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1. DIE WURZELN DER REVOLUTION: VON DEN 1880er JAHREN BIS 1905
ОглавлениеDer Zusammenbruch des zaristischen Regimes im Februar 1917 wurzelte in einer durch wirtschaftliche und soziale Modernisierungen hervorgerufenen Krise, die durch den Ersten Weltkrieg noch erheblich verschärft wurde.1 Seit den 1860er und insbesondere den 1890er Jahren war die Autokratie bestrebt, durch die Industrialisierung des Landes und die Modernisierung der Streitkräfte mit den europäischen Mächten mitzuhalten, auch wenn man wusste, dass der Wirtschaftswandel Kräfte freisetzen würde, die die politische Stabilität bedrohten. Aber die Zeit war dem Zarentum nicht günstig gesonnen. Seit dem späten 19. Jahrhundert vergrößerten die führenden Industriestaaten – Deutschland, die USA, Großbritannien und Frankreich – ihren geopolitischen und ökonomischen Einfluss auf massive Weise, wodurch Russland die Zweitrangigkeit drohte. Der energisch vollzogene Wandel auf wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Ebene ließ in Russlands erheblich zurückgebliebener Gesellschaft jedoch neue soziale und politische Kräfte entstehen, die das Fundament der Autokratie untergruben. Industrialisierung, Urbanisierung und Landflucht führten zur Herausbildung neuer Klassen, von denen insbesondere Industriearbeiter, Geschäftsleute und der Mittelklasse angehörende Freiberufler nicht in das vom Landadel beherrschte traditionelle Ständesystem passten. Die Angehörigen dieser neuen Klassen wollten von der Autokratie als Bürger, nicht als Untertanen behandelt werden und forderten, dass ihnen entsprechende Rechte eingeräumt würden. Diese im Zusammenhang mit einem Krieg gegen Japan erhobenen Forderungen führten 1905 zum Ausbruch einer umfassenden Revolution. In diesem Jahr wurde der Zar, Nikolaus II., von einer liberalen Bewegung aus der Mittelklasse, einer militanten Arbeiterbewegung und einer massiven, gegen den Landadel gerichteten Bauernbewegung so unter Druck gesetzt, dass er im Oktobermanifest von 1905 weitgehende politische Reformen ankündigen musste. Nachdem die Ordnung wiederhergestellt war, zog Nikolaus sein Versprechen, eine konstitutionelle Monarchie einzuführen, allerdings wieder zurück.
Im Vorgriff auf das nächste Kapitel sei bemerkt, dass der Zeitraum zwischen 1907 und 1914 (manchmal auch als „Jahre der Reaktion“ bezeichnet) von einem Patt zwischen Duma (dem neuen Parlament) und Regierung sowie einem Abrücken von politischen Reformen gekennzeichnet ist. Zugleich sah sich die Regierung der Kritik von Kräften ausgesetzt, die bislang ihre Stützpfeiler gewesen waren: der Adel und die Russisch-Orthodoxe Kirche, während sich andererseits am Wachstum des Pressewesens, an der Ausbreitung von freiwilligen Gelehrtengesellschaften und einer neuen Konsumentenkultur die Herausbildung einer Zivilgesellschaft zeigte. Obwohl also die Hoffnung auf politische Reformen gedämpft wurde, gab es Anlass zur Annahme, dass in jenen Jahren, da die Bauernschaft sich beruhigte, die Industrie sich nach 1910 neu belebte und die Streitkräfte verstärkt wurden, die Wahrscheinlichkeit einer Revolution sich verringerte. Doch das internationale Umfeld war bedrohlich, und es verschärften sich die Probleme des Umgangs mit einem multinationalen Reich. Ohne den Ausbruch des Ersten Weltkriegs im Juli 1914 hätte sich die Kluft zwischen den breiten Bevölkerungsschichten und den privilegierten Klassen wie auch zwischen Duma und Regierung vielleicht allmählich überbrücken lassen, doch machte der Krieg solchen Hoffnungen ein Ende. Die Anforderungen, die der „totale Krieg“ stellte, setzten Industrie und Landwirtschaft unter unerhörten Druck und vergrößerten die Kluft zwischen den Privilegierten und der übrigen Bevölkerung. Während die politischen Eliten vom Zarenregime maßlos enttäuscht waren, reagierte die Bevölkerung zunehmend unzufrieden auf Lebensmittelmangel und andere Kriegslasten – zwei Faktoren, die die Februarrevolution auslösten und zum Sturz der seit 300 Jahren regierenden Dynastie der Romanows führten.
