgabe, nach der Todesursache und möglichen Hinweisen auf den Verursacher zu suchen, nicht über die Tat oder den verstorbenen Menschen zu richten! De mortuis nil nisi bene, belehrte sie sich selbst in Erinnerung an die Lateinvorlesungen während ihres Studiums. Und wenn ihr über diesen Toten nunmal nichts Gutes einfiel, dann sollte sie besser schweigen.

Lynne startete das Aufnahmegerät also noch einmal von neuem und machte sich endlich an die Arbeit.

Jemand schien in der Tat wütend auf den gutaussehenden, erfolgreichen Politiker gewesen zu sein. In vier Schussverletzungen fand sie Kugeln, die sie als 9mm identifizierte. Der zeitlich letzte Schuss in den Kopf stellte die Todesursache dar. Was sie unter den Fingernägeln herauskratzte, verpackte sie in Tüten, um sie ins Labor zu schicken. Ebenso die Kugeln, jede einzeln eingetütet mit der Aufschrift der jeweiligen Eintrittswunde. Während ihre Hände zu Beginn der Obduktion noch stark gezittert hatten, war sie nun glücklicherweise ganz in ihre Routine verfallen und wenn sie es mied, dem toten Mann ins Gesicht zu sehen, dann war er einfach wie jeder andere Tote auch.

Montag, 19. Oktober, 14.00 Uhr

Es tat gut nach aufmerksamer Präzisionsarbeit mehrerer konzentrierter Stunden wieder lebendige und lebensfrohe Menschen zu treffen. Nachdem Lynne die kompletten Obduktionsergebnisse vorliegen, sortiert und in Zusammenhang gebracht hatte, war sie auch wieder in der Lage, den Detectives gegenüber zu treten und ihnen Rede und Antwort zu stehen. Wie sie gehofft hatte, waren es Marc und Adrian, die ihr einen Besuch abstatteten und langsam glaubte sie wirklich daran, dass Marc sich ein ganz klein wenig darum riss, diesen Job zu übernehmen, obwohl er sich immer wie ein quengelndes Kind anstellte, wenn er längere Zeit in den geschlossenen Räumen der Rechtsmedizin zubrachte.

„Hey Lynne, Hübsche, was hast du für uns?“, grüßte Adrian fröhlich. Seit er in festen Händen war, war er viel charmanter und deutlich ausgeglichener als zuvor.

„Eine ganze Menge“, sagte sie. „Hallo erstmal.“ Sie küsste Adrian zur Begrüßung auf die Wange. Weil Samantha sie gebeten hatte, ihre Seminararbeiten auf Rechtschreibung und Inhalt zu prüfen, hatte Lynne schon manchen Abend bei ihr zugebracht und es war irgendwie schön, sich mit Adrian auch über Themen außerhalb der Arbeit zu unterhalten. Lynne hatte, abgesehen von den freiwillig erzwungenen Zusatzkursen, in denen sie sich für das Wahlfach Kunstgeschichte entschieden hatte, nicht viel Ahnung von der Materie, mit der Samantha tagtäglich zu tun hatte, doch sie hatte sich dennoch geschmeichelt gefühlt, dass Samantha ihr so viel Vertrauen entgegenbrachte. Mittlerweile waren sie beinahe Freundinnen; zumindest etwas, das über einfache Bekanntschaft hinausging. „Hi Marc.“

„Kriegt der etwa kein Küsschen?“, fragte Adrian keck. „Er konnte es kaum abwarten, hierher zu kommen.“

„Glover, merkst du nicht, dass du nervst?“, blaffte Marc ihn an. Seine Laune schien exponentiell zu Adrians aufsteigender Laune zu fallen. „Hi Lynne, lange nicht gesehen. Also, was hast du für uns?“

Er schenkte ihr nicht einmal einen flüchtigen Blick. Dann war er wirklich übel gelaunt. Im Grunde war es ja auch egal. Marc war verlobt, das war kein Geheimnis, und mit seiner Liebsten Carla war er viele Jahre zusammen. Schon als Lynne hier vor knapp vier Jahren angefangen hatte, waren sie ein Paar gewesen und wirkten nicht wie Frischverliebte. Darüber hinaus war Dean wieder in der Stadt und Percy tot auf ihrem Obduktionstisch – es brauchte momentan wirklich nicht noch mehr Männer in ihrem Leben.

„Also, der Kerl ist tot“, begann sie schließlich und ging um die Leiche herum, um den Monitor an der Wand einzuschalten, auf dem sie den Detectives Vergrößerungen und sonstige Auffälligkeiten zeigen konnte, von denen sie zuvor Aufnahmen gemacht hatte und die an der Leiche direkt nur schwer zu erkennen waren. „Sauberer Schuss in den Kopf. Ich gehe davon aus, dass ihr es mit einem Profi zu tun habt. Zumindest ist er in irgendeiner Weise an der Waffe ausgebildet. Jeder einzelne Schuss ist derart platziert. Er muss also auch genau wissen, wo es wehtut und was seine Verletzungen zur Folge haben.“

„So in der Art hat es Tom auch dargestellt.“

„Tom?“, fragte Lynne.

