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Leave In Silence

1982

Alan Wilder spielte seinen ersten Gig mit Depeche Mode im Januar 1982 im Crocs in Rayleigh, kurz bevor die Band zu ihrer US-Tournee aufbrach. „Daryl Bamonte war immer dabei“, erzählt der Keyboardspieler, „seit die Band in ihren frühen Tagen im Crocs in Hausschuhen und mit gepuderten Haaren aufgetreten war. Und er sah immer noch so aus, als sei er gerade zwölf Jahre alt. Damals waren er und Dave einfach unzertrennlich.“

Inzwischen hatte Daniel Miller amerikanische Visa für die Band beantragt und war dabei auf ein Problem gestoßen – Dave Gahans Jugendstrafregister war es wider Erwarten nicht, aber nun kam heraus, dass Alan Wilder wegen Ladendiebstahl vorbestraft war, wovon er bei seiner Einstellung nichts gesagt hatte. „Als ich siebzehn oder achtzehn war, stahl ich mit meiner Freundin ein paar Lebensmittel, weil wir völlig pleite waren, und dabei wurden wir erwischt“, gestand er zwanzig Jahre später.

Das Problem ließ sich aber ausräumen, und so spielte die Band am 22. und 23. Januar zwei Gigs im New Yorker Ritz. Beide Auftritte waren gut besucht dank des Underground-Erfolgs von „Just Can’t Get Enough“ und nicht zuletzt auch wegen des Enthusiasmus von Seymour Stein. Speak And Spell kam in den USA offiziell im Frühling 1982 heraus und schaffte es, in den Top 200 auf Platz 192 zu „kriechen“. Das Album erntete jedoch gemischte Kritiken, weil die Amerikaner „Rockdynamik“ vermissten. Die an Kraftwerk erinnernde Kombination von synthetischer Reinheit und eingängigen Popmelodien gefiel zum Beispiel nicht der Trouser Press: „Depeche Mode benutzen kommerzielle Songrezepte mit fast unfehlbarer Präzision. Drei Minuten davon können ganz vergnüglich sein, mehr jedoch zwingt einem die Erkenntnis von deren Begrenztheit auf. Die simple und voraussagbare Tonpalette (nur Synthesizer) erhöht die Schwierigkeiten.“

Die Gruppe kehrte genau zum Zeitpunkt des Erscheinens ihrer vierten ­Single am 29. Januar 1982 nach England zurück. „Das ist ein richtig schöner, schmusiger Song“, fand Gahan. „Es war das erste rein elektronische Stück.“ Obwohl „See You“ nicht gerade einer ihrer besten Songs ist, war er doch von entscheidender Bedeutung, denn er erreichte mit Platz 6 die bis dahin höchste Position in den Charts – und das ohne Hilfe von Vince Clarke, der ihnen nach seinem Abschied noch einen neuen Song angeboten hatte, „Only You“. Sie hatten ihn mit der Begründung abgelehnt, er klinge allzu sehr wie ein anderes Stück, und Clarke zog beleidigt ab. Später landete er mit „Only You“ und seinem neuen Projekt Yazoo einen Nummer-2-Hit.

„See You“ beeindruckte die Beobachter sehr. Aber zu diesem Zeitpunkt durchliefen Depeche Mode eine seltsame Übergangsphase. Die deftigen, missmutigen Keyboardtöne von „See You“ passten nicht recht zum schrecklich banalen Teenagertext. Die Popneulinge wussten außerdem noch immer nicht, wie sie sich oder ihre Musik präsentieren sollten. Manchmal trugen sie ein­fache Anzüge, dann wieder Pullover, und schließlich waren sie auch mal in Leder gekleidet. Bei einer Fotosession zeigten sie sich gar im weißen Cricketdress und hielten Schläger in den Händen. Der magere, rothaarige Fletcher denkt zurück: „Nach 1982 fingen wir an, einfach ganz normal aufzutreten: Was wir auf der Bühne trugen, war unsere Alltagskleidung. Es war stets ein Problem für uns, kein definitives Image zu haben. Wir wirken zu prätentiös, wenn wir versuchen, etwas zu tun oder zu tragen, was uns nicht entspricht. Aber wenn wir uns ganz natürlich geben, wirken wir ziemlich anonym. Die Band mit dem besten Image in der Welt sind Pink Floyd – eine wahrhaft gesichtslose Gruppe.“

