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Dreaming Of Me

1981

Im Februar 1981 veröffentlichte Stevo sein lang erwartetes Traumprojekt, das Some Bizzare Album. Es war eine fantasievolle, eklektische Platte, die über die monochromatischen, roboterhaften Vorstellungen hinausging, die man mit dem Popfuturismus verband. Das Programm begann mit dem hübschen, mutigen Minimalismus des Titels „Sad Day“ von Blancmange, der sich sehr von den späteren Hits des Duos wie „Living On The Ceiling“, „Blind Vision“ und „Waves“ unterschied. Neben Depeche Mode feierte auch das Duo Soft Cell auf der Platte mit dem psychopathischen Song „The Girl With The Patent Leather Face“ sein Debüt, ebenso wie Matt Johnsons Formation The The, die einen namenlosen Track mit kahlem Gesang und paranoider urbaner Atmosphäre beisteuerte. Bill Nelson, früher bei Be Bop Deluxe, war unter dem Namen Eric Random mit dem Song „I Dare Say It Will Hurt A Little“ dabei. Aber viele der anderen Acts – zum Beispiel Neu Electrikk und Naked Lunch – waren obskur und blieben dies auch.

Chris Bohn vom New Musical Express schrieb über „Photographic“ von Depeche Mode, der Song sei „sehr selbstsicher und sauber strukturiert mit seinen verzweigten Synthie-Melodien, die teilweise durch die futuristischen Texte im Stil der Dreißigerjahre verunziert, aber vom anhaltenden Beben eines Leitmotivs gerettet werden“.

Auf dem Some Bizzare Album dominierten einige „futuristische“ musikalische Konventionen jener Zeit: Die meisten elektronischen Klänge wirkten nackt, minimal und symmetrisch; primitive Drum Machines trieben die Songs mit einer seltsamen und ruckartigen Wucht voran; die Do-it-yourself-Produktionen begünstigten seltsam losgelöste, monotone Laute der verschiedenen Sänger. Nichtsdestotrotz war diese „futuristische“ Popmusik wirklich etwas ganz anderes als die fröhlich verspielten, aber musikalisch konventionelleren Töne der New Romantics. „Wir waren Futuristen“, sagte Dave Gahan etliche Jahre später, „denn wir hatten mit Leuten zu tun, die individuell sein wollten. Die New-Romantics-Zeit bedeutete, dass alle Leute gleich aussahen, auch wenn sie sich noch so extravagant gaben. Die Futuristen waren eine Weiterentwicklung des Punk. Und das waren damals unsere Fans.“

Fast zwanzig Jahre später spricht Stevo leidenschaftlich über die Verbindung zwischen Some Bizzare und der Kunstrichtung der Jahrhundertwende: „Niemand wollte sich wirklich Futurist nennen lassen, denn das hieß, dass man keinen Sinn für Humor hatte und ein Science-Fiction-Besessener war.“ Anfang 1981 hatte Gary Numan schon zwei Jahre lang seinen Zuhörern düstere, totalitäre Sci-Fi-Musik geboten und damit sein eigenes Image als Futurist geschaffen. „Nur weil wir Synthesizer spielen“, sagte Gahan 1981, „erwartet man von uns, dass wir die Leute seltsam anstarren und nie lächeln.“ Fletcher pflichtete bei: „Wir haben ein Publikum, das Synthesizer mit düsterer Stimmung der Musiker gleichsetzt. Viele Numan-Fans kamen zu unseren Gigs.“ Aber Depeche Mode erfüllten ganz und gar nicht deren Erwartungen. Die Band war in keiner Weise „Sci-Fi“, und Gahan stand zwar recht still auf der Bühne, machte aber keineswegs den Eindruck, als sei er weggetreten, abwesend oder nicht ganz von dieser Welt.

Trotz aller widersprüchlichen Kommentare zur Platte sahen sich die britischen Medien anlässlich des Beitrags von Depeche Mode veranlasst, die Gruppe erstmals näher in Augenschein zu nehmen. Betty Page von Sounds schrieb Anfang 1981 den ersten längeren Artikel, in dem sie den Begriff „Futurist“ von der Vorstellung des todessehnsüchtigen, elitären Kunstbeflissenen löste: „Macht euch frei von der unerträglichen Idee, dass Futuristen entweder gelangweilte Muttersöhnchen sind, die mit teuren Instrumenten herumspielen, oder tödlich ernste Avantgardisten, die das Evangelium von Kafka predigen. Die derzeitige Welle von Electronic-Bands ist ein echtes Basisphänomen – immer mehr muntere junge Männer und Frauen schnappen sich statt billiger Gitarren lieber Synthesizer und Drum Machines, um damit preisgünstige Musik zu machen.“

Als Page die Band interviewte, hatten Depeche Mode schon die Aufmerksamkeit größerer Plattenfirmen auf sich gelenkt, die bei den Indies vielversprechende Talente suchten. Daniel Miller weiß noch: „Sehr bald, nachdem wir beschlossen hatten, zusammen eine Single zu produzieren, und noch ehe die Scheibe wirklich herauskam, war die Band in der Presse schon so häufig erwähnt worden, dass einige große Firmen hinter ihr her waren und eine Menge Geld boten. Der übliche Spruch dieser Leute war: ‚Natürlich sind Mute ein fabelhaftes Label, aber da werdet ihr doch nie einen Hit bekommen, denn die Leute haben ja gar keine internationalen Verbindungen.‘“