„Tom Bishop“, erklärte Adrian. „Weißer Raumanzug… SpuSi?“

Lynne nickte. Sie kannte den Leiter der Spurensicherung flüchtig.

„Sieht für mich nach einer Hinrichtung aus“, fuhr Adrian fort.

„Ja, das dachte ich mir auch“, stimmte Lynne zu. „Erst die Schüsse an Stellen, die wehtun, aber nicht unmittelbar zum Tod führen, und dann ein platzierter.“

„Bitte, sag mir, dass das da“, Marc zeigte auf die Stelle, an der normalerweise das Geschlechtsorgan des Mannes hätte sein müssen, „post-mortem geschehen ist…“

Lynne senkte den Blick. Sie hatte das Loch, welches anstelle des Penis zu sehen war, gesäubert und auf Spuren überprüft. Aus der Wunde war so viel Blut ausgetreten, dass das Herz zum Zeitpunkt der Gewalteinwirkung sehr schnell geschlagen hatte und der junge Percy noch quicklebendig gewesen war.

Marc deutete ihr zögerndes Schweigen korrekt. „Scheiße“, kommentierte er die Erkenntnis und Lynne sah in den betroffenen Gesichtern der Männer, dass sie sich eine andere Aussage erwünscht hätten.

Aber er hat es verdient, lag ihr auf der Zunge, doch die weise Stimme, die ihr wieder nil nisi bene ins Ohr flüsterte, hielt sie davon ab, ihre Gedanken laut auszusprechen. „Seine Identität ist euch wahrscheinlich bereits bekannt“, fuhr sie stattdessen fort und die Jungs nickten im Einklang. „Unter seinen Fingernägeln fand ich Spuren mit der DNA, die eindeutig auf ihn selbst zurückgeht. Ich nehme an, sie stammt von dem Blut, während er sich die Wunden zugehalten hat. Ansonsten hatte er immerhin 0,9 Promille Alkohol im Blut und seine zerstörte Nasenschleimhaut und die abgebrannten Härchen deuten auf eine nicht allzu unregelmäßige Koksgewohnheit hin.“

„Manchmal kannst du wirklich eklig sein“, warf Adrian ein. „Gut, dass ich nicht deinen Job machen muss. Anderen in der Nase popeln, das ist echt widerlich!“

„Anderen in den Arsch kriechen auch“, warf Marc mit einem Seitenblick auf seinen Partner ein.

Lynne hob die Brauen. Zwischen den beiden schien dicke Luft zu herrschen.

„Wie meinst du das?“, fragte Adrian scharf zurück.

Marc sprach mit künstlich verstellter Stimme: „Ich schlage vor, Sie nehmen Ihren Sohn, wir rufen Ihnen ein Taxi und Sie fahren zu Ihrer Mutter nach Minden. Ich halte es für das Beste für Sie und Ihren Sohn, wenn Sie in dieser furchtbaren Situation nicht alleine sind.“

Adrian wirkte zunächst ehrlich verblüfft, dann nickte er jedoch und sagte: „Du bist doch nur sauer wegen dem, was ich über Carla gesagt habe. Und nicht, weil ich es gesagt habe, sondern weil du genau weißt, dass ich Recht habe.“

Die Männer lieferten sich ein stilles Blickduell, bis Lynne sich schließlich zu Wort meldete: „Hallo Jungs, ich kann euch hören! Ich bin noch da!“

Sie fuhren abrupt zu ihr herum. Lynne verdrehte die Augen. „Männer“, schimpfte sie. „Und ihr sagt, Frauen seien zickig… Hier“, sie drückte Marc einen Stapel gedruckter Seiten und einen Stick mit der gesprochenen Aufnahme in die Hand. „Da könnt ihr euch alles durchlesen, was ich herausgefunden habe. Ich mache nämlich jetzt Feierabend, denn ich habe keine Lust darauf, live mitzuerleben, wie gleich einer von euch auf meinem Obduktionstisch landet.“ Das war ein glatter Rauswurf, aber sie hatten es auch verdient. Außerdem stand es mit Lynnes Geduld nicht zum Besten und auf Grund der durchwachten Nacht sehnte sich nach nichts sehnlicher als nach Schlaf in ihrem Bett.

Marc klappte der Kiefer herunter, doch er brachte kein Wort heraus. Stattdessen entschuldigte sich Adrian mit einem leisen ‚Sorry‘ und tippte Marc dann an die Schulter. „Los Mann, Conrad wünscht sich die Ergebnisse bis zum Meeting und bis dahin bleiben uns nicht mal eineinhalb Stunden diese Seiten durchzulesen.“

Montag, 19. Oktober, 14.45 Uhr

„Was sollte denn das gerade da drinnen? Bist du komplett bescheuert?“, herrschte Adrian ihn an, während er sich auf die Fahrerseite drängte.