Ein anderes Problem war die ideologische Verwirrung im Depeche-Mode-Kader über die etwaige Nutzung solcher „Wertlosigkeiten“ wie Teenmagazine und Kinderfernsehen – und auf der anderen Seite das wachsende Verlangen, die Karriere der Band mithilfe von Wochenmagazinen wie dem NME und dem Melody Maker und glaubwürdigeren Musikprogrammen aufzubauen. Daniel Miller stellte Chris Carr als Pressesprecher ein, woraufhin die Gruppe eine ähnliche Publicity wie Siouxsie and The Banshees oder The Associates bekam. Carr wusste sehr wohl um das Imageproblem von Depeche Mode. Immerhin gab es schon wegen ihrer farblosen Musik ein Spott- und Schmähgedicht des Punkpoeten Attila the Stockbroker: „Nigel Wants To Go And See Depeche Mode“. „Ich fand viele ihrer frühen Songs einfach grauenhaft“, sagt Carr, womit er nicht allein stand. „Als Band waren sie wirklich schlapp, echte Luschen. Sie waren so unsicher, wer sie wirklich waren und wie sie erscheinen sollten. Nach dem Weggang von Vince kam ein Punkt, an dem wir uns plötzlich darüber klar wurden, dass wir mit dieser Gruppe etwas in der Hand hatten, was gesteuert und in die richtige Richtung gelenkt werden musste, wenn wir es nicht verlieren wollten. Also suchten wir die seriöse Bestätigung ihres Werts durch den NME. Auf der anderen Seite gab es ihren Radiopromoter Neil Ferris und den Sender Radio One, die für Depeche Mode Dauerwerbung machten.“

Wie Gore bestätigt, hatte die Band kaum einen Begriff von ihrem Image und nur wenig Kontrolle: „Als Speak And Spell 1981 herauskam, waren wir achtzehn Jahre alt. Wir waren jung und naiv, wir hatten einfach keine Ahnung. Von einem Tag zum anderen wurden wir ins Fernsehen geholt und der Presse präsentiert, und damals dachten wir, wir müssten jedes Interview geben, um das man uns bat, und wir machten uns keine großen Gedanken um unser Image. Wir brauchten lange, bis wir wirklich begriffen, was Sache war, wie wir unser Image in den Griff bekommen konnten und was wir der Welt mitteilen wollten.“

Alan Wilder erinnert sich an seine ersten Auftritte im Fernsehen mit unverhohlenem Schauder: „Das Schlimmste war die Show, die wir in Alton Towers abziehen mussten. Da mussten wir zu einem Song in den Gärten flanieren und so tun, als ob wir sängen. Wir hatten die Hände in den Hosentaschen und total scheußliche Klamotten an. Das war der übelste Moment von Depeche Mode.“

Nach dem ersten Top-10-Erfolg fing die Band mit den Proben für ihre zweite britische Tournee im Februar an. „An dieser Tour war Daniel sehr aktiv beteiligt“, sagt Wilder, der nun vom Mute-Chef auch mehr in die Synthesizer- und die elektronische Musik eingeweiht wurde. „Er hatte viel vom analogen Sound auf Speak And Spell programmiert, und er programmierte auch alle Keyboards für die Auftritte auf der Tournee. Wir probten in den Blackwing-Studios, wo wir das Vierspurbandgerät und zwei Lautsprecher vor uns aufstellten, die Tapes des Albums abspielten und dazu drei Keyboards bedienten. Martin sagte mir, welche Teile der Musik ich auf meiner ersten Tour zu spielen hatte – und das war eigentlich schon alles.“

Am 10. Februar 1982 spielten Depeche Mode zunächst in der Sendung In Concert von Radio One, ehe sie zum offiziellen Auftakt der Tournee im Top Rank in Cardiff auftraten. Die Fünfzehn-Tage-Tour durch ganz Großbritannien entwickelte sich zu einer wahren Orgie an Teenagerhysterie; die zwei Konzerte im Londoner Hammersmith Odeon waren ausverkauft. Gahan, der im Mittelpunkt der Bewunderung stand, erlebte zum ersten Mal die hemmungslose Verzückung und das Gekreische der Teenies, die über ihn herfielen, als er sich im Londoner Camden Palace zeigte: „Die haben mich beinahe in Stücke gerissen, es war beängstigend. Ich wurde sofort umringt und konnte kaum entkommen. Sie grapschten nach mir, rissen an meinen Klamotten, zerrten mich an den Haaren – ich bekam solche Angst, dass ich davonrannte und mich im Klo versteckte. Es war eines meiner schlimmsten Erlebnisse – diese Kids können einen umbringen.“