Der bedeutende Historiker des 19. Jahrhunderts, Wassili Kljutschewski, hat einmal bemerkt, das grundlegende Merkmal der russischen Geschichte sei die auf einer grenzenlosen und unwirtlichen Ebene vollzogene Kolonisierung.2 Russland besaß weite Ebenen, eine rückständige Wirtschaft und eine von Armut geplagte Landbevölkerung, aber keine natürlichen Grenzen, weshalb es zu Invasionen geradezu einlud: Im 17. Jahrhundert kamen die Polen, im 18. die Schweden, im 19. die Franzosen. Zwar konnte jede dieser Invasionen zurückgeschlagen werden, doch stiegen jedes Mal die Kosten der Mobilisierung an Menschen und Material, sodass der Staat immer mächtiger, imperialer und autokratischer wurde. Während russische Kolonisten über Steppen und Tundren bis zum Pazifik vordrangen, weitete sich der dynastisch regierte Staat immer weiter nach Süden in die Ukraine und den Kaukasus aus, während im Norden der Sieg über die Schweden zur Einverleibung des Baltikums führte. Im 19. Jahrhundert wurden Polen und Zentralasien dem russischen Reich eingefügt. Bis zur Mitte dieses Jahrhunderts konnte das Zarentum sein ungefüges Kontinentalreich ohne viele Ressourcen im Wesentlichen durch die Kooptierung nicht-russischer Eliten regieren, doch in den 25 Jahren vor der Jahrhundertwende machte sich der imperiale Ehrgeiz der aufstrebenden europäischen Mächte mit der Hilfe von Schwerindustrie, Eisenbahnen, Dampfschiffen und Telegrafen auf die Jagd nach Kolonien, Rohstoffen und Märkten. Dadurch gerieten Russlands Grenzgebiete ebenso unter Druck wie die traditionellen Techniken zaristischer Herrschaft. Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Österreich-Ungarn und Russland suchten durch Bündnisse die Fiktion einer Machtbalance aufrechtzuerhalten, aber im Jahrzehnt vor 1914 wurden die Beziehungen zwischen den Großmächten „ihrem Wesen nach zu einem Glücksspiel mit den dazugehörigen Elementen von Bluff und Poker. … Das Spiel drehte sich vor allem um Berechnungen über die Macht der Konkurrenten und die Bereitschaft und Fähigkeit, ihre Ansprüche mit Gewalt durchzusetzen.“3
Nach dem Sieg über Napoleon 1812 hatte Russland internationales Ansehen genossen, jedoch durch den Krimkrieg (1853–1856) wieder verloren, als Frankreich und Großbritannien sich auf die Seite des Osmanischen Reichs stellten, um Russlands Expansion in den Mittelmeerraum zu verhindern. Angesichts des Pariser Friedens, der Russland das Recht auf eine Kriegsflotte und Landfestungen im und am Schwarzen Meer untersagte, bemerkte Großherzog Konstantin Nikolajewitsch, der zweite Sohn von Zar Nikolaus I.: „Wir können uns nicht länger selbst belügen. Wir sind schwächer und ärmer als die Mächte ersten Ranges, und darüber hinaus nicht nur ärmer an Rohstoffen, sondern auch an geistigen Ressourcen vornehmlich in Sachen Verwaltung.“4 Immerhin führte die Niederlage dazu, dass unter Alexander II. (Reg. 1855–1881) ein umfangreiches Reformprogramm in Gang gesetzt wurde, dessen Höhepunkt die Aufhebung der Leibeigenschaft 1861 bildete. Hinzu kamen Rechtsreformen, wozu die Einführung von Friedensrichtern und, in begrenztem Maße, Geschworenengerichte zählten. Eine Militärreform sah die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht, die Umgestaltung der Verwaltung und die Einrichtung von Kadettenschulen vor. Von erheblicher Bedeutung war die Schaffung von lokalen Regierungseinrichtungen, den „Semstwos“, sowie von städtischen Dumas. Wären diese Reformen energisch weiterverfolgt worden, hätte das den Ausbruch der Revolution von 1905 weniger wahrscheinlich gemacht. Aber Alexander wurde 1881 von einem Mitglied der terroristischen Organisation Narodnaja Wolja („Volkswille“) ermordet, und sein Sohn und Nachfolger, Alexander III., machte den Liberalisierungskurs rückgängig.