Marc platzierte die Unterlagen auf dem Rücksitz und ließ sich ohne Widerrede auf dem Beifahrersitz nieder. „Willst du jetzt etwa eine Entschuldigung?“, brummte er ohne aufzusehen. Er wusste, dass Adrian ihm nichts getan hatte und dass sein Partner vollkommen ins Schwarze getroffen hatte, und gerade diese Erkenntnis nervte ihn und steigerte seine Wut ins Unermessliche. Seine Wut auf… sich selbst. Ja, vielleicht neidete er Adrian dieses Glück doch ein wenig. Aber nicht, weil Adrian es hatte und er nicht; sondern weil Adrian den Mumm hatte, zu warten, bis er der Richtigen begegnete. Mit anderen Worten, sein Leben war scheiße, er verlor sich in Selbstmitleid, welches er unfairerweise an seinem besten Freund ausließ und wusste dabei so sicher wie das ‚Amen‘ in der Kirche, dass er aus eigener Initiative nichts an seiner Situation ändern würde.

„Ach, fick dich doch, Marc“, sagte Adrian und er sagte das nicht oft. „Wenn du ein Problem mit mir hast, dann lass es nicht an Lynne aus. Und wenn du ein Problem mit dir hast, dann lass es verflucht nochmal nicht an mir aus!“

Die restliche Fahrt verbrachten sie schweigend.

Montag, 19. Oktober, 16.00 Uhr

Wie zu erwarten war, eröffnete Captain Conrad Harper das Meeting mit äußerst schlechter Laune. Wenigstens war es im Besprechungszimmer – ein starker Euphemismus für Abstellkammer – jetzt nicht mehr so heiß, wie es die Sommermonate über der Fall gewesen war. Trotzdem krempelte Marc sich die Ärmel seines Langarmshirts hoch, bevor er sich zwischen Adrian und Grace Packet auf seinem Stuhl niederließ. Es tröstete ihn, dass er nicht der einzige mit schlechter Laune war.

„Kein großes Blabla“, begann Harper zähneknirschend. „Wir wissen alle, worum es geht: Irgendein krankes Schwein hat den beliebtesten Politiker dieses Bundesstaates abgemurkst und jetzt haben wir die Scheiß-Journalisten an der Backe. Also, wer will zuerst? Tom?“

Obwohl Tom Bishop sonst immer als erster das Wort erhielt, weil er sich nach dem zusammenfassenden Bericht der Spurensicherungsergebnisse meistens wieder verzog, zuckte er erschrocken zusammen, als der Captain seinen Namen so energisch nannte. „Äh, ja“, sagte er und klaubte ungeschickt seine Unterlagen zusammen. „Wie ihr euch wahrscheinlich denken könnt…“

„Können wir“, unterbrach ihn Harper. „Fass dich kurz, Bishop!“

„… hat der Täter keine eindeutigen DNA-Spuren hinterlassen“, ließ Tom dennoch seinen angefangenen Satz auslaufen. „Also, dann eben nur die Dinge, die euch wirklich interessieren.“ Er blätterte einige Seiten um und legte sie zur Seite. „Es gibt keine Anzeichen von gewaltsamem Eindringen. Der Täter ist einfach so hinein und wieder hinaus spaziert.“

„Chesterway hat seinen Mörder also gekannt“, brachte Hope die Aussage auf den Punkt.

„Vielleicht war er sogar mit ihm verheiratet“, stellte Marc mit einem Seitenblick auf seinen Partner seine Vermutung in den Raum.

„Die Vermutung liegt nahe“, sagte Tom. „Also, Hopes Vermutung, nicht deine, Blondie.“ Marc bedachte ihn mit einem vernichtenden Blick, woraufhin Tom eilends fortfuhr. „An der Stereolage sind nur seine und die Fingerabdrücke eines nahen Verwandten… Wir gehen davon aus, dass es sich hierbei um seinen Sohn handelt. Ansonsten…“ Er blätterte wild durch die mittlerweile kreuz und quer verteilten computergetippten Seiten.

„Ansonsten habt ihr nichts, richtig?“, unterbrach Harper.

„Naja, jedenfalls nichts, was euch spontan weiterhelfen könnte“, grummelte Tom. „Ich lass euch den Bericht da, dann könnt ihr euch selbst in die Lektüre vertiefen.“

„Sortier aber bloß die Seiten in die richtige Reihenfolge“, meldete sich Bertram brummelnd zu Wort.

„Hat Lynne mehr für uns?“, fragte Harper und gab das Wort damit an Adrian und Marc weiter.

„Prince Charming wurde gefoltert und hingerichtet“, fasste Adrian Lynnes Aussage zusammen. „Und unser Politiker bediente sich wohl gern etwas über den Durst hinaus an seiner schicken Privatbar und vermutlich war auch Koks im Spiel. Ansonsten verweise ich auch auf den Bericht und das äußerst interessante Tonband mit Videoaufnahmen der Obduktion auf diesem Stick. Übrigens, alles in korrekter Reihenfolge“, fügte er grinsend hinzu.

Harper seufzte. „Ich wünschte, die anderen würden uns einmal hilfreichere Ergebnisse liefern. Sind wir hier eigentlich die einzigen, die ihren Job machen? Wozu brauchen wir die Spurensicherung und die Rechtsmedizin, wenn sie sowieso nie hilfreiche Details aufdecken. Werfen wir sie raus und erhöhen dafür das Gehalt der Ermittlerabteilung.“

„Ich bin dann mal weg“, flüsterte Tom und machte sich eilends aus dem Staub.