Auch Wilder erzählt: „Die Reaktion der Fans war einfach überwältigend. Wir kamen auf die Bühne und fingen an, unsere simplen Popsongs zu spielen – und schon drehte das Publikum völlig durch. Da wusste ich, dass das nicht einfach nach einer Nacht vorbeigehen würde.“ Der angeheuerte Wilder hatte nun reichlich Gelegenheit, sich mit seinen neuen Kollegen anzufreunden, nachdem er bei der Einspielung von „See You“ noch nicht dabei gewesen war. „Auf diese Tour nahmen sie alle ihre Freundinnen mit“, erinnert er sich. „Dave wurde richtig fett, denn er saß immer im Tourbus zusammen mit Joanne, und sie stopften pausenlos Mars-Riegel und andere Süßigkeiten in sich hinein. Alle hatten ihre Wollpulloverphase, als ich sie kennenlernte. Ich war als Neuling natürlich lieb und nett zu ihnen, aber eben auch ein bisschen normaler und lebenserfahrener.“ Grinsend kommentiert Daryl Bamonte: „Auch Alan trug damals ständig Pullis, und er hatte immer einen lächerlichen, endlos langen Doctor Who-Schal um, den wir alle nicht ausstehen konnten. Den haben wir ihm geklaut und weggeschmissen.“

Ohne Schal und zwanzig Jahre später sagt Wilder: „Es war nicht so einfach, sich ihnen anzupassen. Ich würde sogar behaupten, dass ich im Grunde nie zu ihnen gepasst habe. Sie bildeten eine eng verschworene Einheit, und das sind sie eigentlich heute noch, zumindest Martin und Fletch. Aufgrund ihrer besonderen Herkunft – als Kids der Arbeiterklasse waren sie alle gemeinsam zur Schule gegangen – klebten sie förmlich aneinander und waren irgendwie nicht von dieser Welt.“

Dazu sagt Daryl Bamonte: „Alan war so ein ‚Nouveau Hippie‘ aus Hammersmith. Er war aufs Gymnasium gegangen, während die anderen aus der Volksschule von Basildon kamen. Er fand uns einfach nicht erwachsen genug. Ich weiß noch, wie wir im Lyceum spielen sollten und die Bühne noch nicht fertig war. Da spielten wir Fangen miteinander, und die Bühnencrew fragte sich: ‚Wer zum Henker sind denn diese Kids?‘ Ich glaube, diese Seite unseres Benehmens hat Alan nie recht verstanden. Nicht dass es ihn störte, aber unserer bescheuerten Mentalität konnte er sich nie ganz anpassen.“

Der gewandte Westlondoner beobachtete auch die seltsame Dynamik innerhalb der Band: „Fletch und Martin hatten eine merkwürdige Beziehung, die ich gar nicht richtig zu beschreiben weiß. Sie gingen wie Laurel und Hardy miteinander um. Die Rolle von Fletch schien darin zu bestehen, der Kumpel von Martin, gelegentlich sogar seine Stimme zu sein. Die beiden sind unzertrennlich. Ich glaube, Martin könnte gar nicht bei Depeche Mode sein, wenn Fletch nicht wäre. Und das ist die Rolle, die Fletch zu spielen hat – er muss für Martin da sein. Das ist auch bitter nötig, denn es ist äußerst schwierig, zu Martin durchzudringen. Das darf man nicht missverstehen, denn ich mag Martin sehr gern, er ist in vielerlei Hinsicht ein prima Kerl. Aber er ist nun mal sehr introvertiert und lässt niemanden an sich heran. Er ist unheimlich schüchtern, es sei denn, er ist stockbetrunken, dann wird er sehr extrovertiert. Wenn er ein Problem hat, kann man nicht mit ihm darüber sprechen, und er würde auch nie sagen, was ihn nun eigentlich bedrückt, sondern nur ein trauriges Gesicht machen. Also muss man herauskriegen, was er hat, indem man Fletch danach fragt, und dann wird Andy eben manchmal zu seinem Sprachrohr. Martin hat große Probleme, sich verbal auszudrücken, und ich habe mich mit ihm nie so recht wohlgefühlt. Ich glaube, ich habe ihn trotz all der Zeit niemals richtig kennengelernt. Eine normale Unterhaltung habe ich, soweit ich mich erinnere, nie mit ihm geführt.“

„Zwischen Martin und Fletch besteht eine regelrechte Abhängigkeit“, sagt ihr alter Schulfreund Daryl. „Allerdings aus ganz unterschiedlichen Gründen und in sehr verschiedenen Ausmaßen. Sie sind einander total treu ergeben. Ich glaube, den anderen Mitgliedern der Gruppe muss es manchmal wohl so vorkommen, als bildeten die beiden eine eigene Fraktion.“

