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People Are People

1961–1980

Martin Gore wurde als gelehriges, nachdenkliches und von Natur aus glückliches Kind am 23. Juli 1961 in Dagenham, Essex, in eine Arbeiterfamilie geboren. Damals arbeiteten sein Stiefvater und sein Großvater in der Ford-Autofabrik in Dagenham. Der Stiefvater jedoch gab seinen Job auf, wurde Kraftfahrer und zog mit dem – nach dessen eigenen Worten „passiven und harm­losen“ – kleinen Jungen und dessen zwei Schwestern nach Basildon um. Gores Mutter fand dort einen Job in einem Altersheim.

„Als kleines Kind war ich ziemlich schüchtern“, sagt der verträumte, stille Songwriter. „Ich hatte eigentlich fast keine Freunde und verbrachte die meiste Zeit allein in meinem Zimmer beim Märchenlesen. Ich versenkte mich tief in Märchenbücher und lebte in einer anderen Welt. Auch in der Schule fehlte es mir sehr an Selbstvertrauen. Nur selten meldete ich mich zu Wort.“

Zu den Hauptinteressen dieses scheuen, zurückhaltenden Kindes gehörten Sprachen, in denen er sein Naturtalent bewies, und Musik: „Als ich etwa zehn Jahre alt war, entdeckte ich im Schrank die alten Rock’n’Roll-Singles meiner Mutter, Songs von Elvis, Chuck Berry, Del Shannon, und ich spielte diese Platten immer und immer wieder. Da wurde mir klar, dass dies das Einzige war, was mich wirklich interessierte, und damit fing alles an.“

Mit dreizehn Jahren bekam der frisch gebackene Glam-Rock-Fan – er begeisterte sich vor allem für Gary Glitter und das schrullige US-Duo Sparks – eine akustische Gitarre und erwies sich als gelehriger Schüler, der Abend für Abend damit verbrachte, neue Akkorde auf seinem Instrument einzuüben. Noch auf der Schule schrieb er die Songs „See You“ und „A Photograph Of You“, die später von Depeche Mode eingespielt wurden. Perry Bamonte, der Jahre später Musiker wurde und bei The Cure spielte, war an der Saint-Nicholas-Gesamtschule in Basildon ein Schulkamerad von Gore. „Martin war sehr introvertiert“, sagt Bamonte, „sehr still und ein guter Schüler.“

Gore sagt von sich, er sei bis zu seinem achtzehnten Lebensjahr kaum ausgegangen und habe nicht viel getrunken – ein ziemlich ereignisloses Leben, das sich erst später lebhafter gestaltete. In der Schule hatte er eine Freundin, Anne Swindell, die auch schon mit einem anderen Schulfreund ausgegangen war, einem mageren, rothaarigen Jungen namens Andrew Fletcher.

Gore räumt ein: „Ich war wahrscheinlich ein recht seltsames Kind. Denn mir gefiel die Schule und alles, was dazugehörte. Ich fühlte mich sicher in der Schule und wollte sie überhaupt nicht verlassen. Ich spielte Cricket in der Schulmannschaft und bekam in Französisch und Deutsch eine Eins. In Mathematik versagte ich allerdings.“

Nachdem er Saint Nicholas 1979 verlassen hatte, nahm er einen Job bei der NatWest Clearing Bank in der Fenchurch Street in der City von London an, nur einen Katzensprung entfernt von der Sun Life Insurance, wo „Fletch“, der Exfreund seiner Freundin, arbeitete. Martin Gore berichtet, seine Kollegen hätten ihn „stiefmütterlich“ behandelt, weil er noch so jung und schüchtern war. Mittlerweile aber musizierte er schon in einem akustischen Duo, Norman and The Worms, mit seinem Schulfreund Philip Burdett, der später als Folksänger durch London tingelte. Die beiden Schulkameraden hatten damals auch eine Folkmusikversion der Erkennungsmelodie der TV-Serie Skippy, das Busch­känguru in ihrem Repertoire.

Die musikalische Richtung der beiden änderte sich jedoch eines Abends dramatisch, als Gore zu einem Auftritt mit einem Synthesizer der Marke Moog Prodigy erschien. Ihr Konzert verfolgte ein anderer Londoner Musiker namens Vince Clarke aufmerksam: „Martin kam mit einem Synthie auf die Bühne, was ich für eine tolle Idee hielt. Denn dieses Instrument brauchte keinen eigenen Verstärker – man konnte es ganz einfach in die normale PA einstöpseln.“

Clarke, 1961 in Woodford geboren, war damals Mitglied des Kirchenchors und lernte in der zur Kirche gehörenden Boys’ Brigade einen weiteren Schüler von Saint Nicholas kennen, den schon erwähnten Andrew „Fletch“ Fletcher. Fletch, ebenfalls 1961 geboren, war noch ein Kind, als sein Vater, ein Ingenieur, und seine Mutter mit seinem Bruder und seinen beiden Schwestern nach Basildon zogen. Mit acht Jahren trat er der Kirchenjugend bei, und er behauptet, er sei an sieben Abenden der Woche zur Kirche gegangen – „genauso wie Vince“, erinnert sich Fletcher Jahre später. „Der war ein richtiger Bibelfanatiker.“

Clarke war ein Einzelgänger und introvertierter Typ, während sein aggressiver Freund gern auf andere Menschen zuging, Fußball spielte und ein totaler Fan von Chelsea war, Londons in den späten Sechzigerjahren angesagtestem Fußballverein. Perry Bamonte erinnert sich zwar an Fletcher als ein recht fröhliches Kind; der junge Kirchgänger allerdings bemerkte dazu: „Ich war ein unverbesserlicher Pessimist, der nie die hellere Seite des Lebens sah. Ewig las ich Geschichtsbücher, und ich war damals felsenfest überzeugt, dass ich einmal Lehrer werden würde.“

Bamonte kann sich nicht erinnern, dass Fletcher sich in der Schule besonders für Musik interessierte: „Ich nehme an, dass sie ihm wohl etwas bedeutete, aber erkennbar war das nicht.“ Clarke jedoch, der in der Gesamtschule angefangen hatte, Oboe zu spielen, war vierzehn Jahre alt, als er die Popmusik – natürlich nicht die der harten, radikalen Art – entdeckte: „Es waren Simon & Garfunkel, glaube ich, deren Musik ich zu Beginn am liebsten hörte. Die haben mich wirklich beeindruckt, ich fand sie fantastisch. Deshalb fing ich an, akustische Gitarre zu lernen. Ich gründete mit ein paar Freunden eine Gospel-Folk-Gruppe, und wir beteiligten uns an einem Talentwettbewerb. In diesem Alter glaubt man ja wirklich, das Gelbe vom Ei zu sein, und eine Gitarre brauche man nur anzufassen, um schöne Klänge hervorzubringen, sodass wir uns einbildeten, brillant zu sein. Dann sitzt man da und plant schon im Voraus, was man sich alles kaufen wird, wenn man erst einmal berühmt ist – und all das nur wegen einer Talentshow. Aber wir waren schauderhaft und landeten abgeschlagen auf den Plätzen.“

Als Punk in Basildon Einzug hielt, zogen sich Clarke und Fletcher zu ihrer Sammlung von Beatles- und Eagles-Alben zurück und gründeten 1977 das Duo No Romance In China. Diese „Band“ bestand aus Clarke als Gitarristen und Sänger und aus Fletcher als Bassisten, der, wie Clarke es beschreibt, auch „eine jener Autorhythm-Beatboxen von Selmer mit den Tack-tack-tack-Geräuschen bediente, die man zu Hause auf sein Keyboard stellt“. Zu Beginn spielten sie zu den Klängen ihrer Lieblingsplatten wie „I Like It“ von Gerry and The Pacemakers, „The Price Of Love“ von den Everly Brothers und „Then He Kissed Me“ von den Crystals, produziert von Phil Spector.

Etwa ein Jahr danach hatte sich der Geschmack der beiden verdüstert, und Clarke war kurioserweise ein großer Fan der Postpunkband The Cure geworden. Perry Bamonte sah sich ihren ersten „Auftritt“ im Double Six, einem Pub in Basildon, an. Das Duo spielte drei Songs, einer davon war „Three Imaginary Boys“ von The Cure. Kurz nach dem Austritt des siebzehnjährigen Fletcher aus der Kirchenjugend sah ein Freund der beiden das Duo bei einem seiner seltenen Auftritte im Jugendklub von Woodlands vor einer Gruppe von vierzehnjährigen Kids musizieren.