Depeche Mode lehnten diese Angebote ab und vertrauten auf Miller, der sich als sehr geschickt handelnder Karriere- und Musikmentor erwies. Vince Clarke sagte dazu im Magazin Sounds: „Wir hatten bei Mute eine größere Chance. Daniel hat uns gut behandelt, und wir mochten seine Art. Wir hörten uns die Angebote anderer Plattenfirmen an, beschlossen dann aber, bei ihm zu bleiben. Mit den Silicon Teens hatte er großen Erfolg, und wir fühlten uns diesem leichtgewichtigen Sound irgendwie verwandt. Für solche Dinge hat Daniel eine gute Nase. Leider wird er oft unterschätzt.“ Der ziemlich weltgewandte Miller empfand es seinerseits als seine Verantwortung, „das Bestmögliche für Depeche Mode zu tun. Für Mute Records und die ganze alternative Seite der Industrie war es auch höchst wichtig, uns nicht in das Getto einer kleinen Seitenlinie der Musik drängen zu lassen. Sonst wären wir am Ende nur noch eine frei verfügbare A&R-Quelle für die Großfirmen geworden. Wir wollten unser Label weiterentwickeln und mit Künstlern über lange Zeiträume arbeiten.“

Clarkes offenbar fester Entschluss, dass Daniel Millers Label das richtige für Depeche Mode war, besiegelte die unmittelbare gemeinsame Zukunft. Als einziges hauptberufliches Mitglied der Band – die anderen hatten ja immer noch Jobs oder gingen aufs College – trieb Vince die anderen an, die sich entweder noch nicht entschließen konnten oder einfach untätig blieben. Martin Gore stimmte zwar mit Clarke und Miller überein, aber wer weiß, ob die Band bei Mute Records geblieben wäre, wenn Clarke, Miller und Gore nicht einen leichten, aber unablässigen Druck auf die anderen Bandmitglieder ausgeübt hätten. Gores Kommentar dazu 1988: „Warum schlossen wir nicht mit einer der großen Firmen ab? Es wäre doch sehr verlockend gewesen. In der Rückschau fällt mir eigentlich nicht so recht etwas ein, weshalb wir es nicht taten, aber es war letztlich zu unserem Glück. Kann man sich vier achtzehnjährige Knaben ohne einen Penny vorstellen, denen Summen in Höhe von zweihunderttausend Pfund geboten werden? Aber unsere Entscheidung, bei Mute zu bleiben, war die beste, die wir je getroffen haben.“

Daniel Miller war sich sehr wohl über das fügsame Wesen von Gore im Klaren – es wurde sogar Gegenstand eines Witzes innerhalb der Band: „Martin scheut vor Entscheidungen zurück, also lässt er die Dinge eher an sich vorbeiziehen, als dass er einen Einwand erhebt. Wir nannten dieses Verhalten immer das ‚Arsenal-Syndrom‘, denn als wir uns näher kennenlernten, erzählte er uns einmal eine Geschichte dazu. Wir redeten gelegentlich über Fußball und wer Fan von welchem Club war. Da sagte er: ‚Ich glaube, ich bin ein Arsenal-Anhänger.‘ Ich fragte: ‚Wie meinst du das?‘ Da berichtete er, er sei immer mit dem Vater eines Freundes zu den Spielen von Arsenal gegangen, und er fügte hinzu: ‚Eigentlich machte mir das in den letzten fünf Jahren gar keinen Spaß mehr, aber ich wollte es nicht sagen, also ging ich weiter mit.‘ Das sagt eigentlich alles über Martin aus. Er setzt sich nicht mit Dingen auseinander. Lieber langweilt er sich jeden Samstagnachmittag zu Tode, als dass er jemanden vor den Kopf stößt, indem er sagt, dass er keine Lust hat. Irgendwie ist das ja auch wieder sehr liebenswürdig.“

Gahan, von Natur aus offener in seinem Wesen, gibt aber zu: „Der wirkliche Grund, warum wir nicht mit einem größeren Label abschlossen, war wahrscheinlich der, dass wir das durch unsere Unentschlossenheit verpassten. Daniel Miller bemühte sich um uns, übte aber keinen Druck auf uns aus. Was auch immer die anderen uns böten, sagte er, er würde sein Bestes tun, um mit ihnen zu wetteifern, und wenn wir unsere Singles in den Charts sehen wollten, dann würde er alles daransetzen, das zu erreichen.“

Sämtliche Mitglieder von Depeche Mode, so Daniel Miller, seien sehr begeistert davon gewesen, wie sie von dem alternativen Indie-Label Mute behandelt wurden. „Bei einem Label zu sein, wo die Leute zur Band ein enges persönliches Verhältnis haben, war für Depeche Mode wichtig, und das ist ja im Grunde das Wesentliche an einem Independent-Label. Die Jungs wollten in die Indie-Charts kommen, und außerdem mochten sie die Leute nicht, mit denen sie bei den großen Plattenfirmen Kontakt gehabt hatten.“

Das Tempo ihres Aufstiegs überraschte die Musiker – darauf waren sie nicht vorbereitet. Nach Millers Empfinden waren Gore und Fletcher am meisten davon verwirrt. „Dave und Vince waren weitaus ehrgeiziger als die beiden anderen. Die gaben mir das Gefühl, dass sie sich ja eher für eine Amateurband hielten und nur spielten, weil es ihnen Spaß machte. Sie hatten gerade erst begriffen, dass sie wirklich gut waren.“ Fletcher bestätigt das: „Vince lebte von Arbeitslosengeld und drängte uns immer voran, ehrgeizig, wie er nun mal war. Martin und ich hatten solche Ambitionen nicht, wir zwei sind Faulpelze.“

Zu diesem Zeitpunkt hatten Gore und Fletcher begonnen, innerhalb von Depeche Mode eine Arbeitseinheit zu bilden. „Anfangs war Fletch die andere Hälfte von Martin, sozusagen sein Sprachrohr – sie ergänzen einander einfach perfekt“, sagt Miller. „Andy ist absolut pragmatisch, sehr ehrlich und scheut nicht vor Konfrontationen zurück, er sucht sie geradezu; Martin hingegen ist verträumt, künstlerisch und vermeidet Konfrontationen um jeden Preis.“