Für Alan Wilder ist auch Daniel Miller jemand, an den man nur schwer herankommt. „Wenn Leute den Song ‚Warm Leatherette‘ anhören, den er als The Normal aufnahm, dann machen sie sich von ihm eine bestimmte Vorstellung, aber in Wirklichkeit ist er das genaue Gegenteil davon – ein Riesenkerl, der immer ein bisschen ungepflegt aussieht. Wie einer, der in Bahnhöfen auf dem Boden sitzt und bettelt. Und ausgerechnet er ist Mentor und Vaterfigur für die anderen. Er war für sie die Richtschnur, ohne sie zu manipulieren; er organisierte und regelte einfach alles für sie. Alles, was mit der Band zu tun hatte, lief über Daniel, und eine Zeit lang hatte ich fast keine direkten Kontakte mit den anderen Musikern. Freilich sprachen wir miteinander während der Tour – aber Fragen, die vor den Auftritten aufkamen – welche Songs wir spielen würden, was ich anziehen sollte und so weiter –, wurden nur mit Daniel besprochen. Das war schon sehr seltsam, und dieses Gefühl des Abstands zwischen ihnen und mir herrschte noch lange Zeit vor.“ Es war auch Daniel Miller, der zu Wilder sagte: „Eigentlich brauchen sie dich nicht im Studio für ihre nächste Single.“

Wilder empfand Dave Gahan offener als die anderen. „Er kann dir stundenlang von seinen Gefühlen und Empfindungen erzählen und am Ende sogar in Tränen ausbrechen; er ist das genaue Gegenteil von Martin. Ich konnte mit Dave viel besser sprechen und mich austauschen als mit Martin oder Fletch, weil er nun mal viel zugänglicher und aufgeschlossener ist. Welche Fehler er auch immer haben mag – er hat eine sehr liebenswerte Seite. Außerdem ist er auch sehr witzig, was viele Leute gar nicht vermuten. Er ist ein brillanter Mimiker, richtig toll – nicht in Worten, aber in visueller Hinsicht. Wir haben uns gekrümmt vor Lachen, wenn er Tony Hadley von Spandau Ballet imitierte. Er konnte auch unseren Promoter Neil Ferris gut nachahmen – es war einfach irre. Neil trug die allerweißesten Hosen und enge Jeans – so wie Peter Powell, der DJ von Radio One. Neil kam immer voller Energie hereingeschneit, und Dave konnte das wunderbar nachmachen. Ich kam mit Dave am besten aus, und wir hatten beide immer mal wieder ein Problem mit Fletch, also waren wir in dieser Hinsicht wirklich einig.“

Inzwischen hatte sich die Beziehung zwischen Dave Gahan und dem nervigen, unberechenbaren Fletcher nach einem Muster entwickelt, das sich zwischen freundlichem Geplauder und echtem Ärger bewegte. Daniel Miller: „Es stimmt schon, dass es zwischen Dave und Fletch gelegentlich zu heftigen Auseinandersetzungen kommt. Meist geht es dabei um absolut nichts oder um irgendein Missverständnis. Und oftmals sind sie sich hinterher völlig einig. Ich habe einige wirklich lächerliche Unterhaltungen der beiden mit angehört, bei denen sie erbittert miteinander stritten, denn das ist die einzige Art, wie sie miteinander reden können – mit Streit und Argumenten. Bei jeder gemeinsamen Besprechung ist es dasselbe: Innerhalb von Sekunden geraten sich die beiden in die Haare. Vom allerersten Tag an herrschte zwischen Dave und Fletch Spannung. Aber so schlimm kann es auch wieder nicht sein, denn sonst würden sie ja nicht mehr zusammenarbeiten. Würde man sie fragen, worüber sie gerade gestritten haben, dann wüssten sie es wahrscheinlich gar nicht mehr. Mit der Zeit sind sie aber beide viel vorsichtiger und zurückhaltender in ihren Konfrontationen geworden. Wir versuchen, gefährlichen Situationen aus dem Weg zu gehen, damit es gar nicht erst zu Streit kommen kann – aber selbst nach achtzehn Jahren giften sie sich immer noch gelegentlich an.“

Am Ende der Tournee spielten Depeche Mode ein „Geheimkonzert“ im alten Club der Jungs, dem Bridgehouse. Paul Colbert vom Melody Maker war dabei: „Der Club war knallvoll bis in die Toiletten. Wilde Aufgeregtheit und stampfende Füße – und das war doch erst das Personal hinter der Bar.“ Der Promoter des Konzerts, Terry Murphy, wollte eintausend Pfund Gage zahlen, aber Depeche Mode bestanden darauf, dass er das Geld für die Renovierung des Pubs verwenden sollte.