Nach zwei Jahren lösten sich No Romance In China auf, und Fletcher ging abends meistens mit seiner neuen Freundin Grainne aus. Clarke gründete für kurze Zeit eine neue Gruppe, The Plan, zusammen mit dem stets einsatzfreudigen Perry Bamonte, der sein Leben lang von einer Band zur anderen wechselte. Clarke indessen wollte nicht immer nur im Hintergrund stehen und lieber alle Fäden in der Hand halten, weshalb er die Gruppe wieder verließ.

Er kam wieder auf Fletcher zurück, und zusammen mit Martin Gore gründeten sie eine weitere Band: Composition of Sound. Fletcher wurde zwangsweise dazu verdonnert, den Bass zu spielen, und er musste sich von seiner Bank einen Kredit von neunzig Pfund für den Kauf des Instruments holen, während die beiden anderen zunächst nur ihre Gitarren spielten. Als Clarke dann aber neue Songs schrieb, wechselten er und Gore zu einfachen Synthesizern von Moog und Yamaha über. Einige Monate später musste sich dann auch Fletcher einen Synthie kaufen, und damit wurden Composition of Sound zur vollelektronischen Band.

„Nach Punk wandten wir alle uns Gruppen wie Kraftwerk und A Certain Ratio zu“, entsinnt sich Perrys kleiner Bruder Daryl, der drei Jahre jünger ist als Fletch, Clarke und Gore. „Ich empfand die Electronic-/Futurismusszene, etwa die frühen Human League, als ziemlich schmutzig und undergroundmäßig“, sagt Daryl. Er kümmerte sich zum Dank dafür, dass die Band ihn in ihrem Kombi durch Basildon kutschierte, wenn er Zeitungen austragen musste, um ihr Equipment. „‚Being Boiled‘ von Human League war ein bisschen Avantgarde und klang recht hart. Ich mochte das Zeug von Some Bizzare und Gary Numan gern. Das war eine dunklere Art von Musik als die übliche Hitparadensoße.“

Gary Numan war 1979 als geheimnisvoller, wasserstoffblond gebleichter Rädelsführer der Gruppe Tubeway Army aufgetaucht, der mit dem dürren, außerirdisch wirkenden Song „Are ‚Friends‘ Electric?“ Platz 1 der UK-Charts erklomm. In den Siebzigerjahren hatte es einige ausgefallene Hits von elektronischen Bands gegeben; am erfolgreichsten davon die Single „Autobahn“ von Kraftwerk, die 1975 Platz 11 der UK-Charts erreichte. Numan aber festigte seinen Platz als erster großer Star des Synthie-Pop, als er die nächste Single, „Cars“, unter seinem eigenen Namen veröffentlichte, die dann ebenfalls die Poleposition der UK-Charts schaffte. In den folgenden drei Jahren hatte Numan fünf Alben in den Top 3 der britischen Charts, und er erreichte sogar die Top 10 in den USA. Die eher flüchtige, aber dennoch bemerkenswerte Bedeutung von Gary Numan für Clarke, Gore und Fletcher war die Erkenntnis, dass man auch als einundzwanzigjähriger Expunk und Nichtmusiker mit Synthesizermusik an die Spitze der Charts gelangen kann.

„Mein einziges musikalisches Talent besteht im Arrangieren von Geräuschen“, gab der Kommandant der Tubeway Army zu. „Gitarre konnte ich sowieso nicht gut spielen, und der Synthie ließ sich kinderleicht bedienen.“ Gore hatte in etwa dieselbe Einstellung: „Für uns war der Synthesizer ein Punkinstrument, eine Art Do-it-yourself-Sofortwerkzeug. Ohne es zu wissen, begannen wir, etwas ganz Neues zu tun. Wir hatten uns für diese Instrumente entschieden, weil sie praktisch waren. Man konnte sich einen Synthesizer unter den Arm klemmen und zu einem Gig gehen. Dafür brauchte man keinen Verstärker, also brauchten wir auch keinen Kombiwagen. Bald fuhren wir mit der Bahn zu unseren Gigs.“ In den folgenden Monaten eiferten Composition of Sound einer Reihe von mehr weltlichen, an der Kunstszene orientierten Electronic-Pop-Bands wie Soft Cell und Human League nach, die im Kielwasser des krassen Futurismus von Tubeway Army die Charts aufrollten.

Mittlerweile hatte sich Gore auch noch einer anderen lokalen Band angeschlossen, The French Look. Chef dieser Gruppe war Rob Marlow, ein ziemlich bekannter Typ in der Szene von Basildon. (Als einer von Clarkes besten Freunden war er später auch auf dessen Label.) Freunde haben ihn als „ein bisschen wie Gary Numan“ in Erinnerung, „weil er immer der Frontman war, Keyboards, Gitarre und alles andere gleichzeitig spielen wollte“. Bei The French Look bediente Gore im Hintergrund die Keyboards; ein bulliger Typ namens Paul Redman war dazugestoßen, weil er zwei Synthesizer besaß und kräftig genug war, diese herumzuschleppen.

Jeder kannte jeden, nur ein Typ war weniger bekannt. Er mixte bei einer Probe von The French Look in der Woodlands-Schule den Sound – ein magerer Expunk namens Dave Gahan. Auf ihn wurde Vince Clarke eines Tages aufmerksam, als The French Look probten und Gahan anfing, bei David Bowies „Heroes“ mitzusingen. Es war zwar nur eine Jamsession, aber Clarke, der nur äußerst ungern ganz vorn stand, dachte: „Der ist in Ordnung, vielleicht sollten wir ihn in die Band aufnehmen.“ Gahan sang niemals für Composition of Sound zur Probe, er konnte einfach mitmachen, falls er Lust dazu hatte. Clarke lud ihn ein, sich die Band bei einem Auftritt in Scamps, Southend, einmal anzusehen, wo die School Bullies, eine der Gruppen von Perry Bamonte, als Headliner spielten.

Der Auftritt von Composition of Sound fing nicht gerade gut an, weil Fletcher, dem man linkische Bewegungen nachsagt, stolperte und die Stecker aus den Verstärkern riss – ausgenommen den für sein eigenes Instrument. Somit erklang sein Bass während der ersten beiden Nummern als Soloinstrument. Daryl, Perrys jüngerer Bruder, erinnert sich an den Gig: „Das war so etwa im April oder Mai 1980, als ich von der Schule abging. Perry gab damals Composition of Sound eine Chance im Vorprogramm. Daraus wurden Depeche Mode, aber das war noch keine Band, die ausschließlich mit Synthesizern spielte. Fletch zupfte den Bass, Martin spielte Keyboard, Vince bediente die Gitarre und sang. Dave Gahan beobachtete die Band bei diesem Gig, und bei dieser Gelegenheit lernte ich ihn kennen. Sie spielten viele Songs, die sie dann später als Depeche Mode aufnahmen: ‚Photographic‘, ‚Ice Machine‘ und ein paar Instrumentals.“

Bei anderer Gelegenheit spielten Composition of Sound im Vorprogramm von The French Look in der Saint-Nicholas-Gesamtschule. Gore zog sich ein anderes Hemd an und spielte dann auch bei The French Look mit. Dies war auch der allererste Auftritt des neuen Sängers von Composition of Sound, Dave Gahan, der so totenblass und nervös war, dass er erst ein paar Biere trinken musste, ehe er den Mut fand, auf die Bühne zu gehen. Seine bislang einzige Erfahrung als Sänger in der Öffentlichkeit hatte er im zarten Alter von acht Jahren bei der Heilsarmee gemacht. Dann kamen The French Look auf die Bühne, aber während des ersten Songs bekam Rob Marlow Krach mit Paul Redman, und das Konzert musste abgebrochen werden, weil Redman sich weigerte, Keyboards zu spielen. Danach trennten sich die beiden, was keine Überraschung mehr war.