Anfang 1981 arbeiteten die beiden noch in der City und hatten keinerlei Neigung, ihre Jobs hinzuwerfen, besonders Fletcher, der ja keine ausgesprochene Musikernatur war. Der hitzige Gahan ließ sich am meisten beeindrucken, während die anderen zunächst eher vorsichtig und misstrauisch blieben. Diese abwartende Haltung der Band gab Fletcher und Gore die Zeit, erst einmal zu sehen, wie erfolgreich sie nun tatsächlich wurden, ehe sie die wirtschaftliche Sicherheit, die ihnen ihre Jobs boten, aufgaben. Sie vertrauten auf den Rat Millers und genossen die Atmosphäre eines Independent-Labels in dem Bewusstsein, jederzeit wieder aussteigen zu können. Miller legte noch immer keinen Wert auf einen schriftlichen Vertrag. „Wir hatten ohne Vertrag vereinbart, dass wir alle Einnahmen innerhalb von Groß­britannien jeweils genau zur Hälfte teilen und dass sie für die restliche Welt siebzig Prozent bekommen, was für eine neue Band ein gutes Geschäft ist“, sagt der Mute-Chef zwanzig Jahre später. „Auch jetzt haben wir praktisch dieselben Abmachungen, aber aus den Verkäufen im Ausland erhalten sie nun noch ein erheblich höheres Einkommen. Wir arbeiten noch immer auf der Fünfzig-zu-fünfzig-Basis, aber natürlich sind die Beträge, die wir uns teilen, weitaus größer als am Anfang.“

Fletchers Kommentar: „Uns war die prozentuale Teilung der Gewinne durchaus recht. Keine große Plattenfirma hätte uns einen solchen Vertrag gegeben wie Mute. Allerdings hatten wir in den ersten zwei Jahren natürlich nur wenig Geld zur Verfügung, denn einen saftigen Vorschuss bekamen wir ja nicht.“

Welche Gründe auch immer die Band zunächst bewogen, bei Mute zu bleiben, ihr Freund Daryl Bamonte ist überzeugt, dass es die richtige Entscheidung war. „Daniel wurde seinerzeit ihr Mentor“, sagt er. „Sie hatten ein Mordsglück, dass sie ihn gefunden hatten. Wenn sie einem ‚normalen‘ Manager begegnet wären, hätte der erst einmal gewaltigen Druck gemacht, um sie so schnell wie möglich zu so viel Erfolg wie möglich zu drängen, so wie bei Duran Duran oder Culture Club. Dann hätten sie den Pyramideneffekt erlebt, steil hinauf und steil wieder runter. Aber Daniel ließ sie ihre eigenen Entscheidungen treffen und auch ihre eigenen Fehler machen, was zu ihrer natürlichen Entwicklung beitrug. Depeche Mode waren die Verwirklichung der Silicon Teens. Hier hatte Daniel die Band gefunden, die er sich zunächst nur ausgedacht hatte, und ich glaube nicht, dass er sich diesen erfüllten Wunschtraum nur für ein Jahr gönnen wollte; er dachte viel langfristiger.“

Mit ihrer unmittelbar gesicherten Zukunft ging die vollelektronische Viermannband erst einmal in die Blackwing-Studios, eine nicht mehr benutzte Kirche in Hallows in Südostlondon, um ein Stück von Vince Clarke, „Dreaming Of Me“, als erste Single für Mute einzuspielen. Miller hatte Blackwing entdeckt, als er sein Silicon-Teens-Projekt produzierte, für das er einen großen Regieraum brauchte, in dem er alle seine Synthesizer aufbauen konnte. „Die meisten Leute in den Studios meinten damals, wenn du keinen Drummer und keinen Gitarristen hast, dann sei das auch keine richtige Musik. Mit diesen schwarzen Kästen könne man überhaupt nicht Musik machen“, erzählt Miller. „Dennoch war Eric Radcliffe, damals Toningenieur bei Blackwing, sofort begeistert von der Idee, mit einer Synthie-Band zu arbeiten. Er hatte keine Erfahrung mit elektronischer Musik, aber er war ein sehr kreativer Musiker und hatte viel technischen Verstand. Ich glaube, er arbeitete damals an seiner Doktorarbeit über Lasertechnik. Wir hatten zuerst viele Probleme mit den Synthesizern, denn eigentlich waren sie gar nicht für das konstruiert, was wir von ihnen erwarteten, und dabei war Eric eine große Hilfe.“ Jahrelang spielten alle Bands von Mute ihre Platten bei Blackwing ein, und Vince Clarke erwies Radcliffe mit seinem späteren Synthie-Pop-Duo Yazoo sogar dadurch seine Reverenz, dass er das erste Album Upstairs At Eric’s nannte.

Daniel Miller und Depeche Mode hatten beschlossen, als erste Single ­„Dreaming Of Me“ einzuspielen, weil sie fanden, dass dieser Song am besten die Mischung zwischen ihrem poppigsten Material und dem düsteren, weniger melodischen Klang wiedergab, den die Band bei den Liveauftritten spielte. Gahan meint: „Dieser Song bot sich geradezu als erste Single an. Wir hatten damals zwar rund zwanzig Stücke im Repertoire, aber Daniel Miller half uns bei der Auswahl. Ich finde, es ist ein klassischer Popsong.“

„Es war sehr aufregend“, schmunzelt Miller fast zwanzig Jahre später. „Ich erinnere mich genau an meinen dreißigsten Geburtstag, denn ich hatte gerade die Plattenhülle von ‚Dreaming Of Me‘ gesehen, und die Band trat im Rainbow auf, einem Club, den die DJs und Promoter Steve Strange und Rusty Egan ‚People’s Palace‘ nannten. Es war der erste große New-Romantics-Gig, und die beiden hatten alle Synthie-Bands wie Ultravox, Metro und die Robotertanzgruppe Shock auf die Bühne gebracht. Als Vorgruppe hatten sie die ‚zweitklassige‘ Band Depeche Mode eingeladen, die zum ersten Mal vor großem Publikum spielte. Viele langjährige treue Fans sagen, damals haben sie Depeche Mode zum ersten Mal gesehen – also muss die Gruppe einen guten Eindruck gemacht haben.“