Der Captain verdrehte die Augen. „Manchmal wünschte ich, ich wäre zu CSI ins Fernsehen gegangen… Bertram, irgendwelche Vorstrafenregister?“

„Der Kerl scheint sauber, Sir. Es gibt keine offiziellen Eintragungen. Nicht mal ein Strafzettel.“

„Keine Trunkenheit am Steuer?“, schaltete Marc sich ein.

Bertram schüttelte den Kopf. Worte waren definitiv nicht seine Stärke.

„In Ordnung. Also, fassen wir zusammen.“ Harper erhob sich und steuerte auf das Memo-Board zu, auf welchem er stets die wichtigsten Fakten festhielt. Leider mit einer echten Sauklaue, so dass man die Worte nur entziffern konnte, wenn man zuvor gehört hatte, was er aufschrieb. Das konnte ein gewisser Vorteil sein, sollte irgendwann einmal ein Täter hier einbrechen, er hätte keinen blassen Schimmer, wie weit die Ermittlungen bereits fortgeschritten waren. Marc musste über seinen absurden Gedankengang grinsen.

Conrad Harper schrieb den Namen ‚Percival Arthur Chesterway‘ als Überschrift auf die erste Seite des Memo-Boards. Darunter hielt er Stichpunkte fest, die ihm wichtig erschienen: ‚Prince Charming‘, ‚Politiker‘, ‚beliebt (?)‘. „Okay, short check: Wir gehen derzeit von einer persönlich motivierten Hinrichtung aus. Also, wer kommt als Verdächtiger in Frage und wie lautet das jeweilige Motiv?“

„Eifersucht“, sprudelte es spontan aus Marc heraus. „Täter: Mrs. Chesterway. Ich meine, durch welches andere Motiv bedingt, beraubt man einen Mann seiner Männlichkeit?“

„Das scheint auf den ersten Blick der naheliegendste Punkt“, räumte Grace ein. „Aber wir haben keinerlei Hinweise darauf, dass Prince Charming fremdgegangen ist und seine Frau Grund zur Eifersucht hatte. Chesterway war ein bekannter Politiker, er hatte ganz bestimmt Feinde. Vielleicht ist das Abschneiden des Penis ja nur Ablenkungsmanöver und soll uns auf eine falsche Fährte locken.“

Marc zuckte die Schultern.

„Feinde in der Politik hatte er genug“, meldete sich Hope zu Wort. Wie immer hatte sie im Internet ausführlich recherchiert. „Zum einen könnte ich seinen direkten Rivalen nennen: Earl Baker. Er ist seit elf Jahren in Folge zum Vorsitzenden der Demokratischen Partei von Louisiana gewählt worden, aber seit Chesterway an der Spitze der Republikaner steht, sind laut Umfragen die Sympathien deutlich zugunsten der Republikaner gewachsen. Es geht immer um die Delegation im Representantenhaus, wo wir derzeit fünf Republikaner und nur einen Demokraten haben. Während unsere Hauptstadt Baton Rouge und unsere größte Stadt New Orleans Zentren des demokratischen Liberalismus sind, kehrt Shreveport immer mehr zurück zu den guten, konservativen Republikanerwurzeln.“

„Mein Gott, Hope, Goody Earl könnte doch keiner Fliege etwas zu Leide tun“, warf Conrad mit väterlichem Tadel ein.

„Du hast nach möglichen Verdächtigen gefragt und die liefere ich dir hier gerade“, wies Hope ihn streng zurecht. Harper hob abwehrend die Hände. „Danach kannst du immer noch entscheiden, wen du ins engere Verhör nehmen willst. Zweiter auf meiner Liste ist Harry Meyer. Im Gegensatz zu Earl Baker lebt er hier in Shreveport und leitet das hiesige Parteibüro der Demokraten. Er ist also ebenfalls ein direkter Konkurrent unseres Opfers. Da wir seit kurzem statt der bisher üblichen zehn nur noch acht Wahlmänner ernennen, könnte er um seine Wiederwahl gefürchtet haben… Der dritte Mann, der mir in Bezug auf mögliche Neider in den Sinn kam, ist Thomas Rack, zweiter Vorsitzender des hier ansässigen Republikanervereins, der immer zweite hinter Prince Charming, der ewige Verlierer. Seine Ambitionen, endlich einmal der Erste zu sein, könnten ihn zu einer leidenschaftlichen Tat hingerissen haben: Indem er Chesterway entmannt, nimmt er ihm sozusagen die Macht, über ihm zu stehen. Sorry Captain, ich weiß, Profilerscheiße…“

Harper schüttelte hastig den Kopf. „Ich werde dich nicht mehr unterbrechen, Süße“, erklärte er mit respektvoller Stimme.

„Mitschreiben hättest du trotzdem können“, überging Hope seine Neckerei und legte ihm ihr handgeschriebenes Notizblatt vor die Nase. „Hier, dann machst du auch keine Schreibfehler.“

„Die sowieso keinem auffallen würden, weil man Conrads Schrift einfach nicht lesen kann…“, erheiterte Adrian das Team durch seinen spontanen Einwurf.