Die erste Europatournee begann im Rock-Ola in Madrid am 4. März 1982, es folgten Shows in Stockholm, Hamburg, Hannover, Berlin, Rotterdam, Oberkorn, Paris und Mechelen sowie zwei Termine auf den Kanalinseln. Das Konzert im Le Palace in Paris war für zweieinhalb Jahre das letzte in Frankreich. „Die Franzosen sind so unfreundlich zu uns, bestimmt hat das etwas mit unserem Namen zu tun“, sagte Gahan. „Mir würde es wahrscheinlich genauso gehen, wenn bei uns eine französische Band mit dem Namen Woman’s Own aufträte.“

Anne Berning, die später bei der Stuttgarter Intercord, dem deutschen Partner von Mute, arbeitete, erinnert sich, wie die jungen Synthie-Popper zum ersten Mal nach Deutschland kamen: „Sie tauchten mit ‚Just Can’t Get Enough‘ zuerst in der deutschen Poppresse auf. Das Teenagermusikmagazin Bravo war auf sie aufmerksam geworden und brachte eine Reihe von Features. Zunächst galten Depeche Mode als ausgesprochene Teenieband. Sie waren bei den Mainstream-Teenagern sehr angesagt, aber das war auch alles.“ Doch immerhin stellte das Hi-Fi-Magazin Audio das Album Speak And Spell seinen Lesern schon im Januar 1982 als Platte des Monats vor, nachdem die Band im November 1981 zum ersten Mal für Promotiontermine nach Deutschland gekommen war. Damals verweigerte ihnen das Münchner Park Hilton noch den Zugang zum Restaurant, weil sie keine Krawatten trugen.

Alan Wilder erinnert sich: „Wir wurden ständig gebeten, Popmagazinen wie Bravo Interviews und Fotosessions zu gewähren. Blöde Fotos und Mist kamen dabei heraus. Die deutsche Plattenfirma wollte so viel Kapital aus uns herausschlagen wie nur möglich.“ Aber die Intercord akzeptierte auch, dass die Musiker der Bravo einige Jahre lang keine Interviews mehr geben wollten – was ihnen bei „seriöseren“ und erwachseneren Magazinen viel Respekt verschaffte.

Im Monat nach der Europatour gingen Depeche Mode, wieder ohne Alan Wilder, erneut ins Plattenstudio. „Ich verstand durchaus, dass sie nicht den Anschein erwecken wollten, als würden sie Vince Clarke durch mich ersetzen“, sagt Wilder ein wenig reserviert. „Sie wollten der Welt zeigen, dass sie auch ohne ihn weitermachen konnten. Das war mir klar, aber es war für mich trotzdem ziemlich frustrierend.“

Am 26. April erschien die recht belanglose Single „Meaning Of Love“, die in den Charts auf Platz 12 kam. Das war zwar eine gute Position, aber zur gleichen Zeit kletterte „Only You“ von Vince Clarkes neuer Formation Yazoo, einem Duo, auf Platz 2 – ausgerechnet jener Titel, den er zum Abschied angeboten hatte und den sie abgelehnt hatten. Bei Yazoo sang Alf alias Alison Moyet, ein Mädchen aus Essex. Natürlich freute sich Clarke darüber ebenso sehr, wie sich seine früheren Kollegen ärgerten, und die Medien heizten die Rivalität noch weiter an. Das Magazin The Face besprach beide Singles und kam zu dem Schluss: „Depeche Mode könnten eine Lektion daraus lernen.“ Am schlimmsten war, dass „Meaning Of Love“ tatsächlich wie eine müde Imitation von „Only You“ klang, weil Gore versucht hatte, den melancholischen Stil von Vince Clarke nachzuahmen. Angesichts der Verwirrung und Unsicher­heit, die in der Gefühlswelt von Depeche Mode hinter den Fassaden herrschten, überraschte es nicht, dass die Wut auf ihren Exsongwriter 1982 noch eine ganze Weile in ihnen kochte. „Es gab eine gewisse Rivalität, und ich wollte allen gegenüber fair sein“, rekapituliert Daniel Miller, der auch Yazoo unter Ver-trag hatte, diplomatisch. „Depeche Mode machten großartige Platten und Yazoo auch. Damals nahm ich etwa zwei Jahre lang keine neuen Künstler mehr unter Vertrag – von dem Zeitpunkt an, als ich anfing, mit Depeche Mode zu arbeiten, bis 1983, als Birthday Party zu mir kamen. Ich konnte keine neuen Bands unter Vertrag nehmen, weil ich einfach nicht die Zeit oder die Energie dafür gehabt hätte – die ging restlos für die Gruppen drauf, die ich schon hatte. Es gab zwar Probleme, aber keine der beiden Seiten trieb die Situation auf die Spitze. Niemand sagte: ‚Wenn der auf deinem Label ist, dann gehen wir.‘ So schlimm wurde es nie.“