Anschließend, am 16. Februar 1981, spielten Depeche Mode im Futuristenclub Cabaret Futura, und „Dreaming Of Me“ kam vier Tage später als dreizehnte Mute-Single in die Plattenläden; auf der B-Seite fand sich das Stück „Ice Machine“. Chris Bohn schrieb im NME über die Single: „Trotz des narzisstischen Titels ist ‚Dreaming Of Me‘ genauso ein hübsches und naives Stück elektronischer Launigkeit wie alles von Orchestral Manœuvres In The Dark. Lakonischer Gesang, programmierter Rhythmus und eine zuckersüße Melodie sorgen für angenehme drei Minuten.“ Betty Page beschrieb den Song in Sounds als „süßen, einfachen, exakten und leichtgewichtigen Synthie-Pop“, wollte aber wissen, ob die Band bereit sei, ihren Sound weiterzuentwickeln, indem sie einen richtigen Schlagzeuger dazuholte. Dave Gahan lehnte das ab, nicht weil er ein puristischer Kraftwerk-Verehrer war, sondern eher aus pragmatischen Gründen: „Ich glaube nicht, dass wir das tun werden. Auf unseren jetzigen Tapes klingt es sowieso wie echtes Schlagzeug. Ich weiß, dass Orchestral Manœuvres In The Dark erst einmal kritisiert wurden, weil sie auf der Bühne eine Drum Machine benutzten. Aber noch schlimmer wurde die Kritik, als sie dann tatsächlich einen Schlagzeuger einsetzten. Wir brauchen ohnehin keinen Drummer – der wäre nur noch eine weitere Person, die bezahlt werden müsste.“

Depeche Mode freuten sich, als die DJs Peter Powell und Richard Skinner auf Radio One die Platte spielten, obschon es immerhin einen vollen Monat ­dauerte, bis „Dreaming Of Me“ in die Top 75 einstieg, wo es schließlich die Spitzenposition 57 erreichte, was vielversprechend war. Fletcher gestand später: „Für mich war es das Tollste, als wir zum ersten Mal in den Charts auftauchten.“ Und Miller erinnert sich: „Damals war es schon ein großes Ereignis, wenn man in die Top 75 kam. Woolworth nahm die Single ins Angebot, und aus aller Welt kamen Telegramme mit der Frage: ‚Können wir eine Lizenz für diese Platte kriegen?‘“

Mute und Depeche Mode hatten nicht nur bewiesen, dass sie gemeinsam die Charts knacken konnten – sie zogen sogar das Interesse des bestens informierten amerikanischen Plattenmanagers Seymour Stein auf sich, der in den Siebzigern die Talking Heads entdeckt hatte und später Madonna für seine Firma Sire Records unter Vertrag nahm. Miller hatte bereits die Single „T.V.O.D.“ von The Normal für den US-Markt an ihn lizenziert. Stein hatte es sich angewöhnt, regelmäßig nach England zu fliegen, um im Rough-Trade-Laden in Notting Hill zu fragen: „Habt ihr irgendwas Neues und Interessantes für mich?“ Miller sagt: „Dabei bin ich ihm zum ersten Mal begegnet. Ich bot ihm an, er solle sich doch mal diese neue Band anhören, die ich hatte, und er war auch sogleich begeistert.“

Wie üblich half Daryl Bamonte auch bei jenem denkwürdigen Gig mit dem Equipment aus: „Stein kam Ende April 1981 in Sweeney’s Disco nach Basildon. Das Sweeney’s war eine ganz normale Disco, aber der Manager hatte damals schon eine Vorahnung, dass Depeche Mode im Kommen waren. Die Band hat eine Schwäche für spezielle Typen, und Seymour Stein hat sie sehr beeindruckt. Er lud uns in ein chinesisches Restaurant ein und unterhielt uns den ganzen Abend über mit den fantastischsten Geschichten aus dem Musikgeschäft.“ Er freundete sich richtig mit der Gruppe an und zeigte volles Interesse. Mit dem wachsenden Erfolg übernahm dann später aber doch die Musikmaschinerie des Warner-Konzerns, zu dem Sire Records gehörten, die routinemäßige Kontrolle.

Amüsant ist auch Fletchers Schilderung der Begegnung: „Da kam also dieser Big Boss aus den USA, der die Talking Heads und die Pretenders unter Vertrag genommen hatte, nach Basildon in einen winzigen Club mit Platz für einhundertfünfzig Personen, wo wir noch nicht einmal eine eigene Garderobe hatten. Wir mussten ihn auf der Treppe empfangen. Von unserer ersten Single an nahm er uns unter Vertrag. Stein ist wirklich ein ungewöhnlicher Mensch.“

Nachdem er einen Vertrag mit Sire ausgehandelt hatte, arbeitete Miller hart daran, europäische Lizenzpartner zu finden. Er knüpfte neue Geschäftsverbindungen mit Leuten, die schon viel Erfahrung hatten und ihn beim Ausbau seines Labels berieten. So lernte er Rod Buckle kennen, der Schwedens größtes Indie-Label, Sonet, leitete. „Durch Rod erfuhr ich erst einmal alles über das internationale Geschäft“, sagt Miller. „Wir beide reisten durch ganz Europa und schlossen Lizenzverträge für ‚New Life‘, die nächste Single, ab.“

Depeche Mode spielten den ganzen Frühling und Sommer 1981 über Gigs – von einem Auftritt im Technical College in Southend und einem „Boat Trip“-Konzert auf der Themse bis hin zum Vorprogramm von Fad Gadget im Londoner Lyceum. Nach jenem Auftritt schrieb der Journalist Paul De Noyer: „Die Schau stahlen aber Depeche Mode aus Basildon, drei Synthie-Spieler und ein Sänger, äußerlich in der Art von Spandau Ballet, aber musikalisch hochinter­essant in ganz anderer, eigener Weise.“