Captain Harper zeigte mit dem Stift auf den Aufrührer. „Ich habe schreiben gelernt“, sagte er, „lernt ihr lesen.“

„Wenn wir davon ausgehen, dass es einer dieser Politikerfreunde war“, überlegte Marc laut, „dann wird er die Tat wohl kaum selbst verübt haben. Die Folter aber ist eindeutig leidenschaftlicher Natur. Angenommen einer deiner politischen Führer hätte ein leidenschaftliches Interesse am Tod unseres Opfers, würde er doch nicht selbst in das gut bewachte Haus spazieren, während ihm die Presseleute von halb Louisiana auf Schritt und Tritt folgen und sich einfach so die Zeit nehmen, seinen Rivalen noch anständig zu quälen, bevor er ihn erschießt. Also, mir scheint das nicht logisch.“

„Du willst, dass es seine Frau war, richtig?“, fragte Adrian.

„Ich will uns nur vor unnötiger Arbeit und gierigen Journalisten bewahren, die alles in den falschen Hals kriegen, übereilte Schlüsse ziehen und am Ende das gesamte Ausmaß der Korruption unserer geschätzten Politiker aufdecken“, rechtfertigte sich Marc.

„Im Prinzip könnte es doch jeder Republikaner gewesen sein, der eine Aussage Chesterways in den falschen Hals bekommen hat, und genauso gut jeder Demokrat, der ihn aus dem Weg räumen wollte. Im Prinzip kommt also jeder mündige Bürger dieser Stadt in Frage“, fasste Grace das Nichtvorhandensein näherer Informationen zusammen.

„Das hört sich vernichtend an, aber im Prinzip trifft es das“, stimmte Harper ihr zu.

„Also ich finde, wir sollten uns auf einzelne Personen konzentrieren“, schlug Hope vor. „Ich halte die Theorie mit der Ehefrau auch für am wahrscheinlichsten. Jedenfalls zum momentanen Zeitpunkt der Ermittlungen. Doch dann bräuchten wir Hinweise darauf, dass Prince Charming auch zu anderen Frauen charming war, wenn ihr versteht, was ich meine… Ihr seid Männer, ihr versteht genau, was ich meine“, beantwortete sie sich selbst ihre Frage.

„Also sollten wir Leute befragen, die ihm nahestehen?“, fragte Grace.

„Nicht unbedingt…“, Marc schüttelte den Kopf. „Wenn er nicht wollte, dass seine Frau von seinen Affären Wind bekommt, dann ist es wohl eher unwahrscheinlich, dass wir in seinem nächsten Freundeskreis etwas erfahren, da dieser ja auch Mrs. Chesterway offenstand. Es wäre geschickter, sich bei seiner täglichen Arbeitsstelle umzuhören. Wie hieß der Typ vom hiesigen Parteibüro nochmal? Der ewige Verlierer?“

„Thomas Rack“, kam es von Hope wie aus der Pistole geschossen und Marc verstand. Die gutaussehende Detective hatte es wirklich faustdick hinter den Ohren. Während sie ihm Honig ums Maul schmierte, tappte er genau in ihre Falle; denn jetzt war es seine Idee gewesen, ihren Verdächtigen unter die Lupe zu nehmen und dabei glaubte er auch noch, dass er es seinen geschickten Überlegungen zu verdanken hatte, dass sie sich mit dem Typen unterhielten. Hope war eine taktische Planerin mit ausgezeichneter Menschenkenntnis. Das war wohl auch der Grund, warum Harper sie vom ersten Tag an als seine Nachfolgerin auserkoren hatte.

„Also gut. Setzen wir da an“, zeigte Harper sich mit den Vorschlägen seines Teams einverstanden. „Hope und Grace fahren noch einmal zu Mrs. Chesterway, denn ich denke, sie fühlt sich Frauen gegenüber verstandener. Team AM stattet unserem ewigen Verlierer Thomas Rack einen Besuch ab; vielleicht zeigt er sich ja gesprächsbereit, wenn ihr ihm verklickert, dass er in irgendeiner Weise auf unserer Liste der Verdächtigen gelandet ist. Bertram, ich möchte gerichtliche Anordnungen, die uns das Durchsuchen der Immobilien von Prince Charming ermöglichen. Ich bin mir sicher, sein Anwesen am Lakeshore Drive ist nicht sein einziger Besitz. Besorg mir eine Liste, vielleicht findest du etwas, das er für sich privat genutzt hat… Ein Hausboot oder so. Keine Ahnung… Lass es relativ offen. Lass deine Beziehungen spielen. Ich persönlich werde den Eltern unseres Spitzenpolitikers mein tief empfundenes Beileid aussprechen. Vielleicht kann ich von ihnen etwas erfahren, das uns weiterbringt. Morgen früh, acht Uhr Rapport. Und zwar pünktlich!“

„Aye Captain“, schallte es wie aus einem Munde.

Montag, 19. Oktober, 18.15 Uhr

„Wow, schon nach sechs und hier arbeiten sie tatsächlich noch. Und da sagt noch jemand, Politiker würden nur fürs Reden bezahlt“, sagte Adrian mit einem anerkennenden Nicken zu dem grauen Gebäude, in welchem die Republikaner Shreveports ihren Sitz hatten. Obwohl das Parteibüro nur knappe 15 Meilen entfernt lag, hatten sie über eine Stunde gebraucht, um sich durch den Feierabendverkehr hierher zu quälen.