Daryl Bamonte beschreibt diesen Gig als einen „gelungenen Abend. Ich war noch an dieser Schule, und wir staunten alle, denn Dave hatte seine sämtlichen Freunde aus Southend mitgebracht. Plötzlich waren in der Aula unter all den jungen Schülern aus Basildon so dreißig bis vierzig ausgeflippte New Romantics. Da wurde Vince klar, dass er mit Dave eine gute Wahl getroffen hatte.“

Dave Gahan kam am 9. Mai 1962 in Epping zur Welt und war ebenso wie die anderen religiös erzogen worden, da die Familie seiner Mutter in der Heilsarmee mitwirkte. Im Gegensatz zu seinen neuen Bandkameraden hatte sich Gahan völlig von der Kirche losgesagt, und wenn er sonntags mit seiner Schwester das Haus angeblich zum Gottesdienst verließ, verbrachte er in Wirklichkeit die Zeit damit, mit dem Fahrrad herumzugondeln. Sein Vater hatte die Familie verlassen, als Gahan noch ein Kleinkind war, und seine Mutter übersiedelte mit der vaterlosen Familie – Dave, seiner Schwester Sue und seinen Brüdern Peter und Philip – nach Basildon: „Sie heiratete erneut, und ich hielt immer meinen Stiefvater für meinen leiblichen Vater. Und der starb, als ich sieben Jahre alt war.“

Als Gahan zehn war, kam er von der Schule nach Hause und entdeckte „diesen Fremden im Haus meiner Mutter. Sie stellte ihn mir als meinen richtigen Vater vor. Ich weiß noch, dass ich weinend sagte, das sei doch unmöglich, denn mein Vater sei doch tot. Ich war zutiefst empört, und es gab einen riesigen Streit, weil ich fand, man hätte mir die Wahrheit sagen müssen. Erst später wurde mir klar, wie schwer es für Mum gewesen sein musste, uns großzuziehen. Und ich hatte es nur noch bitterer für sie gemacht, indem ich ständig in Schwierigkeiten geriet.“

Gahan hatte angefangen, die Schule zu schwänzen, und war dreimal vor dem Jugendrichter gelandet: wegen Graffitischmierereien, Vandalismus und Autodiebstahls, wobei die Wagen später ausgebrannt irgendwo aufgefunden wurden. „Ich war ein ganz schön wilder Bengel. Ich genoss die Aufregung beim Klauen eines Wagens, beim Davonrasen und der Verfolgung durch die Polizei. Sich mit hämmerndem Herzen hinter irgendeiner Mauer zu verstecken, das gibt einen richtigen Kick – werden sie mich erwischen? Meine Mutter weinte meinetwegen oft bittere Tränen.“

Ein frühes Zeichen seiner übertriebenen Aufsässigkeit war seine erste Tätowierung, die er sich mit vierzehn Jahren am Strand von Southend stechen ließ. Das machte „so ’n alter Seebär namens Clive“, der um seinen Hals eine gestrichelte Linie mit den Wörtern „Hier schneiden“ tätowiert hatte. Im krassen Gegensatz zur fleißigen Kirchgängerfraktion von Composition of Sound, hatte Gahan auch schon Drogen ausprobiert, als er noch zur Schule ging. „Ich hatte jede Menge Freunde, mit denen ich je nach Stimmung zusammen sein konnte. Das waren Gewalttätige, Drogensüchtige oder auch einfach nur Mädchen. In der Gang zogen wir los und kauften einen großen Beutel mit Amphetaminen. Dann fuhren wir die Nacht über nach London und landeten bei irgendeiner Party. Danach kriegten wir morgens den ‚Milk Train‘ von der Liverpool Street nach Billericay. Es war ein verdammt langer Weg nach Hause.“

Gahan behauptet, er habe von den Freundinnen seiner älteren Schwester „ziemlich schnell“ gelernt, was es mit dem Sex auf sich hat, und als er dreizehn Jahre alt war, sei er ein Soulboy gewesen und habe „mit den Typen vom Global Village herumgehangen“, dem Schwulenclub unter dem Londoner Charing-Cross-Bahnhof. Die Schule verließ er im Juli 1978, nachdem er das letzte Schuljahr zum größten Teil geschwänzt hatte. In den folgenden Monaten versuchte sich der rotzfreche Exzentriker in diversen Jobs (er sagt: „so etwa zwanzig“), die alle „danebengingen“: Er füllte Regale in Supermärkten auf, arbeitete auf Baustellen als Hilfsarbeiter und als Packer in der Parfumfabrik Yardley: „Ich brachte gutes Geld nach Hause und gab Mum was davon ab. Dann ging ich runter in den Pub zum Anmachen, um als unternehmungslustiger Knabe mein Vergnügen zu haben.“

Schließlich wurde ihm klar, „dass ich so keine Karriere machen konnte. Deshalb bemühte ich mich um eine Lehrstelle als Klempner bei den North-­Thames-Gaswerken. Mein Bewährungshelfer riet mir, beim Bewerbungsgespräch ehrlich zu sein und zu sagen, dass ich vorbestraft war, aber dass ich jetzt auf dem rechten Weg sei und all das Blabla. Natürlich bekam ich die Lehrstelle trotzdem nicht. Da bin ich zum Bewährungsbüro gegangen und habe es verwüstet.“

In seinem letzten Jahr an der Gesamtschule entdeckte Gahan Punk und folgte The Damned und The Clash auf ihren Tourneen. „Eigentlich war ich kein richtiger Fan von The Clash, denn deren erstes Album hatte ich nicht wirklich verstanden. Aber ich ging immer zu ihren Auftritten, weil ich ihre Attitüde und ihre Energie toll fand.“ Seinen Hauptinteressen Punk und Kunst konnte er sich widmen, als er sich im Southend Art College einschreiben ließ, wo er „immer wieder zu Konzerten von Generation X und The Damned ging. Ich besaß echte Sexshopklamotten. Deren Etiketten steckten wir außen dran, und so besuchten wir die verruchten Londoner Clubs wie das Studio 21.“

Gahan war durchaus nicht der einzige „Alternative“ in Basildon. Weil es dort aber keine florierende Szene gab, gingen Leute wie er nach London oder nach Southend, wo man toleranter war. „John Lydon und George O’Dowd – Boy George – kamen auch immer nach Southend“, erinnert er sich. „George kam als Dressman und klaute auch Sachen, weshalb er einen Haufen Ärger bekam. Das waren extravagante Leute wie Steven Linnard, jetzt ein erfolgreicher Designer, und sie stellten einen gewaltigen Unterschied zu meinen ungehobelten, grobschlächtigen Kumpels in Basildon dar. Sie waren zwar auch Rowdys, aber kunst­beflissen. Irgendwann wurde mir das aber auch langweilig, obwohl es mir eine Zeit lang ziemlich aufregend vorkam. Ich führte ein Doppelleben, mischte mich unter die Kunstschulleute und begab mich dann nach Hause nach Basildon. Dort ging ich auch mit Make-up in den Pub, aber weil ich die dortigen ‚Beer Boys‘, die Spanners, gut kannte, ließ man mich gewähren.“

Daryl Bamonte, der als Schuljunge in den frühen Achtzigern als eine Art Roadie fungierte, erzählt: „Dave war irgendwie immer wie ein Fisch auf dem Trockenen in Basildon. In den Siebzigerjahren hatte der Ort eine ziemlich wüste Szene. Dave fuhr immer mit dem Zug zu all den Londoner Clubs, und die Kneipe gegenüber vom Bahnhof war der schlimmste Treffpunkt der Schlägertypen. Da stand er dann, ein fünfzehnjähriger Junge mit vollem Make-up. Klar, dass er so gewaltig unter Beschuss geriet. Das dürfte dann wohl seine bleibende Erinnerung an die Menschen in Essex sein, was wahrscheinlich der Grund dafür ist, dass er jetzt in Amerika lebt. Fletch und Martin hingegen waren weitaus unauffälliger. Die gingen oft ins Towngate Theatre, wo die Bar ein bisschen mehr im Bohemestil eingerichtet war, irgendwie hippieorientiert. Leute in Flickenjeans kamen dorthin und spielten auf ihren akustischen Gitarren. Logischerweise sahen Fletch und Martin die Stadt mit ganz anderen Augen als David, der sich immer gegen die Schläger wehren musste.“

1979 lernte Gahan seine Freundin Joanne bei einem Konzert von The Damned kennen. „Sie gehörte zu den Billericay-Punks“, erinnert er sich. Seltsamerweise waren eine ihrer Lieblingsbands die ursprünglich punkorientierten Tubeway Army, weshalb sie immer zu den Auftritten von Gary Numan in und um London ging. Als sich Numan dann der elektronischen Musik zuwandte, wurde auch Gahan ein Fan, und deshalb fuhr das Paar während Numans großer Tournee Ende 1979 quer durchs Land, um seine Auftritte zu erleben.