Depeche Mode traten nun nicht mehr ausschließlich in Südengland auf, sondern auch in Städten wie Leeds, Birmingham und Cardiff. In der verbleibenden freien Zeit nahmen sie im Blackwing-Studio neue Songs auf. Nur der arbeitslose Vince Clarke beschäftigte sich ganztags mit dem Booking von Gigs und der Organisation der Band. „Die Studiosessions waren schon sehr seltsam“, erinnert sich Miller. „Martin und Fletch arbeiteten tagsüber in einer Bank oder Versicherung. Dave studierte am Southend Technical College, und Vince ging stempeln. Vince war damals die treibende Kraft hinter der Band. Er organisierte die Gigs, schrieb die meisten Songs, machte die musikalischen Arrangements und tüftelte aus, wie sie zu spielen seien. Auch im Studio war er der Haupt­antrieb. Er hatte genaue Vorstellungen davon, wie die Songs zu klingen hatten, und war sehr selbstsicher und voller Selbstvertrauen. Auch beim Umgang mit dem Equipment kannte er sich immer besser aus. Tagsüber hielt sich Miller im Blackwing-Studio auf und beriet Vince beim Einrichten von Klangfarben und beim Arrangieren. Nach der Arbeit kamen dann Fletch und Martin in ihren Businessanzügen, denen es wichtiger war, erst einmal ihr mitgebrachtes Essen zu verzehren und am Spielautomaten zu stehen. Ich würde sagen, daran hat sich nie viel geändert. Wir mussten Martin rufen: ‚Wir brauchen hier noch eine Melodie, kannst du mal eben kommen?‘ Woraufhin er meist antwortete: ‚Muss das sein? Ich ess doch gerade.‘ Dann kam er aber, um mit einer Hand mal eben eine tolle Melodie aus dem Ärmel zu schütteln, den Pappkarton mit einem chinesischen Schnellgericht in der anderen Hand.“

Wenn Dave Gahan im Studio war, meckerte er immer darüber, wie die Songs klangen, und fragte ewig, ob dies oder jenes auch richtig sei. Dieses seltsame Verhaltensmuster hat er bis heute beibehalten, immer drehte er an irgendwelchen Synthie-Knöpfen herum, während Fletcher und Gore ihm dabei kaum Beachtung schenkten.

Als „New Life“ dann im Juni 1981 erschien, hatten Depeche Mode schon an die fünfzig Gigs hinter sich und einen Treffer in den Charts erreicht. Gahan verrät: „Wir waren unserer selbst gar nicht so sicher, als damals ‚New Life‘ herauskam.“ Es war ein fröhlicher, munterer und tanzbarer Poptrack mit albernem, kindischem Text. „Die Songs von Vince sind seltsam, denn sie haben ja eigentlich keinerlei Sinn“, sagte Gore damals. „Er erfindet irgendeine Melodie und sucht sich dann Wörter zusammen, die sich halt nur zu reimen brauchen.“

Schon bei „Dreaming Of Me“ war die Industrie aufgewacht, und auch einige Fans hatten interessiert hingehört. Im Sommer 1981 waren die Jungs von Depeche Mode bereits regelrechte Popstars. In derselben Woche, als Richard Skinner auf Radio One ein ganzes Depeche-Mode-Programm brachte (dar­unter „Boys Say Go!“ und „Photographic“ von Vince Clarke und „Big Muff“ und „Tora! Tora! Tora!“ von Martin Gore), stieg „New Life“ in die britischen Charts ein. Im Lauf des nächsten Monats kletterte der Song auf Platz 11 und verschaffte der Band ihren ersten Auftritt bei Top of the Pops. „Das war ganz nett“, sagt Fletcher heute über den Durchbruch im Fernsehen. „Zuerst kam ich mir vor wie ein Irrer. Du drückst die Tasten auf dem Keyboard und tust so, als würdest du spielen, und singst in ein Mikrofon, das gar nicht angeschlossen ist. Nach einer Weile fragst du dich, was du eigentlich machst und ob du nicht vor Millionen von Zuschauern wie ein Vollidiot aussiehst. Doch daran haben wir uns gewöhnt, heute finden wir es nur noch komisch.“

Nachdem „New Life“ fünfzehn Wochen in den Charts gewesen und knapp fünfhunderttausend Kopien verkauft hatte, gab Gahan sein Kunststudium am College auf. Er war endlich von sich und seiner Leistung als Sänger überzeugt, als er ein erstaunliches Erlebnis in London hatte. Sein Tutor am College in South­end hatte ihn zum Praxistest nach London geschickt, wo er das Schaufenster eines großen Kaufhauses dekorieren sollte. Als er da im Fenster werkelte, versammelte sich schnell eine Horde weiblicher Fans und bejubelte den Depeche-Mode-Star. Dieses Erlebnis und der Verkauf von einer halben Million Singles von „New Life“ bewogen Gahan, mit der Kunstakademie Schluss zu machen. Und auch Fletcher und Gore gaben ihre Jobs in der Bank und in der Versicherung auf, um sich voll der Band zu widmen.

Die vier sahen 1981 noch aus wie „Jungs von nebenan“, und sie benahmen sich auch so. Zwar schmierten sie sich Make-up um die Augen, aber sie waren keineswegs versnobte, modische Dandys. Steve Sutherland vom Melody Maker, einer ihrer neuen Fans, nannte sie „anpassungsfähige Teenies, die ebenso am Nachmittag zum Tee bei Oma kommen, wie sie des Nachts in die Disco schleichen“.

„Depeche Mode waren alles andere als elitär“, sagt Daniel Miller, der im Blitz nicht eingelassen wurde, weil Steve Strange fand, er sei nicht elegant genug gekleidet. „Mir war wohl klar, dass man in bestimmten Clubs ein elitäres Gehabe erwartete, aber ich konnte es nicht ausstehen. Depeche Mode waren eine Popband. Das Meiste, was man als New Romantic Music hörte, war Mist, denn es war nur die Imitation von David Bowie – eher Rock als Pop. Mich reizte aber die elektronische Musik, und ich war nicht bereit, Anleihen bei der Rockdynamik zu nehmen.“

Die Herkunft von Depeche Mode aus Basildon sorgte auch für die Trennung von der Szene in London, Birmingham und sogar Leeds oder Sheffield, wo jene Aura von künstlerischem Underground angesagt war, wie sie etwa The Human League, Cabaret Voltaire oder Soft Cell pflegten. „Ich glaube, viele andere Synthie-Bands stammten aus Städten mit einer vibrierenden Clubszene“, meint Daryl Bamonte, „während die Medien Basildon stets mehr wie einen Witz belächelten.“