Im Frühjahr 1982 bemerkte Dave Gahan allerdings bissig: „Vince hat ein paar Werbespots und ein paar Jingles gemacht. Uns hat man auch einen Werbe­spot angeboten, aber wir konnten und wollten das einfach nicht machen.“ Weitaus gnädiger äußerte er sich bei anderer Gelegenheit: „Wir alle finden Yazoo richtig gut, ehrlich. Wir haben sie uns mal im Dominion in London ange­-sehen und waren sehr beeindruckt, besonders von der Diashow. Manchmal begegnen wir Vince auf den Korridoren von Mute, doch die persönlichen Kontakte sind abgerissen. Aber er hört ja nie lang genug auf zu arbeiten, um überhaupt mal jemanden zu treffen.“

Daryl Bamonte glaubt, es herrschte einfach eine ganz natürliche Eifersucht zwischen den Beteiligten: „Keiner wünschte, dass Vince scheitert, aber Depeche Mode sollten einfach mehr Platten verkaufen als er. Schließlich standen sie unter starkem Konkurrenzdruck mit allen. Bei einem Gig erzählte Daniel, dass Soft Cell mit ‚Tainted Love‘ eine Nummer 1 in den Charts hatten. Da sagte Dave ganz schlicht: ‚Na prima, ich werde eifersüchtig.‘“

Gahan zog alsbald mit seiner Freundin Joanne zusammen, mit der er nun in aller Häuslichkeit Mars-Riegel und Crispies futtern konnte. Er entschloss sich, seine Jugendsünden auszuradieren, indem er sich eine Tätowierung am Arm entfernen ließ. Das geriet zur Katastrophe. Chris Carr erzählt: „Wir nannten Dave nur noch Pizzamann, denn der Typ auf der Harley Street, der ihm das wegmachen sollte, benutzte einen Laserstrahl dazu. Es war totaler Pfusch, und Dave sah aus, als wäre ihm jemand mit einem heißen Bügeleisen zu nahe gekommen. Damals rauchte Dave kein Gras mehr und trank auch keinen Alkohol. Er war „Herr Sensibel“ geworden, ganz vernünftig und erwachsener als je zuvor. Wenn Martin und Fletch ausgingen und taten, was sie immer taten, dann nahm er mich mitunter beiseite und meinte: ‚Blödmänner – das hab ich gemacht, als ich noch ein Kind war.‘“

Am 7. Mai 1982 starteten Depeche Mode eine kurze Tour durch die USA und Kanada und spielten acht Konzerte in New York, Philadelphia, Toronto, Chicago, Vancouver, San Francisco, Pasadena und im Roxy in Los Angeles. Daryl Bamonte, der als Roadie mit dabei war, erinnert sich: „Depeche Mode lösten immer noch einen Riesenwirbel aus. Wir hatten dort eine mächtige Platten­firma hinter uns, und als wir ankamen, waren alle sehr optimistisch, was die Chancen in den Staaten betraf.“ Inzwischen hatte sich aber Gahans Haut an der Stelle der Tätowierung so stark entzündet, dass er den Arm in einer Schlinge tragen musste, was dem Image der Gruppe abträglich war, denn er war ja der Einzige, der ein bisschen Bewegung auf die Bühne brachte.

Die drei Gründungsmitglieder der Band verbrachten den Rest des Sommers mit Daniel Miller und den Toningenieuren John Fryer und Eric Radcliffe in den Blackwing-Studios, um das zweite Album aufzunehmen. Alan Wilder wurde wieder nicht hinzugezogen, was ihn ziemlich frustrierte: „Ich war unglücklich darüber, dass ich wieder ausgeschlossen war. Schließlich hatte ich zusammen mit der Gruppe seit Anfang des Jahres Musik gemacht und war mit auf Tour gegangen, und man erwartete ja auch von mir, dass ich nach Erscheinen des neuen Albums mit ihnen gemeinsam Promotion dafür machen sollte.“