Indes hatten die Reformen Alexanders II. kaum dazu beigetragen, Russlands Niedergang im internationalen Kontext aufzuhalten. Zwar gab es nach dem Sieg über die Türkei im Krieg von 1877/78 Gewinne im Schwarzen Meer sowie an der bulgarischen und kaukasischen Front, doch wurden sie auf dem Berliner Kongress von 1878 erheblich zurückgestutzt, als der deutsche Kanzler Otto von Bismarck das mit russischer Hilfe geschaffene Gebiet eines unabhängigen Bulgarien erheblich verkleinerte und Österreich-Ungarn, Russlands Erzrivale auf dem Balkan, das Recht auf Verwaltung der osmanischen Provinzen Bosnien und Herzegowina zusprach. Diese Konzessionen waren der panslawistischen Bewegung in Russland ein Dorn im Auge. Sie forderte die Eroberung von Konstantinopel, der einstmaligen Bastion des orthodoxen Christentums, und die Kontrolle über die Meerenge zwischen dem Schwarzen Meer und den Dardanellen. Bismarcks Regieführung auf dem Kongress verdeutlichte die Bedrohung, die ein erst kürzlich vereinigtes und wirtschaftlich prosperierendes Deutschland für russische Expansionspläne darstellte. Diese Besorgnis führte 1894 zum Bündnis Russlands mit Frankreich, worin sich die Partner zu gegenseitiger Hilfe verpflichteten, sollte einer von ihnen von einem Mitglied des aus Deutschland, Österreich-Ungarn und Italien bestehenden Dreibundes angegriffen werden. Frankreich sollte bis 1917 Russlands hauptsächlicher Verbündeter bleiben und dabei umfangreiche finanzielle und militärische Hilfe leisten.
Doch fand der Krieg zunächst nicht im Westen, sondern im Osten statt, in der Mandschurei. Am 8. Februar 1904 führte die japanische Kriegsflotte einen Überraschungsangriff auf die vor Port Arthur ankernde russische Flotte durch. Seit den 1850er Jahren war Russland immer weiter gegen chinesisches Territorium vorgerückt, während die China regierende Mandschu- (oder Qing-)Dynastie im Verfall begriffen war. 1860 wurde Wladiwostok gegründet – ein Zeichen für Russlands Absicht, seine Rolle als Hegemonialmacht in Fernost zu festigen, was die Briten als Alarmsignal betrachteten. Japan wiederum hatte mit seiner Modernisierung zu ungefähr der gleichen Zeit begonnen wie Russland unter Alexander II. und konnte mittlerweile große Fortschritte in der Industrialisierung, der Schaffung einer Wehrpflichtigenarmee und einer zentralisierten Bürokratie verzeichnen. Nun blickte es in der gesteigerten Erwartung von Rohstoffen, Märkten und nationalem Prestige nach Korea und der Mandschurei. 1891 konnte der russische Finanzminister Sergej Witte mit der Unterstützung des zukünftigen Zaren, Nikolaus II., den Baubeginn der Transsibirischen Eisenbahn verkünden. Damit sollte zum einen die Umsiedlung von Bauern aus den übervölkerten Schwarzerdeprovinzen von Zentralrussland gefördert und zum anderen die Kontrolle über die fernöstlichen Gebiete gefestigt werden. Nachdem China den Krieg gegen Japan 1894/95 verloren hatte, übte Russland Druck auf die chinesische Regierung aus, um die Erlaubnis für den Bau der Ostchinesischen Eisenbahn zu erhalten. Sie sollte die Transsibirien-Strecke abkürzen, indem sie durch die nördliche innere Mandschurei über Harbin nach Wladiwostok führte. 1898 begann Russland mit dem Bau der Südstrecke, die von Harbin über die Halbinsel Liaodong zum ständig eisfreien Hafen führen sollte, den man in Lüshunkou, bekannt unter dem kolonialen Namen „Port Arthur“ anzulegen begonnen hatte.