„In England wird man danach beurteilt, woher man stammt“, sagt Miller. „Das hat viel mit der Klassengesellschaft zu tun, die es hier noch immer gibt. Der eine ist aus Manchester, der andere aus Birmingham, aber es ist eben viel cooler, aus Manchester zu kommen als aus Birmingham. Weiß der Teufel, warum. Basildon hat ein Image, das irgendwie gar nicht stimmt. Auch ich glaubte einst, das sei ein nettes, kleines Provinzstädtchen, doch dabei ist da ganz schön was los.“

Im Gegensatz zu den abgehobenen, bewusst ironischen Synthie-Rivalen wirkten Depeche Mode eher wie eine charmante, naive Popband. Gahan sagte einmal zu einem Journalisten: „Wir sind P. U. – Pop und Up.“ Und Vince Clarke korrigierte ihn: „Eigentlich heißt es U. P. – Ultra Pop.“ Die Kritiker reagierten auf die Band genau so, wie Miller es gewollt hatte – wie auf die fleischgewordenen Silicon Teens, eine Teenagerband, die mit neuer Technik arbeitet und das genießt, ohne deshalb eine Science-Fiction-Atmosphäre oder die Wichtigtue-rei kunstbeflissener Studenten um sich zu verbreiten. Und Steve Sutherland schwärmte: „So ziemlich die perfekteste Popgruppe, die ich in dieser Saison erlebt habe. Die haben Songs drauf, die gescheit, aber naiv, intensiv, aber idiotisch zwei Minuten lang zeigen, wie hoch sie über dem immer mehr anwachsenden Rudel von Synthie-Nachahmern stehen. Bescheiden genug, sich an die Spielregeln zu halten, aber brillant genug, diese Regeln auch einmal zu brechen.“

Von Ende 1980 bis 1983 durchlief die britische Musik eine besonders kreative Periode, als sich Burleske, Ironie, Humor, Ehrgeiz, Innovation, Technik und Mode in allen möglichen fantastischen Popstars und Popsongs ausdrückten – alle mit dem Gefühl des eingebauten schnellen Überalterns. Eine jener für diese Ära typischen extremen Gruppen waren Adam and The Ants, die sich aus einer erfolglosen Punkband mit dem Hit „Dog Eat Dog“ von 1980 zu einer aufgedonnerten Indianertruppe mit zwei Schlagzeugern und einem total blödsinnigen Songtext entwickelte. Ein Jahr später sagte es Adam Ant ganz deutlich im Text der Single „Prince Charming“: „Lächerlichkeit ist nichts, wovor man sich zu fürchten braucht.“

Ebenso überraschend meldete sich die Underground-Electronic-Band The Human League im Mai 1981 mit neuem Image als gewitzte „electronic Abba“ zurück, und Sänger Phil Oakey stand ganz offen zu seinen Ideen bestmöglicher Vermarktung: „Ich trage Make-up, denn die Leute hören zu, wenn ich Make-up trage oder eine lächerliche Frisur mit langen Haarsträhnen auf der einen Kopfhälfte und kurz geschoren auf der anderen habe. Das ist nur ein dummer Trick, aber wenn das nötig ist, damit die Leute hinhören, dann müssen wir es eben machen. Je mehr Leute uns hören wollen, umso besser. Nur gepiercte Brustwarzen sind ein Problem. Denn dauernd rufen mich kleine Mädchen an und wollen wissen, wie man das macht.“

Von allen Postpunkbands, die nach Jahren der Glaubwürdigkeit und der Armut versuchten, in die Charts zu kommen, wandelten sich The Human ­League am gewagtesten. Fast über Nacht fanden die Medien, dass es okay sei, Platten zu verkaufen, als ob es kein Morgen gebe. Besonders jene neuen Gruppen rühmten sich ihres Punkhintergrunds, ihrer Fähigkeit zum „Do it yourself“, und sie schienen sich darüber klar zu sein, dass sie eher Eintagsfliegen waren. Martin Rushent, der Produzent von The Human League, der am Hitalbum Dare! von 1981 entscheidend mitgewirkt hatte, meinte damals zur neuen Technik: „All das neue Equipment ist ein großer Gleichmacher, der das ganze Geschwätz von der Virtuosität überflüssig macht.“

Soft Cell erlebten den Durchbruch 1981 mit einer Coverversion der alten Northern-Soul-Hymne „Tainted Love“, über die der NME schrieb: „Perfekt – die funktionellen Töne des Electro-Pop, geschüttelt und neu geformt zum Klang einer vergessenen Jukebox.“ Das Stück wurde Nummer 1 und machte Marc Almond zu einem ungewöhnlichen Popstar: „In der Schule war ich nicht besonders toll. Wie ich das überlebt habe, das brachte die Leute oft zum Lachen“, behauptete er. „Mich interessiert der Verlierer, der kämpfen muss, um nicht unterzugehen. Am wohlsten fühle ich mich bei Außenseitern.“ Die Musikjournalistin Mary Harron war von der Bereitschaft von Soft Cell, Schwächen zu zeigen, beeindruckt und schrieb treffend: „Nach der blasierten Rühr-mich-nicht-an-Vorstellung der New Romantics von Coolness war Marc Almond geradezu eine Inspiration, denn es gelang ihm nie, ein richtiges Image zu vermitteln, meist misslang es ihm schmählich, aber das war ihm völlig egal. Und weil er ein richtiger Popstar war, konnte er dem Versagen sogar Glanz verleihen. Das Video zum Song ‚Bedsitter‘ kombinierte Bilder von zerknitterten Klamotten auf dem Fußboden, Schalen mit Cornflakes und schmutzigen Teetassen mit der romantischen Vorstellung, zum Tanzen auszugehen und alles andere zu vergessen: Die Wirklichkeit einer einsamen und schmuddeligen Jugend und der Mythos der Clubszene verbanden sich, sodass es wie ein leicht erreichbarer Traum wirkte.“

Die niedliche, jugendliche Perversität von Soft Cell, die smarte Aufnahme von zwei ganz normalen Sheffield-Mädels als Backgroundsängerinnen bei Human League, Strickpullis und ernste Stimmen von OMD und der engelhafte Synthie-Pop von Depeche Mode, das alles stand in einem krassen Gegensatz zu den hochnäsigen und anspruchsvollen New Romantics – angefangen von Steve Stranges Spruch, er habe schon immer „anders und Avantgarde“ sein wollen, bis zum „Bonmot“ von Simon Le Bon von Duran Duran, das Beste am Berühmtsein sei doch, dass man „vierundzwanzig Stunden am Tag Räucherlachs essen“ könne.