Am 16. August erschien die sechste Single, „Leave In Silence“, die aber erschreckenderweise in den Charts nur bis auf Platz 18 stieg. Das Stück war zwar weit aufregender und introvertierter als die vorherigen Singles, wurde indes nicht so oft im Radio gespielt, obwohl es künstlerisch erheblich besser war als der Vorgänger, „Meaning Of Love“. Martin Gore gesteht: „Wir hatten hohe Erwartungen in diese Single gesetzt – vielleicht zu hohe.“ Natürlich war man über das schwache Abschneiden der Single enttäuscht. „Es ist sehr selten, dass man auf einer Single eine bestimmte Atmosphäre einfangen kann, aber auf dieser hatten wir es geschafft“, sagte Gahan. „‚Leave In Silence‘ hatte alles – Melodie, Sound, Stimmung, alles. Es ist einer meiner Lieblingssongs.“ Dann fügte er hinzu: „Als wir ‚Leave In Silence‘ veröffentlichten, gingen wir ein gewisses Risiko ein. Es fehlte am Airplay, also verkaufte sich die Single auch nicht so gut. Für die Radioleute war der Song eher ein Albumtrack.“ Auch manche Kritiker verrissen die Platte, vor allem Paul Weller: „Aus einem Arschloch habe ich schon mehr Melodie herauskommen hören.“

Das neue Album, A Broken Frame, erschien am 2. September 1982 und stieg in den Charts bis auf Platz 8. Die preisgekrönte Plattenhülle stammte wieder vom Fotografen Brian Griffin und war weitaus besser als sein Beitrag zu Speak And Spell. „Für dieses Cover hatten wir eine sehr intensive Vorbesprechung“, sagt Griffin. „Wir fanden ein Kornfeld in Hertfordshire. Wir wollten ein bisschen sozialistischen Realismus haben. Das Cover erregte Aufsehen und erschien im Januar 1989 sogar auf dem Titelblatt von Life im Zusammenhang mit einem Feature über die besten Fotos des Jahrzehnts.“

Fletcher meinte über A Broken Frame: „Dieses Album ist viel gewichtiger als unser letztes, nicht so leicht, oberflächlich und poppig.“ Nicht viele Leute würden die Platte heute „gewichtig“ nennen, denn sie stellt sich seltsam durchwachsen dar, indem sie einen Bogen zwischen anspruchslosen Poptiteln wie dem grässlichen „A Photograph Of You“ und den rätselhafteren, geheimnisvollen Klängen in „My Secret Garden“ spannt. Ein Teil des Problems war, dass Clarkes Abgang Gore zwang, die Platte mit den Songs zu füllen, die er selbst in den letzten Jahren geschrieben hatte – „See You“ und „A Photograph Of You“ stammten noch aus seinen frühen Teenagerjahren. Bei der vorsichtigen Kollektiveinstellung der Band war es nur natürlich, dass man nach der Fahnenflucht des Hauptsongwriters eher die Art der Musik behutsam ändern wollte, statt den Stil von Depeche Mode radikal und neu zu erfinden. Auch für Daniel Miller war klar, dass sich A Broken Frame so stark von Speak And Spell unterschied, dass der neue Mann am kreativen Steuer einfach auffallen musste: „Martin schrieb ‚Meaning Of Love‘ und versuchte dabei, recht poppig zu sein, während ‚Leave In Silence‘ purer Martin Gore war. ‚Photograph Of You‘ ist reiner Pop, aber ‚Shouldn’t Have Done‘ war viel substanzieller, und ich glaube, es dauerte eine Weile, bis die Leute begriffen, dass dies dem natürlichen Empfinden von Martin entsprang.“

Depeche Mode probierten auch einige neue Sounds aus, wobei man vorsichtig vom reinen Synthesizerklang abwich. Begeistert sagte Andy Fletcher: „Auf dem neuen Album gibt es viel Percussion, außerdem Schritte und Marschieren und ähnliche Geräusche – aber nichts, was man ein herkömmliches Musikinstrument nennen könnte.“ Und Gahan fügte hinzu: „Es gibt auch ein Saxofon, aber das wird man nicht erkennen. Denn es ist rückwärts aufgenommen und klingt wie ein Elefant.“

Daniel Miller meint: „Über Depeche Mode sind viele Mythen in Umlauf, die aber nicht wirklich wahr sind – etwa, dass sie nur auf ihren beiden letzten Alben Gitarren benutzt hätten. Die erste Gitarre war schon auf A Broken Frame dabei. Sie haben ein Verhältnis zur Musik, bei dem sie sich selbst Grenzen setzen, sogar wenn sie diese dann durchbrechen. Wenn man kein solches Konzept hat, dann wird die Musik sehr angepasst und klingt genauso wie die von allen anderen. Alle unsere Sounds haben wir selbst geschaffen, nie haben wir Samples von anderen Platten genommen.“