Kurz nachdem Dave Gahan zu Composition of Sound gestoßen war, schlug der modebesessene Sänger als neuen Bandnamen den Titel eines französischen Modemagazins vor: Depeche Mode, was sich frei mit „schnelle Mode“ übersetzen lässt. Clarke räumt ein: „Wir mochten einfach den Klang der beiden Wörter.“ Um noch exotischer und künstlicher zu wirken, sprachen die Bandmitglieder das erste Wort zunächst nicht wie „Dipäsch“, sondern wie „Dipäschej“ aus. Auf den neuen Namen einigten sie sich, wie Freunde der Band behaupten, nachdem Gahan bei sechs oder sieben Gigs mit Composition of Sound musiziert hatte, aber niemand kann sich an das genaue Datum des Namenswechsels erinnern. Sich Depeche Mode zu nennen war schon eine recht seltsame Affektiertheit für eine Gruppe von Arbeitersöhnen aus Basildon. Aber Gahan hatte nun einmal Gefallen an auffälligem und wichtigtuerischem Gehabe gefunden, als er sich 1980 in den entsprechenden Londoner Clubs herumtrieb.

„Depeche Mode waren sehr naiv, wie nun einmal alle achtzehnjährigen Bengel sind“, sagt Daryl Bamonte. „Die vier waren wirklich eine recht bizarre Mischung. Dave kam eigentlich aus der Punkszene, Fletch schwärmte stets von Graham Parker. Martin stand auf Kraftwerk, Jonathan Richman und viele andere Idole. Dave erlebte The Clash, als er vierzehn war, und zischte gleich ab in Clubs wie Billy’s oder Studio 21. Ich glaube, Vince sah etwas Besonderes in Dave, der nun mal eine Menge Aufsehen erregte.“

Die Welt der Underground-Clubs, die Gahan so genoss, gab ihm einen ziemlichen Vorsprung gegenüber seinen Freunden aus Basildon, obschon auch die Vorstädte bald aufholten, als sich der sogenannte Cult With No Name zu einem lächerlichen Mainstream-Kult wandelte, den New Romantics. Diese Szene entstand im Frühling 1978, als das Billy’s in der Nähe der Dean Street im West End eröffnet wurde. Zunächst hatte das Billy’s nur freitags geöffnet und wurde vor allem von einem schwulen, kunstbeflissenen Publikum besucht, aber dann machten sich die beiden Stammgäste Rusty Egan und Steve Strange daran, den Dienstagabend als „Club for Heroes“ zu etablieren. Auf Handzetteln warben sie für diese Bowie-Nacht. Auf den Flyern stand zu lesen: „Fame, Fame, Fame, What’s Your Name? A Club for Heroes.“

Man spielte dort zwar Platten von David Bowie, aber ebenso wichtig war Bowies modische Imagepflege für die Clubgäste. Der selbst ernannte Modeguru Peter York schrieb darüber in den Achtzigerjahren: „Die Musik von Bowie ging Hand in Hand mit dem Look. Seine nächste Inkarnation wurde von den Boys und Girls ebenso nervös erwartet, wie die Modewelt auf Paris wartete. Der Bowie-Look war zu einem Lebensstil geworden.“ Das Billy’s etablierte schon durch die sehr exklusive Einlasskontrolle einen besonderen Way of Life. Die Ethik aus der Mod-Zeit der Sechzigerjahre wurde nun zur neuen Voraussetzung dandyhafter Extravaganz aufpoliert, und deren Erfüllung setzte der selbst ernannte Modepolizist Steve Strange – mit bürgerlichem Namen Steve Harrington, einst Sänger bei den Moor Murderers – als Türsteher gnadenlos durch. Bowie kam auch tatsächlich eines Nachts in den Club, und er übernahm eine Art Schirmherrschaft, indem er das Transvestiten-Promotionvideo für seine Single „Boys Keep Swinging“ 1979 im Billy’s drehen ließ. Ein Jahr später erwies sich Bowies Pierrot-Clownoutfit im Promotionvideo für „Ashes To Ashes“ als deutlich von den seltsamen Erscheinungen im Billy’s beeinflusst, wobei Bowie allerdings seine überlegene Position dadurch demonstrierte, dass er Steve Strange als Komparsen einsetzte.

Inzwischen hatte sich Strange zum „Face“ des Cult With No Name ent­wickelt, worüber Molly Parkin in der Sunday Times schrieb: „Seine überlebensgroße Attitüde war sein Erfolgsgeheimnis. Während die britische Wirtschaft um ihr Überleben kämpft, feuert Steve Strange aus allen Rohren – und liefert ein ­Exempel glänzender Selbstpromotion.“ Im New Musical Express schrieb die Punkjournalistin Julie Burchill weniger enthusiastisch: „Diese neue Masche, Steve Strange et cetera, ist mehr oder minder nichts anderes als Glam-Rock, der zufällig das Lexikon bei ‚romantisch‘ statt bei ‚bisexuell‘ aufgeschlagen hat.“

Aus dem Billy’s wanderte Strange ab ins Blitz, wo eine neue Gruppierung entstand: die Blitz Kids. Boy George war Mittelpunkt dieses nur aus Oberfläche bestehenden Lebensstils, dessen Klamotten und elitäres Gehabe nach Mod-Vorbild eine Flucht aus dem Stempelgelddasein der Arbeitslosen ermöglichten. „Punk bedeutete Sicherheit – wir lebten in einem Wirbel von Augenschatten und Rüschen“, sagt der zu Erfolg gekommene Popstar. „Letztlich war das Ziel, eine Reaktion zu provozieren. Solange ich fotografiert und zur Kenntnis genommen wurde, hatte ich einen Lebenszweck, einen Grund, auszugehen und mich aufzudonnern. Zunächst Tönung und Puder aufs Gesicht, dann eine Tasse Tee trinken, um das einziehen zu lassen. Augen- und Lidschatten wurden mit den Fingern aufgetragen, denn eine Wimpernbürste konnte ich mir nicht leisten. Zuletzt kamen Toupet, Hut und Ohrringe. Danach drehte ich mich eine Ewigkeit vor dem Spiegel hin und her.“

In krassem Gegensatz dazu zeigte sich Georges Liebhaber und Bandkollege in der Gruppe Culture Club, John Moss, entsetzt über die geschwätzige Leere hinter den kokett flatternden Augenwimpern der Clubgäste. „Hübsches Exterieur, tolle Outfits – aber darunter nichts als Schmutz. Da waren kein Esprit, keine gefestigten Überzeugungen und keine Religiosität zu finden. Es war einfach verrucht. Dieses Blitz war wie ein Marsch in die Hölle, es war wie im Berlin der Dreißigerjahre.“ Auch John Foxx, ein ehemaliger Kunststudent und Gründer der britischen Gruppe Ultravox, war nicht beeindruckt: „Zum Rock ’n’ Roll gehört der Geist der Music Hall. Am besten ist in dieser Hinsicht Ray Davies und am schlimmsten die Komödienclownerie der New Romantics. Einmal ging ich selbst ins Blitz, und irgendwie fand ich es auch interessant. Aber weiter ging meine Anteilnahme nicht. Natürlich hieß es hinterher, ich sei auch ein Teil dieser Szene.“

Tony Hadley von Spandau Ballet, eine Zeit lang die Hausband des Blitz, sieht es aus einer anderen Perspektive: „Die Szene im Blitz bestand eben nicht aus einem Rudel hübscher, weibischer Typen, die sich in Pose setzten und über Kunst und Literatur sprachen. Solche Klischees waren doch nur Quatsch. Ins Blitz kamen nur junge Bengels, die total ihren Verstand verloren hatten und nichts anderes wollten, als Tussis abzuschleppen. Wir zogen uns halt zufällig anders an als die Leute in der normalen Popdisco.“

Rotzfrech, gassenschlau, bisexuell, extravagant und realitätsfremd – für eine kurze Zeit war diese namenlose Clubszene eine Art kreativer Absprung aus der zerbröckelnden, stagnierenden Punkszene. Als die Medien erst einmal begannen, die Protagonisten als „New Romantics“ zu etikettieren, blieb für diejenigen, die sich ein bisschen „seltsam“ und „anders“ darzustellen wünschten, als einziger Anreiz dieser Szene nur noch ein Besuch im Boots-Kosmetikladen. Fletcher, Gore und Clarke brachten zwar eine gewisse Toleranz für die aufgedonnerte, populär gewordene Klamottenshow auf – mehr nicht –, aber sie waren doch immerhin so beeindruckt vom kalten, exklusiven Glamour der damaligen Londoner Szene, dass sie Gahan erlaubten, die gemeinsame Band auf einen neuen, pseudoexotischen Namen zu taufen.