Die vom Pop angetriebene Atmosphäre war ideal für die ganz normalen Teenagerambitionen von Depeche Mode. Im Juni 1981 spielten sie ihre nächste Single ein, „Just Can’t Get Enough“, ein neuer ansteckender Ohrwurm. Es gab dabei eine Verzögerung, weil sie vergessen hatten, vor der Aufnahme ihre Instrumente zu stimmen, und erst später merkten, dass auf dem Tape nichts richtig zueinanderpasste. Aber das schadete nichts, denn solange „New Life“ noch in den Charts war, mussten sie ohnehin noch bis zum Herbst warten, ehe sie die neue Single herausbringen konnten.

Als das neue Stück fertig war, brach die Gruppe zu einer kurzen Tournee auf, um in Clubs in Brighton, Manchester, Leeds und Edinburgh zu spielen, wo ihr Publikum aus einer Mischung von New Romantics und ein paar Pop-fans bestand. Daryl Bamonte erinnert sich: „Erst als ihr Album Speak And Spell herauskam, hatten sie ein regelrechtes Teenagerpublikum. 1981 galten sie noch als ziemlich hip. Daniel Miller übernahm weitere Jobs bei Depeche Mode: Nun war er nicht nur Chef der Plattenfirma, A&R-Mann, Produzent und Freund – er ging auch mit ihnen auf Tournee. „Damals war ich auch Fahrer, Tour­manager und Toningenieur.“

Im August kam der NME mit einem Titelbild von Depeche Mode, fotogra­fiert von Anton Corbijn, heraus, auf dem Dave Gahan verschwommen und die anderen hinter ihm scharf zu sehen waren. „Ich war sehr enttäuscht“, sagt Gahan. „Ich stand zwar ganz vorn, aber nur unscharf. Das fand ich ziemlich gemein. Ich war ganz außer mir wegen des Fotos. Ich weiß noch, dass ich dachte: ‚So ein Bastard! Hat mich extra undeutlich geknipst!‘“ Das Interview im Blatt hatte Paul Morley geführt. Er zeichnete die Band positiv als intellektuelle Note des New-Pop-Phänomens, wobei er allerdings Vince Clarke, der nicht dabei war, als „deprimiert“ bezeichnete. Der stille und etwas seltsame Songwriter der Band äußerte sich damals nicht dazu, aber später gestand er, dass er sich durch die Routine einer erfolgreichen Popband eingeengt fühlte. „So, wie das Ganze lief, führte es dazu, dass ich meinen Enthusiasmus verlor. Es war wie eine Fließbandproduktion geworden, und das gefiel mir gar nicht. Die Technik und unser Spiel waren zwar viel besser, aber trotzdem war ich nicht zufrieden und fand, dass uns viele Dinge am Experimentieren hinderten. Wir hatten zu viel zu tun, jeden Tag gab es irgendwas Neues, Wichtiges, sodass wir keine Zeit mehr hatten, einfach rumzuspielen.“

Die Jungs aus Basildon standen jetzt an einem gefährlichen Punkt ihrer Karriere, denn die gesamte Musikindustrie behandelte sie wie nette kleine Spinner und ihre Musik wie eine Marotte. Ihr Radiopromoter Neil Ferris war zwar ungeheuer erfolgreich, indem er der Band tagsüber zu immer mehr Airplay verhalf, aber er hatte kein Interesse daran, der Gruppe mehr Glaubwürdigkeit zu verschaffen. Die Musikpresse freute sich über ihre unschuldige Naivität, die natürlich nur sehr kurzlebig sein konnte, und Daniel Miller war entschlossen, zu beweisen, dass Mute eine Popband unter Vertrag haben konnten, die ständig Hits herausbrachte. „Vielleicht haben sie damals zu viel mit der Presse und dem Fernsehen gemacht“, räumt der Mute-Chef ein, „aber das lässt sich nur schwer entscheiden. Mute waren ein junges Label, und sie waren noch Teenager. Unglücklicherweise wurde ihnen damals der Stempel des Teeniepop aufgedrückt, ein Image, das sie in Großbritannien nie ganz abschütteln konnten.“

Am 7. September kam die dritte Single, „Just Can’t Get Enough“, heraus und landete auf dem bislang höchsten Platz in den Charts – auf 8. Der ultrapoppige Song, von der Band und Daniel Miller in hellen und vielschichtigen Analogsounds ausgearbeitet, war immer ein Favorit der Fans gewesen. Das Urteil der Kritiker fiel unterschiedlich aus. Manche fanden, dass die Singles von Depeche Mode mit der Zeit allzu übermütig und kindhaft wurden. Der Record Mirror brachte die negativen Urteile über „Just Can’t Get Enough“ auf den Punkt: „Höchst vergnüglich, lustig und frisch – und fast schon ärgerlich.“