Russlands Griff nach der Mandschurei fiel mit Japans Besetzung von Korea zusammen, die nach dem Sieg über China erfolgt war. So gerieten die beiden imperialen Mächte in Konflikt. 1898 verlangte das Marineministerium 200 Millionen zusätzlich zu seinem jährlichen Haushalt von fast 60 Millionen (während das Landwirtschaftsministerium im Jahr 1900 über nur 40,7 Millionen verfügte), um die Überlegenheit seiner Pazifikflotte über die Japaner zu sichern.5 Aber die Japaner hatten nicht vor, dem tatenlos zuzusehen, und griffen Port Arthur im Februar 1904 an. Damit zwangen sie die Russen, eine weitere Flotte nach China zu schicken, die nach einer epischen Fahrt von 18.000 Seemeilen (über 32.000 km) in der Schlacht von Tsushima vernichtend geschlagen wurde. Die Öffentlichkeit war über diese erniedrigende Reihe von Niederlagen empört, was die Opposition gegen das Regime zu einer Zeit, in der immer lautere Forderungen nach sozialen und politischen Reformen hörbar wurden, noch verstärkte.
Wie alle Imperien war auch das russische Reich ein ausgedehntes Konglomerat verschiedener Ethnien – mehr als einhundert an der Zahl – und Konfessionen. Die Volkszählung von 1897 zeigte, dass die Russen sich zwar für die vorherrschende politische, religiöse und kulturelle Kraft hielten, tatsächlich aber in demographischer Hinsicht (wenn man die Ukrainer und Weißrussen ausschließt) eine Minderheit waren, indem sie nur 44 Prozent der Gesamtbevölkerung von 122,6 Millionen Einwohnern ausmachten.6 Das Reich wurde gemäß dem Differenzprinzip regiert: Russen wie Nicht-Russen bestimmte man gemäß sozialem Stand (soslowje), Religion und – bezüglich der Nicht-Russen – anhand der schwer zu übersetzenden Kategorie der inorodzi, der „Personen anderen Ursprungs“, ein Begriff, der ursprünglich nur für die nomadischen und halbnomadischen Stämme Sibiriens galt, allmählich aber auf alle nicht-slawischen Völkerschaften ausgedehnt wurde.7 Die Heterogenität des Reichs zeigte sich auch in den komplexen Überschneidungen ethnischer, religiöser und sozialer Unterteilungen. So waren z.B. die Ukrainer aufgespalten in Ukrainisch- und Russischsprachige, religiös in griechisch-katholisch Gläubige (Uniaten) und Orthodoxe, und diese wiederum standen entweder unter russischer oder, in Galizien, unter österreichischer Herrschaft (und wurden dort „Ruthenen“ genannt).8 Zudem gab es in den neun Provinzen mit ukrainischer Mehrheit jüdische, polnische, deutsche und tatarische Minderheiten.
Als das russische Reich sich über die „grenzenlosen und unwirtlichen Ebenen“ (so Kljutschewski) ausbreitete, sicherte es die innenpolitische Stabilität, indem es nicht-russische Eliten zu Mitregenten der Grenzgebiete machte, eine Vielfalt unterschiedlichster Rechts- und Verwaltungsformen tolerierte und religiöse Unterschiede (insbesondere was den Islam anging) respektierte.9 Als die Grenzgebiete – „Ukraine“ heißt auf Deutsch „Grenzland“ – durch rivalisierende Mächte unter Druck gerieten, wuchs die Sorge um Sicherheit, und die Regierungsbeteiligung von Nicht-Russen in den Grenzgebieten wurde zunehmend als Problem gesehen. Insbesondere seit den 1880er Jahren lancierte der Staat Maßnahmen zur größeren Zentralisierung und Vereinheitlichung der Verwaltung. Eine Dimension dieser Politik der Homogenisierung war die (auf je unterschiedliche Weise betriebene) Russifizierung.