Marc war verschwitzt, fühlte sich aber auch wegen der ungeklärten Sache mit Adrian unwohl. Dieser schien einfach darüber hinweg zu gehen, unterhielt sich ganz normal und hatte kein weiteres Wort mehr über ihre Auseinandersetzung verloren. Kurzum, er tat seinen Job, während Marc noch immer damit beschäftigt war, sich selbst zu bemitleiden.

Marc benötigte noch einige Sekunden, um sich zu sammeln. Reiß dich zusammen, Mann. Du hast hier einen Job zu erledigen! Schließlich seufzte er, stieg aus und folgte Adrian durch die Eingangstür. In der Empfangshalle war sogar die Information noch besetzt und die freundliche Blondine mit dem knallroten Lippenstift schickte die Detectives in den dritten Stock, nachdem sie ihren Besuch in einem kurzen Telefonat mit Mr. Thomas Rack angekündigt hatte.

Während sie mit dem uralten Aufzug gemächlich nach oben fuhren, fasste Marc sich schließlich ein Herz und entschuldigte sich bei Adrian. „Ich lad dich nach Feierabend auf ein Bierchen ein“, sagte er versöhnlich.

Adrian zuckte die Schultern. „Von mir aus“, sagte er. „Sam hat heute sowieso ihren langen Tag an der Uni. Also, wozu den Abend allein verbringen? Machen wir einen drauf.“ Er strahlte und seine gute Laune war tatsächlich ansteckend. Vielleicht lag es auch an der Tatsache, dass Marc über seinen eigenen Schatten gesprungen war, auf jeden Fall fühlte er sich bedeutend besser.

Thomas Rack erwartete sie bereits mit geöffneter Bürotür und begrüßte sie mit festem Händedruck. Er bekundete sein Bedauern über den Verlust seines Parteifreundes, machte aber ebenso deutlich, dass das Leben weiterginge und die Demokraten bestimmt nicht ihre Arbeit niederlegten. Dann erst bot er ihnen an, sich zu setzen.

„Wie würden Sie Ihr Verhältnis zu Mr. Chesterway beschreiben?“, begann Adrian mit den Standardfragen des üblichen Prozedere.

Rack machte eine ausladende Geste. „Wir waren wie Brüder“, sagte er und Marc hätte sich beinahe am offensichtlichen Lügentonfall seines Gegenübers verschluckt. Stattdessen räusperte er sich und nahm eine neue Sitzposition ein. „Brüder im Geiste, versteht sich.“

„Selbstverständlich“, nickte Adrian. „Wir nehmen an, Sie wissen, dass Chesterway ermordet wurde?“

„Eine grauenvolle Sache, in der Tat“, bestätigte Rack. „Mrs. Chesterway hat mich gleich heute Morgen informiert.“

„Mrs. Chesterway?“, hakte Marc nach. Plötzlich war er ganz Ohr.

Thomas Rack strich seine Krawatte glatt. „Ja“, sagte er mit unsicherem Blick von einem zum anderen. „Wie gesagt, die Arbeit darf nicht ruhen, denn die Demokraten sind hellwach und schlafen nicht. In der Politik ist es wie im Theater: The Show must go on.“

„Will heißen?“, ließ Marc nicht locker.

„Jemand musste das Fernsehinterview übernehmen, nachdem Percy ausfiel.“

„Wie praktisch.“

„Mr. Rack, wo waren Sie am Sonntag zwischen 19 und 23 Uhr?“, brachte Adrian es schließlich auf den Punkt.

Dem unerschütterlich positiven Politiker fielen beinahe die Augen aus dem Kopf. „Sie meinen… Wollen Sie damit etwa andeuten, dass ich… Also, das… das ist doch wohl nicht zu fassen!“

„Wir wollen gar nichts“, fiel Adrian ihm ins Wort. „Bitte, beantworten Sie einfach meine Frage und glauben Sie mir, das ist reine Routine, wir müssen diese Frage jedem stellen. Sehen Sie nie Krimis im Fernsehen?“

Thomas Rack schluckte, wirkte aber nicht mehr ganz so erschüttert. „Ich war hier“, erklärte er schließlich und zupfte wieder an seiner Krawatte. „Sie können Ms. Lindt von der Information unten fragen. Sie kann das bestätigen. Da ich nämlich durchaus hin und wieder Krimis sehe, weiß ich, dass Ihre nächste Frage auf ein vorhandenes Alibi abzielt.“

Marc grinste. „Jetzt weiß ich, warum Sie in die Politik gegangen sind“, sagte er spitz.

„War’s das dann?“, erkundigte sich Rack ungeduldig. „Ich habe noch etwas zu erledigen.“ Er machte eine ausschweifende Geste über die Papierstapel auf seinem Schreibtisch hinweg.