Inzwischen probten Composition of Sound schon fast jeden Abend in Vince Clarkes Garage, wobei dessen Mutter sich über das „verdammte Klappern“ der Finger auf den Keyboards beschwerte, an denen sie nur mit Kopf­hörern übten, um niemanden mit der Lautstärke zu belästigen. Gahan kam stets dazu, um mit den anderen zu proben und immer wieder auf dem gemein­samen Skateboard herumzualbern, dazwischen aber auch ernsthaft mit ihnen zu arbeiten. Später durfte die Band in einem Lagerraum der Kirche proben. Fletcher erinnert sich: „Der Vikar erlaubte uns das einfach. Man brauchte nur nett und höflich darum zu bitten und durfte nicht zu laut spielen.“

Der nächste Auftritt der Band nach Gahans höchst nervösem Debüt in der Saint-Nicholas-Schule fand bei einem Bikertreffen im Alexandra Pub in South­end statt. Sie waren schon ein bizarrer Anblick, als sie mit ihren Synthesizern und ihren Futuristenfreunden dort eintrafen, aber sie lösten Begeisterungsstürme aus – sogar die Biker waren hingerissen. Zum frühen Programm von Composition of Sound gehörten viele Songs, die nie auf Platten erschienen, wie „Reason Man“, „Price Of Love“ von den Everly Brothers, „Tomorrow’s Dance“, „Television Set“, „I Like It“ und „Closer All The Time“ (später oft wegen des ähnlichen Klangs fälschlicherweise „Ghost Of Modern Time“ genannt; Anm. d. Lektors). Ein Highlight war „Photographic“, ein Song von seltsamer Atmosphäre, den Gahan merkwürdig und roboterhaft monoton brachte, was seinen früheren Enthusiasmus für Tubeway Army verriet. Gerade dieser Track war ein Favorit des jungen Fans Daryl Bamonte, der für seine Arbeit als Roadie nach einem ausverkauften Abend im Londoner The Venue erstmals Geld bekam: „‚Photographic‘ wirkte ziemlich düster. Und dann gab es noch harte Electro-Stücke wie ‚Television Set‘, ‚Reason Man‘ und ‚Addiction‘.“

Die Band der aufstrebenden jungen Musiker aus Basildon war gerade drei Monate alt, als sie ihre ersten drei Stücke von Vince Clarke, darunter „Photographic“, im Studio aufnahm. Sie beschlossen, mit diesen Songs ihr erstes Demo-Tape zu bestücken. Nachdem sie das Tape verschickt hatten, meldeten sich die Booking-Agenten von zwei winzigen, aber wichtigen Musikclubs bei ihnen. Einer war das Bridgehouse in Canning Town, ein Treffpunkt der Punks. „An den ersten Abenden im Bridgehouse war die Bude fast leer“, sagt Daryl Bamonte. „Mittwochabend waren Depeche Mode die Hausband dort, aber da spielte die Band buchstäblich vor nur einem halben Dutzend Leuten.“

Das andere Angebot kam vom Crocs in Rayleigh. Dort begannen Depeche Mode am 16. August 1980 als Hausband jeweils am Samstagabend die „Synthie-Disco“ zu bestreiten, die sich Glamour Club nannte. Dem Schuljungen Daryl Bamonte kam das Publikum „ziemlich alt vor, es waren Leute so Anfang zwanzig, alle ziemlich im Underground verhaftet und modebewusst. Manchmal kreuzten auch die Gebrüder Kemp von Spandau Ballet auf.“ Mikey Craig von ­Culture Club, ein Stammgast unter den sorgfältig mit Max-Factor-Puder geschminkten und posierenden Trinkern, entsinnt sich der dortigen Gäste als „Rockabillys, Skinheads, New Romantics und Kid-Creole-Imitatoren“.

Craig arrangierte dann auch am 24. Oktober 1981 das erste Livekonzert von Culture Club im Crocs, das sich einige Mitglieder von Depeche Mode anhörten. In seiner Autobiografie Take It Like a Man schreibt Boy George: „Das Crocs war der erste Freakclub von Southend, den die örtlichen Charts-Stars von Depeche Mode berühmt gemacht hatten. Ein recht gemischtes Publikum frequentierte den Club: Büroangestellte und Sekretärinnen, weiß geschminkte Futuristen in Latexkleidung und mit Hundehalsbändern, elegante Typen mit Westwood-Piratenhüten und Rockabillys in entsprechender Aufmachung. Wir waren froh, als wir dort unseren ersten Auftritt hinter uns gebracht hatten. Und das auch noch vor einem prominenten Publikum – Dave Gahan von Depeche Mode war da.“

Stevo, ein junger DJ, der sich schon 1980 in der Electronic-Szene einen Namen als ausgefallener, unberechenbarer, aber einflussreicher Enthusiast gemacht hatte, erlebte Depeche Mode live im Crocs in Rayleigh. „In diesen großen, weitläufigen und gänzlich schmucklosen Raum mit Bar passten viele Leute. Damals verkehrte dort ein ziemlich modebewusstes Publikum. Die Gäste kamen alle hochmodisch aufgeputzt, aber leider begann damals die Mode die Oberhand über die Musik zu gewinnen. Musiker wie die von Spandau Ballet und Duran Duran ärgerten mich, weil ihr Erfolg eigentlich nur daher rührte, dass sie bei einer von der Industrie geschaffenen Szene Trittbrett fuhren. Nach meiner Meinung gehörten sie überhaupt nicht zur elektronischen Szene. Human League, Depeche Mode, Soft Cell – das waren die echten Synthie-Gruppen, die anderen hingegen waren eben nur Rock’n’Roll-Bands in Rüschenhemden.“

Obwohl er die Schule praktisch als Analphabet hinter sich gebracht hatte, verdiente Stevo, dessen bürgerlicher Name Steve Pearce lautet, in einem Arbeitsbeschaffungsprogramm in seinem letzten Schuljahr genug Geld, um mit sechzehn Jahren eine mobile Disco zu pachten. Damit veranstaltete er ab 1979 jeweils am Montagabend im Chelsea Drugstore in der Londoner Kings Road seine „Electronic Music Disco“. Außerdem legte er einmal pro Woche im Clarendon in Hammersmith auf. „In Chelsea habe ich den Tanzboden terrorisiert“, erinnert sich Stevo lachend, „weil ich dort richtige Außenseitermusik spielte, Sachen wie Chrome und Throbbing Gristle neben Kraftwerk und Yellow Magic Orchestra. Danach ging man ins Ritz, wo sie Roxy Music und Bowie spielten und alle schwul waren und jede Menge Make-up trugen. Aus dieser Szene gingen die New Romantics hervor. Auf musikalischem Gebiet war ich damals Anarchist und wollte alle Abgrenzungen und Stilvorschriften beseitigen. Als dann plötzlich in den Zeitungen Reportagen und Fotos von Leuten mit idiotischen Frisuren erschienen, fand ich das sehr frustrierend.“

Weil seine Auswahl tanzbarer Platten auf starkes Interesse stieß, erhielt Stevo das Angebot, eine „Electronic Music Chart“ im Musikmagazin Record Mirror zusammenzustellen und später auch noch regelmäßig eine „Futurist Chart“ in Sounds. „Mir gefiel der Ausdruck ‚Futurist‘ nicht“, sagt Stevo. „Der stammte aus einem Leitartikel in Sounds. Dann wurde er auch noch mit Visage in Zusammenhang gebracht, was sich dann nur noch wie ein Witz anhörte. Die harte, aggressive elektronische Musik konnte sich dagegen einfach nicht durchsetzen.“

Die Bezeichnung „Futurist Chart“ bezog sich auf die futuristische Bewegung in der bildenden Kunst, die zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts aufkam. 1909 hatte der Italiener Filippo Tommaso Marinetti das erste „Futuristische Manifest“ veröffentlicht, das zur Beseitigung der alten Garde in der Kunst aufrief und die jüngere Generation zur Schaffung einer modernen Kunstrichtung aufforderte.

Obschon Stevo dem plakativen Begriff „futuristisch“ misstrauisch gegenüberstand, versuchte er ihn neu zu definieren, indem er seine Charts mit den Demo-Tapes bestückte, die ihm aufstrebende Bands zuschickten. „Ich bekam eine Menge gutes Material und erwog, daraus eine Compilation zu machen, bei der ich auch Depeche Mode dabeihaben wollte“, berichtet Stevo.