Die Kritiken über das Album fielen sehr gemischt aus. Chris Burkham schrieb in Sounds: „Das Hauptproblem von Depeche Mode ist, dass der Synthie-Sound ohne irgendwelche andere Instrumente die Popsongs sehr eingrenzt. Der Grund dafür, dass Yazoo – um einen offenkundigen Vergleich zu ziehen – erfolgreichere Songs auf der Basis eingängigerer Melodien schaffen, liegt wohl daran, dass der harte Synthie-Beat sich mit dem einschmeichelnden Gesangsstil von Alison mischt. David Gahans Stimme passt sich dem Instrument an – kaum sich einmischend, stets sich anpassend, niemals beherrschend –, anstatt gegen den glatten Schimmer des Moog anzugehen.“

Der NME war enthusiastischer: „Erfreulich sind ihre zunehmende Präzision, ihre wachsende künstlerische Qualität. Martin Gores eindrucksvolle Songs schließen sich deutlich an die Folkweisheit und die Folkmetaphysik des verschwundenen Vince Clarke an.“

Im Melody Maker jedoch mokierte sich Steve Sutherland, der ein Fan der ersten Singles und des ersten Albums war, über die Bemühungen von Depeche Mode, sich weiterzuentwickeln: „A Broken Frame klingt wie knabenhafte Begeisterung, mit der Anonymität verdeckt wird. Die Texte sind zwar von staunendem Vergnügen zu empörter Frustration gereift, aber die resignierenden Worte von ‚Leave In Silence‘ sind ebenso wie die glatten Phrasen von ‚Just Can’t Get Enough‘ eben doch nur Worte und nichts als Worte.“

Zwei Jahre nach Veröffentlichung von A Broken Frame hatte Dave Gahan schon genug Abstand von der Platte gewonnen, um sagen zu können: „Ich glaube, wir finden alle im Rückblick, dass dieses Album unsere schwächste Leistung war. Es ist definitiv sehr, sehr uneben und zusammengestoppelt. Und sehr schlecht produziert.“ Mit dem kommerziellen Erfolg von Speak And Spell konnte A Broken Frame nicht gleichziehen, weder in England noch international. „Ich bin überzeugt davon, dass es uns schon deshalb heute nicht mehr gäbe, wenn wir bei einer Major-Plattenfirma gewesen wären“, sagt Gore in Anerkennung von Daniel Millers geduldiger, pfleglicher Fürsorge. „Nach dem Anfangserfolg von Speak And Spell bedeutete A Broken Frame eine sehr stille Phase für uns. Die Platte schadete uns nicht gerade, aber sie bewirkte auch nichts Erstaunliches. Bei einem Major wären wir in das ‚Syndrom des zweiten Albums‘ gefallen – und nach unserem dritten Album gefeuert worden.“

Nichtsdestotrotz kreuzten die unerschütterlichen Fans in voller Stärke bei der Herbsttournee durchs Vereinigte Königreich mit zwanzig Konzerten und zwei zusätzlichen Gigs im Londoner Hammersmith Odeon auf. Die Säle waren knallvoll mit weiblichen Teenagern, die vor Begeisterung durchdrehten, aber Fletch, der auf der Bühne in die Hände klatschte und die Faust in die Luft stieß, merkte an, dass unter den Zuhörern auch viele „Unterklassejungs“ waren. „Die Lümmel akzeptieren uns wie ihresgleichen, wie eine elektronische Version der Angelic Upstarts“, sagte er. „Sie stehen dann vor der Garderobentür und blöken: ‚Oi, Andy!‘ Und dann kann man nur im besten Cockneyakzent antworten: ‚Yer, klasse, weiter so!‘ Und außerdem sind da die kleinen Mädchen, zu denen man richtig lieb sein muss, denn die sind ja genauso wie deine kleine Schwester.“

Kurz vor Weihnachten 1982 gab die Plattenfirma Mute eine Pressemitteilung heraus, in der sie bekannt gab, dass Alan Wilder nun Vollmitglied von Depeche Mode sei. „Daniel rief mich an“, grinst Wilder. „Ich glaube, die Band tat sich ebenso schwer darin, Überbringer von guten wie von schlechten Nachrichten zu sein.“


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Depeche Mode - Die Biografie

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