„Nur noch eins“, sagte Marc, „Warum haben Sie Percy umgebracht?“

„Wie bitte?“ Racks Gesicht lief purpurrot an und seine Nasenflügel bebten. „Ich – habe – mit – der – Sache – nichts – zu – tun!“, brüllte er. „Ich habe ein Alibi! Außerdem würde ich einem anderen Mann niemals sein bestes Stück abschneiden! Wie krank ist allein die Vorstellung? Glauben Sie mir, ich habe nicht den geringsten Grund, einem anderen Kerl den Schwanz abzutrennen! Vielleicht sollten Sie lieber eine seiner zahlreichen Geliebten fragen, bei denen er eben diesen Schwanz regelmäßig reingesteckt hat!“

Marc zuckte beiläufig die Schultern. „Also ich habe dieses Detail nicht erwähnt“, warf er ein. „Du, Partner?“ Adrian schüttelte vielsagend den Kopf. „Nun, dann hat Ihnen das vielleicht auch Mrs. Chesterway am Telefon berichtet?“

Rack atmete laut ein und aus und man konnte deutlich sehen, dass er sich sehr zusammenreißen musste, um nicht die Beherrschung zu verlieren. „Wenn ich Sie jetzt bitten dürfte zu gehen. Ich habe nichts mehr zu sagen. Wenn Sie noch weitere Fragen haben, laden Sie mich bitte vor und machen das unter Anwesenheit meiner Anwälte. Guten Tag, Detectives.“ Mit diesen Worten erhob er sich und öffnete ihnen als Zeichen des Rausschmisses die Tür auf.

„Mr. Rack“, verabschiedete sich Adrian mit einer galanten Andeutung eines Grußes. Dann verließen sie das Büro.

„Denkst du, was ich denke?“, fragte Marc.

„Dass Blondie von der Information unten eine dieser ‚zahlreichen Geliebten‘ ist?“, fragte Adrian zurück.

Marc zwinkerte. „Exactly! Aber ihr Name ist Ms. Lindt, um politisch korrekt zu bleiben.“

Adrians Antwort war ein breites Grinsen.

Ms. Lindt war gerade dabei mit Hilfe eines strassbesetzten Handspiegels ihren ohnehin viel zu aufdringlichen roten Lippenstift nachzufahren. Marc räusperte sich. Die junge Frau klappte den Spiegel zu, presste ihre Lippen aufeinander, um die Farbe gleichmäßig zu verteilen und warf die blonden Haare zurück. Dann erst blickte sie auf. „Detective…“, sagte sie mit einem übertriebenen Lächeln. „Sie müssen sich nicht bei mir abmelden.“

„In der Tat hätten wir noch ein paar Fragen an Sie, bevor wir uns abmelden“, erklärte Marc und stützte sich auf den thekenähnlichen Empfangstresen. Ein anderes Licht, ein anderes Ambiente und ein anderes Publikum und die Lady ginge locker als Gogo-Tänzerin durch.

„Ich kannte Mr. Chesterway kaum, falls es darum geht“, sagte Ms. Lindt vorschnell.

Marc grinste freundlich. „Seltsam, Mr. Rack hat uns da gerade etwas anderes erzählt.“

„Mr. Rack“, erwiderte sie betont, „erzählt viel. Ich arbeite hier erst seit geraumer Zeit und Mr. Chesterway gab sich nicht sonderlich mit einfachen Sekretärinnen ab. Dazu war er viel zu beschäftigt.“

„Wieder seltsam“, sagte Marc. „Rack informierte uns, dass Chesterway sich sogar sehr gern mit seinen Sekretärinnen abgab. Und eher mit ihnen als mit sonstiger Arbeit beschäftigt war…“

„Hören Sie, Detective, ich weiß, worauf Sie hinauswollen, aber diese indirekten Andeutungen können Sie sich sparen. Sie wollen Klartext? Ich hatte keine Affäre und auch kein Verhältnis mit Mr. Chesterway und selbst wenn es so gewesen wäre, hätte er sicherlich vorher eine Verschwiegenheitserklärung von mir verlangt.“

„Also hatten Sie Sex, dürfen das aber nicht in der Öffentlichkeit ausplaudern?“, folgerte Marc.

„Sicher schwer für eine Frau wie Sie“, warf Adrian ein.

Ms. Lindt fixierte ihn mit zusammengekniffenen Augen. „Was wollen Sie damit sagen?“, fragte sie.

Adrian zuckte gleichgültig die Achseln. „Naja, Sie sind klug und gutaussehend. Der Sekretärinnenjob hier im Empfang kann Ihnen doch nicht genug sein. Ich bin mir sicher, Sie haben Ambitionen berufsmäßig höher zu steigen. Da könnte doch ein Verhältnis mit dem Chef dieses Ladens unter Umständen von Vorteil sein.“

„Glauben Sie doch, was Sie wollen“, fauchte sie und schob dabei kampflustig das Kinn vor. „Mr. Chesterway war ein aufrichtiger Politiker und ein treuer Ehemann und liebender Vater.“

Marc hob fragend die Augenbrauen. „Da Ihre erste Aussage einen Widerspruch in sich darstellt, frage ich mich, wie ich Ihre zweite Aussage bewerten soll.“

Jetzt war Ms. Lindt offenbar richtig wütend. Sie spitzte ihre roten Lippen und blähte die Nasenflügel. Schließlich sagte sie betont langsam: „Was sind denn nun genau Ihre Fragen, Detectives? Zuhause wartet mein Freund auf sein Abendessen.“

„Wir hätten gerne gewusst, wo Sie am Sonntag zwischen 19 und 23 Uhr waren“, sagte Adrian sachlich.