Depeche Mode fühlten sich zwar geschmeichelt von Stevos Angebot, auf einer „Futuristen-Compilation“ dabei zu sein, hatten aber dennoch Bedenken und zögerten. Lieber wollte man das Demo-Tape den verschiedenen Platten­firmen anbieten, doch leider lehnten es alle ab. „Keine Plattenfirma wollte das Tape haben“, sagte Fletcher 1981. „Stiff Records schickten uns sogar einen richtig sarkastischen Brief, so etwa: ‚Hallo, ihr aufkeimenden Superstars …‘“

Und Dave Gahan erinnert sich: „Vince und ich besuchten an die zwölf Firmen am Tag. Das Independent-Label Rough Trade war unsere allerletzte Hoffnung. Die haben doch sowieso schon ein paar ziemlich schlimme Bands unter Vertrag, dachten wir – aber selbst die lehnten uns ab. Sie wippten zwar mit den Füßen, als sie das Tape hörten, und wir glaubten schon, wir hätten’s geschafft – aber dann sagten sie: ‚Das ist zwar schon ganz toll, aber es ist einfach nicht Rough Trade.‘“

An jenem Tag hielt sich im Büro von Rough Trade ein neunundzwanzigjähriger unabhängiger Labelchef auf, der als Musiker und Unternehmer schon an vorderster Front der Electronic Music gestanden hatte. Daniel Miller hatte schon Synthesizermusik gehört, als er an der Kunstschule von Guildford von 1968 bis 1971 an einem Film- und Fernsehkurs teilnahm. „Ich war schon immer ein großer Musikfan gewesen, und ich wuchs in den Sechzigern auf, einer großartigen Zeit für Rock- und Popmusik. Zwischen 1964 und 1968 hatte es eine Explosion der verschiedensten Stilrichtungen gegeben, aber gegen Ende der Sechzigerjahre, als ich mein Studium am College anfing, hatte ich genug vom Rock. Es schien keinerlei Experimente mehr zu geben, und so wurden Free Jazz und Electronic Music die beiden einzigen Musikrichtungen, die mich noch inter­essierten. Ich entdeckte deutsche Bands wie Can, Faust, Amon Düül und, ein wenig später, Neu! und Kraftwerk. Was die machten, fand ich unglaublich originell und aufregend. Sie schufen neue Klänge, die ich wirklich hören wollte. Damals sah ich auf Brian Eno, Roxy Music und David Bowie ein wenig hinab, denn ich war begeistert von Neu! und Kraftwerk, und ich fand, dass die britischen Bands all diese neuen Ideen zu nichts anderem benutzt hatten, als sie in Pop umzusetzen. Und ich hasste die britischen Progressive-Rock-Bands wie Emerson, Lake & Palmer, weil ich mich nun mal für die deutsche elektronische Musik begeisterte.“

Nachdem er sich in der Schweiz als Disco-DJ betätigt hatte – „Damals war ich im Grunde vor allem ein Skiabhängiger“ –, kehrte er zurück nach England, als Punk seinen Zenit erreicht hatte. „Punk reizte mich sehr wegen der Energie und der Aufregung, die damit zusammenhing. Ich war nie der Meinung, dass Musikmachen bedeutet, unglaublich tolle Soli zu spielen und riesige Mengen Gerätschaften mit sich zu führen, und so fand ich diese Do-it-yourself-Attitüde des Punk großartig.“

Diese Haltung schwappte auch in die neu entstehende Electronic-Szene über. „Synthesizer waren so billig geworden, dass man sie sich leisten konnte“, erklärt Miller, „und durch Punk war es zu einer kreativen Explosion gekommen, sodass es jetzt englische Bands wie Cabaret Voltaire und Throbbing Gristle gab, die wirklich interessante elektronische Musik machten. All diese Umstände bewogen mich, nun auch etwas für mich zu tun – und wenn auch nur zum Spaß. Ehe ich in die Schweiz ging, hatte ich schon beim Film gearbeitet. Also verdingte ich mich nach meiner Rückkehr wieder beim Film, um ein bisschen Geld zu verdienen. Ich hatte die verrücktesten Arbeitszeiten, aber ich konnte mir dann einen billigen Synthesizer und eine Vierspurbandmaschine leisten.“

Miller gründete seine eigene One-Man-Band, The Normal, und nahm zwei Songs auf, „T.V.O.D.“ und „Warm Leatherette“, inspiriert von J. G. Ballards Roman Crash und später von Grace Jones interpretiert. „Ich glaube, ich nannte das Projekt The Normal, weil ich jegliches Geheimnis darum vermeiden und den Namen ganz simpel klingen lassen wollte“, sagt Miller, der sich nur sehr selten interviewen lässt. Sein rätselhaftes Projekt rundete er ab, indem er noch ein eigenes Label für seine Musik gründete: Mute Records.

Der unauffällige Musiker hatte kein Interesse, mit seinem Material an eine der großen Plattenfirmen heranzutreten. „In den Musikzeitschriften gab es viele Artikel darüber, wie man seine eigene Single aufnehmen konnte“, entsinnt er sich. „Es war ganz einfach und nicht allzu teuer, ein paar Testpressungen zu machen, also tat ich das.“ Der selbst ernannte Labelchef hatte indes keine Ahnung von Vertrieb und Verkauf und landete deshalb eines Tages im Rough-Trade-Laden in der Londoner Portobello Street. Ursprünglich war dieser Laden eine wichtige Verkaufsstelle für Punk- und Indie-Platten gewesen, aber seit 1978 hatte sich Rough Trade zu einem Plattenlabel und Vertriebsnetz erweitert, das die Karrieren von Künstlern wie Cabaret Voltaire, The Fall und Augustus Pablo förderte.

Daniel Miller spazierte also in diesen Laden und sagte, er habe eine Testpressung seiner Single und ob man daran interessiert sei, wenn er noch mehr Kopien davon machen lasse. „Ich traf den Boss von Rough Trade, Geoff Travis, und wir gingen ins Hinterzimmer. Dann spielten sie ‚Warm Leatherette‘, und ich dachte ‚Ogottogott!‘, denn bis zu diesem Moment hatte ich noch nie jemandem meine Musik vorgespielt. Aber die Rough-Trade-Leute waren sehr angetan von dem, was sie hörten, und wollten mich bei der Pressung von zweitausend Kopien unterstützen, wenn ich ihnen den Vertrieb überließe. Und so machten wir es dann auch. Die Single kam im Mai 1978 heraus, bekam einige gute Kritiken und war schon sehr bald ausverkauft.“

Der scheue, zurückhaltende Miller sagt, er sei „bestürzt“ gewesen über den Beifall der Kritik für sein Erstlingswerk, und er beschloss, seine Möglichkeiten weiter auszuloten: „Mit der Zeit lernte ich die Leute bei Rough Trade richtig gut kennen. Ich hielt mich oft im Laden auf und half ihnen aus. Dann bekam ich das Angebot, live aufzutreten und zu spielen, und dachte mir gleich: ‚Das schaffst du niemals allein.‘ Ich hatte kurz zuvor Robert Rental kennengelernt, der ebenfalls Synthie-Musik in seinem Schlafzimmer fabrizierte. Wir freundeten uns an und beschlossen, eine kleine Gruppe eigens für diesen Gig zu gründen, bei dem keiner von uns beiden allein auftreten mochte. Organisiert hat das Ganze übrigens DJ Colin Favor, der jetzt Techno-DJ ist, als eine Art Feier zu Ehren des neuen Genres der Electronic Music. Außer uns waren noch Throbbing Gristle und Cabaret Voltaire dabei.“

Aus diesem einen Gig wurde eine Rough-Trade-Tournee, wobei Miller und Rental als Vorgruppe von Stiff Little Fingers spielten. „Das war zwar anstrengend, machte uns aber dennoch viel Spaß“, sagt Miller. „Wir kamen dabei höchst miserabel an. Stiff Little Fingers waren eine konventionelle Punkband, während wir beide nur mit Synthesizern und einem Playback-Tape auf die Bühne kamen und eigentlich nur Lärm machten, denn wir spielten ja keine richtigen Songs.“ Als Miller von der kurzen Tournee wieder nach Hause kam, fand er einen Berg von Demo-Tapes vor – von Musikern, denen The Normal gefallen hatte und die nun ebenfalls mit Mute ins Geschäft kommen wollten. „Ein Tape gefiel mir wirklich. Es war von einem Sänger namens Fad Gadget. Der Beschluss, mit ihm zusammenzuarbeiten, wurde zu einem Wendepunkt für mich.“

Fad Gadget war die Schöpfung des Kunststudenten Frank Tovey aus Leeds, der düstere Elektronik mit schwarzhumorigen Schilderungen städtischen Lebens mischte. Seine Single „Back To Nature“ war 1979 die nächste Scheibe, die nach The Normal auf dem winzigen Mute-Label erschien, das Miller von seiner Wohnung im Nordwesten von London aus betrieb. Während die nächsten Singles erschienen, „Ricky’s Hand“ und „Fireside Favourites“, entwickelte der innovative Fad Gadget einen harten, rhythmischen Synthie-Stil und eine extreme, selbstzerstörerische Bühnenpersönlichkeit, mit der er seiner Zeit weit voraus war. Trent Reznor von Nine Inch Nails zum Beispiel schuldet dem schöpferischen Einfluss von Frank Tovey Dank, obschon Fad Gadget längst nicht mehr existiert und als Toveys Alter Ego vergessen ist.