Nachdem 1863 der polnische Aufstand niedergeschlagen worden war, entstand ein starker Drang zur Durchsetzung von russischer Sprache und Kultur, der sich besonders heftig in den westlichen Grenzregionen und den baltischen Küstengebieten äußerte. 1881 wurde die Verwendung des Ukrainischen in den Schulen und 1888 in allen öffentlichen Institutionen verboten. Durch die Ausbreitung von russischer Sprache und orthodoxem Glauben sollten Ukrainer, Weißrussen, Litauer und andere Ethnien in die russische Leitkultur integriert werden. Polen und Juden jedoch galten als russischen Werten besonders abgeneigt und wurden daher bis 1917 rechtlich stark diskriminiert. Zugleich gab es in der Regierung Kräfte, die einsahen, dass eine allzu rücksichtslose Russifizierung in Bereichen wie Bildung oder Beschäftigung gegenteilige Effekte haben könnte. In anderen Regionen wurde denn auch die Russifizierung weniger aggressiv betrieben: In den Wolga- und Uralprovinzen etwa sollte durch die stärkere Hervorhebung russischer Sprache, Kultur und Institutionen eine panmuslimische Identität aufgebrochen, aber keine kulturelle Assimilierung betrieben werden.10 In Zentralasien jedoch blieb die Herrschaftsweise eindeutig kolonial. Von Mitte der 1860er bis Mitte der 1880er Jahre kamen in mehreren mit aller Härte geführten Feldzügen Ländereien bis südlich von Fergana unter russische Herrschaft, wobei die Khanate Buchara und Chiwa als Protektorate noch einen Hauch von Unabhängigkeit behielten. Auch im Kaukasus wurden die Bergvölker mit brutaler Gewalt unterworfen, während die offizielle Feindschaft gegenüber dem Islam wuchs. Auch hier also herrschte der klassische Kolonialismus, bei dem regierungsseitig betont wurde, das „russische Element“ sei für die Kolonisierung nicht so „zivilisierter“ Völker unerlässlich.11
Trotz solcher Eroberungspolitik neigen Historiker, aufgrund der unterschiedlichen Formen der Herrschaft über die nicht-russischen Völker, nicht mehr dazu, mit Lenin das Zarenreich als „Gefängnis der Nationen“ zu sehen (wie er es vor der Revolution nannte). Stattdessen verweisen sie darauf, dass es beides gegeben habe: Akkomodation wie auch Unterdrückung.12 Dieses Differenzierungsverfahren gestattete der zaristischen Regierung eine beträchtliche Flexibilität bei der Ausübung von Herrschaft, indem sie unterschiedlichen Gruppen unterschiedliche Privilegien und Verpflichtungen zuweisen konnte. Doch gab es gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine sichtbare Verschiebung: Nun begriff man das Reich eher als nationales denn als dynastisches Gebilde, wobei ethnische Kategorien sich gegenüber ständischen und konfessionellen durchsetzten. Tatsächlich verwendete die Volkszählung von 1897 zum ersten Mal (und eher vorsichtig) die politisch heikle Kategorie der „Nationalität“.13 Offiziellerseits zog man immer noch die rechtliche Kategorie inorodzi vor, doch hatte der Terminus mittlerweile einen Beiklang von kultureller Andersheit und mithin, zumindest aus Sicht des staatlich definierten „russischen Elements“, eine Konnotation von Bedrohung für die Integrität des russischen Staats. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war das Imperium also eine instabile Mixtur aus einem dynastisch-aristokratischen Reich (was der Schweizer Historiker Andreas Kappeler eine „Hausmacht“ [i. O. dt.] nennt), einem national vereinheitlichenden Staat und einem Kolonialregime (vor allem bezogen auf Zentralasien und den Nordkaukasus).14 Dennoch definierte Russland sich bis 1917 als rossiiskaja, d.h. als Staat, der alle Völker der zu Russland gehörenden Gebiete umfasste, nicht aber als russkaja, d.h. als russisch in ethnischer Hinsicht.15
In den Grenzregionen wuchs der Nationalismus. Er würde sich bei der Revolution von 1905 als weiterer destablisierender Faktor erweisen, der den Fortbestand der Autokratie gefährdete. Die nationalistische Herausforderung war zum Teil eine Reaktion auf die Russifizierungspolitik – das galt besonders für Polen und die Ukraine. In grundsätzlicherer Hinsicht war es eine Reaktion auf die Modernisierung; in ihr bekundete sich die Entstehung von städtischen, gebildeten Eliten in den nicht-russischen Gebieten als Antwort auf die Erfahrungen moderner Kommunikation, Expansion der Märkte und politischer Beschränkung. Hierin fand die wachsende Überzeugung urbaner (und einiger ländlicher) Intellektueller und Angehöriger der Mittelschichten ihren Ausdruck, dass nicht-russische Völker aufgrund gemeinsamer Geschichte, Sprache und kultureller oder religiöser Praktiken das Recht hätten, sich von Fremdherrschaft zu befreien und einen Staat zu schaffen, der als Repräsentant einer bestimmten ethnischen Gemeinschaft autonom war und über ein eigenes Territorium verfügte. Dennoch war der nicht-russische Nationalismus bis zum Ersten Weltkrieg kein vorrangiger Faktor für die Schwächung des russischen Reichs.16