„Ich war hier“, antwortete sie wie aus der Pistole geschossen. „Mr. Rack kann das bezeugen. Wir haben bis spät in die Nacht hinein gearbeitet.“

„Wie praktisch“, kommentierte Marc. Er hatte keine andere Antwort erwartet.

„Einen schönen Abend noch, Ms. Lindt“, sagte Adrian und klopfte zum Abschied auf den Tresen. „Und grüßen Sie Ihren Freund von uns.“

„Glaubst du ihr ein Wort?“, erkundigte sich Marc, als sie wieder im Auto saßen.

Adrian lachte herzlich. „Nicht ein einziges. Aber mein Partner hat mich zu einem Bier eingeladen und deshalb will ich nicht länger über die drei scheinbaren Engel Ms. Lindt, Mr. Rack oder Mr. Chesterway nachdenken. Morgen ist auch noch ein Tag.“

Montag, 19. Oktober, 22.50 Uhr

Es war so einfach in das Haus zu kommen. Jeder öffnete ihm die Tür – ausnahmslos jeder. Insofern hatte er wirklich Glück, denn er konnte sich voll und ganz auf die Ausführung seiner Taten konzentrieren. Ein ernstes Wort, das Aufblitzen seiner Waffe und der Anflug eines gewinnenden Lächelns hatten den Mann mit dem schütteren Haar davon überzeugt, dass er besser nicht nach seinen privaten Sicherheitsdackeln rief. Stattdessen kauerte er ganz still in seinem teuren weißen Ledersessel, genauso wie er es ihm befohlen hatte. Weiß – das würde hässliche Flecken geben…

„Leg dir die Handschellen an“, befahl er und warf dem vor Nervosität schwitzenden Fettklops echte Polizeihandschellen zu. Auf diese war er besonders stolz. Nun gut, der Kerl war nicht wirklich das, was man als ‚fett‘ bezeichnen konnte; doch das ein oder andere Kilo weniger an den entsprechenden Stellen hätte seine Frau bestimmt glücklich gemacht. Außerdem half es ihm, seine Opfer nicht als normale Menschen zu sehen, wenn er ihnen unschöne Bezeichnungen gab und das wiederum erleichterte den Akt des Tötens ungemein. „Nein“, unterbrach er ihn mit einem fiesen Grinsen. „Nicht so.“ Der Trottel war tatsächlich ohne Widerrede sofort dazu übergegangen, sich die Handschellen um die Gelenke zu legen. „Ich möchte, dass du deine rechte Hand an dein linkes Bein fesselst. Und mit dem zweiten Paar Schellen machen wir es dann genau umgekehrt.“ Zur Unterstreichung seiner Aussage schüttelte er die Handschellen in die Luft, so dass die kurzen Kettenglieder klimperten.

Dem rotgesichtigen Mann quollen beinahe die Augen aus den Höhlen.

Welch Ironie, kam es ihm in den Sinn und ein verträumtes Lächeln stahl sich auf sein Gesicht. „Nun mach schon“, drängte er schließlich und riss sich aus seinen eigenen Gedanken. Keine Ablenkungen, völlige Konzentration – das war das A und O seines Erfolgs.

Nachdem Sesselhocker auch dieser Aufforderung nachgekommen war, brachte er die zweite Fessel selbst an und stellte befriedigt fest, dass der langweilige Firmenboss nun in einer äußerst beachtlichen Jogastellung dasaß. Das würden selbst die Polizisten mit Beachtung quittieren.

„B… b… bitte“, stotterte es plötzlich aus dem Sessel.

Er verdrehte die Augen. Auch das noch… Wollte die Memme jetzt heulen und betteln? Er konnte sich doch ausrechnen, dass dieses Unternehmen keine Früchte trug. Er kannte keine Gnade. Seit Prince Charming musste das doch wohl jedem von ihnen klar sein! „Hat sie damals auch ‚bitte‘ gesagt?“, fragte er und kam damit geradewegs zum Thema, denn Fettklops musste er nicht daran erinnern, er wusste, weshalb er hier war.

Der Angesprochene schüttelte heftig den Kopf, was in seiner derzeitigen Position eine wirklich beachtliche Leistung darstellte. „Ich habe ihr nichts getan… Wirklich… Das wissen Sie doch!“

Er nickte. „Ich weiß“, sagte er ruhig und streichelte dem widerlichen Firmenboss über die lichte Stelle am Hinterkopf. „Du hast nur zugesehen“, fuhr er fort und zauberte silbernes Isolierband aus seiner Jackentasche. Überflüssig bei Prince Charming, aber hier von absoluter Notwendigkeit. Das war ihm bereits vorher klar gewesen. Der Kerl hier würde heulen wie eine Sirene und das konnte er wirklich nicht gebrauchen. „Das hier habe ich uns zur Unterhaltung mitgebracht“, sagte er schließlich und wedelte mit einem angespitzten Schraubendreher vor dem Gesicht des nun gut Geknebelten hin und her.

Der Mann gab unverständliche Laute von sich, schüttelte energisch den Kopf und begann tatsächlich richtig zu weinen.

„Heul nur“, nickte er ohne Mitleid. „Glaub mir, heute wirst du dir die Augen ausheulen. Im wahrsten Sinne des Wortes.“

Über die Toten nur Gutes

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