Im Lauf des folgenden Jahrs gaben Mute experimentelle Platten von Non heraus. Hinter diesem Namen verbarg sich der aus San Francisco stammende Musiker Boyd Rice, der kompromisslose Außenseiter-Synthie-Musik machte. Darunter waren auch Singles, in deren Mitte Rice persönlich vier Löcher zur „multiaxialen Umdrehung“ bohrte und die sich in verschiedenen Geschwindigkeiten abspielen ließen. Das erste Mute-Album war Die Kleinen und die Bösen von der Deutsch-Amerikanischen Freundschaft (DAF), eine LP mit minimalistischer elektronischer Tanzmusik, die spätere Trends wie Industrial und Techno beeinflusste.

Daniel Miller erfand auch die Silicon Teens, eine imaginäre, jugendliche Synthie-Band, die angeblich die Popkultur neu definierte, indem sie ein Album klassischer Rock’n’Roll-Songs herausbrachte, darunter „Memphis Tennessee“ von Chuck Berry und „Just Like Eddie“ von Heinz. Music For Parties von den Silicon Teens wurde ein Kultfavorit – einige große Plattenfirmen machten Mute sogar Angebote, die Silicon Teens zu übernehmen, wobei sie natürlich nicht wussten, dass es eine solche Band überhaupt nicht gab. Das bestätigte Millers Überzeugung, dass eine neue Form von Teenagerpopgruppen, die ausschließlich Synthesizer spielten, Anfang der Achtzigerjahre aufkommen werde.

Miller räumt wohl ein, dass Gary Numan der erste Solostar des Synthie-Pop war. Er weist aber darauf hin, dass auf Numans Alben auch Gitarren, Schlagzeug und Saiteninstrumente zu hören sind: „Numan war gut, und er ließ sich auch weitgehend auf die elektronische Popkultur ein. Ich mochte das Album Blue von Tubeway Army, das anfänglich auf blauem Vinyl herauskam. Es war eine wirklich gute Platte, aber für mich als Puristen nicht rein genug, denn da gab es immer noch Schlagzeug und Gitarre.“ Miller erläutert weiter: „Synthie-Pop-Musik war historisch unvermeidbar. Etwas Derartiges hatte es noch nie gegeben, aber dann kamen plötzlich viele Singles fast gleichzeitig heraus. Sie alle entstanden aus der Liebe zu elektronischer Musik, mit billigen Synthesizern und dank der Inspiration durch Punk.“

Millers Leidenschaft für innovative Synthie-Künstler machte ihn zum offenkundigen Ansprechpartner, als Depeche Mode Ende 1980 zu Rough Trade kamen. „‚Wie wär’s denn mit diesem Mann?‘, sagten sie und zeigten auf Daniel, der gerade ins Büro gekommen war“, erinnert sich Gahan. „Doch er warf uns nur einen Blick zu, murmelte ‚Igittigitt‘ und ging sofort wieder raus, wobei er die Tür hinter sich zuknallte.“ Und Vince Clarke ergänzt: „Verschiedene Leute hatten uns schon gesagt, was wir machten, sei nicht ihre Art von Musik, aber wir sollten es doch mal Daniel vorspielen, weil der sein eigenes Label aufbaute. Aber Daniel war wirklich schlecht drauf, als wir ihm bei Rough Trade begegneten. Und so sagte er nur, es gefalle ihm nicht, und stürmte davon.“ Clarke und Gahan berichteten Martin Gore nach ihrem Besuch bei Rough Trade, Daniel Miller sei ein „reichlich grantiger alter Bastard“. Für Gore, einen Fan von Fad Gadget, war Miller aber ein Idol.

Zwanzig Jahre später erzählt Miller gern seine Version der Geschichte: „Es war im Herbst 1980, und irgendwas war bei der Herstellung der Plattenhülle für eine Fad-Gadget-Single schiefgelaufen, worüber ich mich furchtbar ärgerte. Scott Piering, einer der wichtigsten Promoter im Land, der bei Rough Trade arbeitete, wollte mir ein Tape geben, weil er meinte, ich hätte vielleicht Interesse daran. Aber ich sah diese vergammelt aussehenden New-Romantics-Typen da rumsitzen und rannte raus, und das war alles. Ich habe mir das Tape noch nicht einmal angehört, ich sagte nur: ‚Keine Zeit, hab’s eilig!‘“

So verpasste Miller seine erste Gelegenheit, und Stevo kam zum Zug, der gerade seine eigene Plattenfirma, Some Bizzare, aufmachte, um seine lang geplante Compilation mit Demos der Futuristen herauszugeben. „Depeche Mode waren an einem meiner Abende in Canning Town im Bridgehouse, und wir unterhielten uns über mein Label und das Some Bizzare Album“, entsinnt sich der unternehmungslustige Stevo. Bei der Erinnerung daran lacht Vince Clarke: „Wir waren jung und leicht zu beeindrucken, und Stevo versprach uns unter anderem, er könne uns eine Tournee als Vorgruppe von Ultravox besorgen, was für uns wie die Erfüllung eines Traums klang.“ Die Band ließ sich zwar von Stevos Enthusiasmus mitreißen, blieb aber wie immer zurückhaltend und war noch keineswegs bereit, irgendeine Verpflichtung einzugehen.

„Etwa einen Monat nach unserem ersten Zusammentreffen sah ich sie spielen“, erzählt Daniel Miller, der nun seine zweite Chance bekam. „Dabei brachte ich sie aber nicht mit jener Band in Verbindung, der ich im Büro von Rough Trade begegnet war. Sie spielten als Vorgruppe für Fad Gadget im Bridgehouse in Canning Town, und ich fand sie einfach brillant. Fad Gadget hatte gerade den Soundcheck hinter sich, und normalerweise wäre ich mit ihm und der Band weggegangen, aber aus irgendeinem Grund blieb ich und beobachtete diese Gruppe, die aussah, als wäre sie eine miese New-Romantics-Band. Ich hasste die Neuen Romantiker, aber was da aus den Lautsprechern kam, das war einfach unfassbar. Zuerst dachte ich: ‚Nun ja, der erste Song ist bei allen gut.‘ Aber es wurde immer besser. Die meisten Songs, die sie an diesem Abend spielten, landeten tatsächlich auch auf dem ersten Album. Und sie waren unglaublich bescheiden. Dabei muss man bedenken, dass damals Leute wie ich, die irgendeine Art von künstlerischem Hintergrund hatten, die meiste elektronische Musik machten – Gruppen wie The Human League oder Cabaret Voltaire. Wir waren auch alle schon etwas älter und hatten daher einen starken Krautrock-Einfluss.“

In seinem Kopf hatte Miller „eine Vision von einer viel jüngeren Band aus der elektronischen Szene. Das war im Grunde auch das Konzept hinter meiner imaginären Gruppe Silicon Teens. Die gab es zwar in Wirklichkeit gar nicht, aber wir stellten sie als erste rein elektronische Teenagerpopgruppe der Welt dar. Es brauchte nicht viel Fantasie, sich vorzustellen, dass diese Musiker als erste Instrumente Synthesizer statt Gitarren spielten. So sah ich auch damals Depeche Mode, obwohl mir später klar wurde, dass das eigentlich nicht stimmte, denn sie konnten ja durchaus auch Gitarre spielen.“

Miller traf die Jungs nach dem Konzert hinter der Bühne und sagte: „Ich würde wirklich gern was mit euch machen, zum Beispiel eine Single.“ In der Woche darauf sah er sie wieder. „Damals arbeitete ich mit Boyd Rice von Non zusammen, der mit mir zum zweiten Gig kam, und auch er war total überwältigt. Ich hatte ein weiteres Gespräch mit den Jungs, und das war’s dann auch.“ Gahan entsinnt sich: „Daniel sagte, er könne eine Platte von uns rausbringen. Wenn wir danach nicht mehr bei ihm bleiben wollten, seien wir nicht dazu ver­pflichtet. Es war das ehrlichste Angebot, das wir bislang bekommen hatten.“ Vince Clarke dazu: „Wir konnten uns zunächst nicht entscheiden, welches Angebot wir nun annehmen sollten, denn Stevo war ja auch an uns inter­essiert. Warum wir schließlich Daniel die Zusage gaben, weiß ich gar nicht mehr, aber so fing damals alles an.“

Die neuen Partner besiegelten ihre Vereinbarung per Handschlag und nicht durch einen schriftlichen Vertrag. Miller wollte unbedingt eine rebellische, unabhängige Atmosphäre bei seinem Label walten lassen, was die Künstler wie auch die Geschäftsmethoden anging. Mute waren eine noch sehr kleine Firma, als Depeche Mode als dritte Gruppe zu Fad Gadget und Non hinzukamen. „Damals hatte ich nur einen einzigen Angestellten“, sagt Miller im geschäftigen, modernen Firmensitz in der Londoner Harrow Road, wo heute zahlreiche Beschäftigte arbeiten. Ende 1980 betrieb Miller die Firma noch von seiner Privatwohnung in Nordlondon nahe Golders Green aus.

Obwohl Miller und Depeche Mode immerhin eine formlose und mündliche Vereinbarung getroffen hatten, wartete aber auch Stevo immer noch im Hintergrund auf seine Chance. Der Einzelgänger sagt: „Die Jungs von Depeche Mode waren sich sehr unschlüssig, ob sie sich Mute anschließen sollten oder Some Bizzare, denn wir hatten gute Möglichkeiten, sie bei den Medien bekannt zu machen. Also ging ich bei einem Gig backstage und sagte Daniel: ‚Ich habe Depeche Mode gerade versichert, dass du ein großartiger Mensch bist und sie sich für dich entscheiden sollten.‘ Ihnen sagte ich, dass Daniel grundehrlich und vertrauenswürdig ist. Damals hatte ich The The und Soft Cell auf meinem Label, und Daniel hatte Fad Gadget. Damit war er künstlerisch auf dem richtigen Weg. Seither pflegten wir immer gute Beziehungen. Wenn ich in Schwierigkeiten geriet, hat mir Daniel immer ausgeholfen.“

Miller bestätigt, dass der exzentrische, lebhafte und instinktsichere Pionier Stevo eher ein Verbündeter als ein Rivale war: „Ich hatte schon seit Ewigkeiten mit Stevo zusammengearbeitet. Als er noch DJ war, schickte ich ihm immer unsere Mute-Platten zu. Dann machte er Promotion für Konzerte im Clarendon unter dem Motto ‚Stevo’s Electronic Parties‘. Alle unsere Bands waren dabei – DAF, Fad Gadget, Boyd Rice. Wir waren richtig gute Freunde, und Stevo erzählte mir von seinem geplanten Some Bizzare Album. Er wollte für das Projekt Throbbing Gristle, Cabaret Voltaire und mich gewinnen. Wir bekamen eine Menge Demo-Tapes zugeschickt, und er wollte alle diese jungen Bands, von denen niemand jemals etwas gehört hatte, auf der Platte haben. Zwischen uns gab es keinerlei Rivalität. Ich hatte Soft Cell schon lange vor Stevo gehört, denn Frank Tovey war mit Marc Almond von Soft Cell auf dem College gewesen. Stevo hatte Depeche Mode ein paar Tage vor mir live erlebt, aber er begeisterte sich restlos für Soft Cell – und ich für Depeche Mode. Da sagte er: ‚Also gut, du nimmst Depeche Mode, und ich nehme Soft Cell.‘ Ich glaube, Depeche Mode wollten sowieso lieber mit mir zusammenarbeiten – aber schließlich kam es dann doch so, dass ich die Single ‚Memorabilia‘ von Soft Cell produzierte und dass Depeche Mode auch einen Song zu Stevos Some Bizzare Album beisteuerten.“

Stevo erinnert sich daran, wie Daniel Miller und Soft Cell „Memorabilia“ einspielten. „Ich kam um halb elf Uhr vormittags ins kleine Studio im East End. Ich war betrunken. Es war Daniels Geburtstag, und er war die ganze Nacht auf gewesen. Also sagte ich: ‚Happy birthday, Daniel.‘ Und er kotzte den Fuß­boden voll. Das stank. Noch immer bin ich davon überzeugt, dass die Platte dadurch ihren scharfen Klang bekam. Hat je einer versucht, unter solchen Umständen eine Platte zu produzieren? Ich wollte nur so schnell wie möglich wieder raus.“

Ende 1980 gingen Depeche Mode in ein Studio im Osten von London, um „Photographic“ für das Some Bizzare Album einzuspielen. „Ich wollte für Stevos Album einen wirklich guten Song liefern, aber nicht unbedingt den allerbesten“, sagt Miller, der bei dieser Aufnahme als Produzent einsprang. Die Band baute ihre Ausrüstung auf, und ihr neuer Mentor bat sie, „Dreaming Of Me“, „Ice Machine“ und „Photographic“ live zu spielen. Ihre Instrumente waren damals ein Moog-Prodigy-Synthesizer, ein Yamaha C55, ein kleiner Kawai-­Synthie und eine Dr. Rhythm, eine sehr einfache, programmierbare Drum Machine. Miller hatte einige Synthesizer, die ein wenig, aber nicht allzu viel raffinierter waren, darunter einen ARP 2600, einen Synthie in Modulbauweise mit zusätzlichem Analogsequenzer. „Vince sagte nur ‚Wow!‘, als er das sah“, lacht Miller. „Er war am meisten vom Sequenzer beeindruckt, denn er wollte einen sehr präzisen Klang haben, also benutzten wir den für ‚Photographic‘. Wir schafften den Track sehr schnell; innerhalb nur eines Tages war er eingespielt und abgemischt.“

Daniel Miller fand es toll, eine Teenagerpopband entdeckt zu haben, die auch noch eine ganz einfache, rein elektronische Gruppe war. „Das Besondere an Depeche Mode war die minimalistische Art zu spielen; da gab es keinen Ton und keine Passage, die nicht unbedingt da zu sein hatten. Diese Musik war rein funktional. Und das war auch die einzige Art zu spielen, denn die vier hatten ja nur das allereinfachste Equipment. Sie hatten nur monofone und keine polyfonen Synthesizer, auf denen sie immer nur eine Note zur gleichen Zeit spielen konnten, keine Akkorde. Aber sie wussten diese Beschränkungen gut zu nutzen. Ich hatte schon viele Tapes mit sehr aufwendiger, vielschichtiger Musik geschickt bekommen, die aber nicht sehr gut waren. Depeche Mode hingegen waren so gänzlich unaufwendig, und genau das gefiel mir.“

Millers ehrgeizige puristische Einstellung zu elektronischer Musik war zum Teil von der minimalistischen Art von Kraftwerk inspiriert, die auf den höchst einflussreichen Alben Die Mensch-Maschine und Trans Europa Express in den Siebzigerjahren zu hören war. Ralf Hütter von Kraftwerk sagt dazu: „Wir können eine Idee mit ein oder zwei Noten rüberbringen, und das ist besser, als es mit etlichen Hundert Noten zu versuchen. Bei unseren Musikmaschinen kommt es nicht darauf an, sie mit Virtuosität zu bedienen – alle Virtuosität, die wir brauchen, steckt in den Maschinen. Also konzentrieren wir uns bei unserer Arbeit auf einen sehr unmittelbaren Minimalismus.“

Ende 1980 erschienen Depeche Mode zum ersten Mal in der Presse, als das Evening Echo von Basildon einen Artikel über die Band brachte. Der Verfasser meinte: „Sie könnten eine große Zukunft haben, wenn ihnen nur jemand mal einen guten Schneider empfähle.“ Fletcher bestätigte das Bekleidungsproblem: „Ich trug damals Jogginganzüge, Fußballsocken und Hausschuhe. Martin bemalte sein Gesicht zur Hälfte weiß, und Vince sah aus wie ein Flüchtling aus Vietnam. Er legte seinem Gesicht Sonnenbräune auf, färbte seine Haare schwarz und trug ein Stirnband.“ Boyd Rice erinnert sich an sein erstes Zusammentreffen mit Vince Clarke im Londoner Bridgehouse: „Er sah aus wie die Schauspielerin Lucille Ball.“

Depeche Mode - Die Biografie

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