Am 19. September spielten Depeche Mode im Londoner Venue ein Bene­fizkonzert für amnesty international, danach brach man zur ersten Tournee auf dem Kontinent auf. Es war nur eine kurze Tour mit vier Auftritten in Hamburg, Amsterdam, Brüssel und Paris. Die europäische Presse steckte sie wegen ihrer Rüschenhemden und ihres Make-ups in die Schublade der New Romantics. Gahan erinnert sich: „Wir haben so an die dreißig Interviews gegeben, und jedes Mal wurden wir gefragt, ob wir Blitz Kids seien, und dann druckten sie unsere Dementis gleich neben den schlimmen Fotos ab, die uns in Rüschenhemden und mit Lidschatten zeigten.“ Die wichtigste Entwicklung während dieser Auslandsreise war aber, wie sich Daniel Miller entsinnt, „eine beginnende Entfremdung zwischen Vince Clarke und dem Rest der Band. Es wurde so schlimm, dass sie nicht einmal mehr miteinander sprachen.“

Clarke hatte die alltägliche Promotionroutine so satt, dass er dem ganzen Rummel geradezu feindselig gegenüberstand. Er kam sich so sehr in die Ecke gedrängt und überflüssig bei alledem vor, dass er sich sogar von seinen Freunden zurückzog. So war es keineswegs mehr eine Überraschung für die anderen, als er ihnen ankündigte, er wolle sich von ihnen trennen. „Sie hatten es erwartet“, sagt Clarke. „Ich war damals sehr deprimiert, und daher ahnten sie schon, wie ich mich entscheiden würde. Aber ich teilte es dennoch jedem Einzelnen von ihnen mit.“

Daryl Bamonte erinnert sich noch genau, dass der eigensinnige, stille Songwriter der Band ihm am ersten Tag der beginnenden Großbritannientour seine Entscheidung mitteilte. „Ich glaube, niemand war überrascht, dass Vince gehen wollte“, sagt Bamonte. „Vince war schon seit mehreren Monaten eigentümlich schweigsam geworden, ehe er sich entschloss, der Gruppe den Rücken zu kehren. Das Magazin Smash Hits wollte damals eine Flexidisc mit Depeche Mode beilegen, und weil Andy und Martin gerade auf Urlaub waren, machte Vince die Aufnahme dafür nur mit Dave als Sänger. Fletch meinte dann: ‚Ich glaube, Vince braucht uns gar nicht.‘ Vince machte einfach lieber alles allein, während die anderen sich als Teil einer Gruppe verstanden. Vince ist nun mal sehr unzugänglich. Seltsamerweise hatte man früher immer die drei anderen Mitglieder von Composition of Sound für verschlossen und unzugänglich gehalten.“

Andrew Fletcher blickt zurück: „Vince war für das gesamte Konzept der Band wichtig. Ohne ihn hätten wir gar nicht gewusst, wohin unser Weg ging. Er war der Motor. Es mag seltsam scheinen, aber ich glaube nicht, dass er seinen Abgang jemals bereut hat. Wahrscheinlich war er überzeugt, dass er alles allein machen konnte, und irgendwie stimmte das ja auch.“

Daniel Miller betont, dass beim Abschied von Vince Clarke niemand daran dachte, die Band aufzulösen: „Jeder wusste, dass Martin ein guter Songwriter war. Selbst zu den Stücken von Vince waren ihm noch gute Melodien eingefallen. Sie hatten alle gerade erst ihre Jobs aufgegeben und zwei Hitsingles – also war es klar, dass sie nicht daran dachten, aufzugeben. Martin schrieb fortan die Songs, und Fletch übernahm viele andere Aufgaben von Vince – vor allem die organisatorische Seite. Man darf nicht vergessen, dass sie bei Mute waren, wo wir nur drei oder vier Bands hatten. Sie waren für uns wirklich sehr wichtig. Und sie wussten genau, was sie wollten, und vor allem wollten sie auch ohne Vince durchhalten.“

Die Entschlossenheit von Miller und Depeche Mode, weiterzumachen, obwohl der Musiker wegging, der doch alle Hits geschrieben hatte, war schon erstaunlich. Der Britpop erlebte damals eine Phase schärfster Konkurrenz, als aufsehenerregende neue Bands beinahe allwöchentlich ihren Durchbruch schafften, Gruppen wie Teardrop Explodes, ABC, Culture Club, The Associates, Simple Minds, Japan, The Cure, Ultravox, Visage, Wham! und Spandau Ballet. Gore meint rückblickend: „Wir hätten damals weit besorgter sein sollen, als wir waren. Wenn der Chefsongwriter eine Band verlässt, dann ist das schon ziemlich schlimm. Aber das ist eben das Gute daran, wenn man noch so jung ist. Wenn wir damals in Panik geraten wären, gäbe es uns wohl heute gar nicht mehr.“

Fletcher meint: „Ich glaube, Vince war ziemlich überrascht über unsere gelassene Reaktion, aber wir waren ja eigentlich darauf vorbereitet – die ganze Atmosphäre war so mies geworden. Wir drei und Vince gehörten schon kaum mehr zusammen. Er hatte das Gefühl, dass wir in den Besitz der Öffentlichkeit übergegangen waren, es gefiel ihm nicht, was mit Depeche Mode geschah, er wollte nicht berühmt sein und hasste es, auf Tour gehen zu müssen.“

Alle einigten sich darauf, Clarkes Ausstieg geheim zu halten, bis die Herbsttournee 1981 vorüber war. „Vince hatte uns sehr rechtzeitig gesagt, dass er wegwollte“, sagt Miller, „aber wir beschlossen, davon nichts verlauten zu lassen, denn wir waren gerade im Begriff, den amerikanischen Vertrag mit Sire Records zu unterschreiben, und wollten nicht, dass die durchdrehten, wenn wir ihnen gesagt hätten, dass der wichtigste Songwriter der Band uns verlassen will.“

Am 31. Oktober brachen Depeche Mode zur ersten UK-Tour auf, wobei Clarke mitfuhr, um Promotion für das kommende erste Album, Speak And Spell, zu machen. Depeche Mode nahmen an der ausverkauften Tour als Vorgruppe für das Electro-Pop-Duo Blancmange teil, das auch auf Stevos Some Bizzare Album gespielt hatte. Trotz Clarkes geheim gehaltenem Entschluss, auszusteigen, vertrug man sich und sprach miteinander, sagt Daryl Bamonte: „Die drei anderen ließen sich nicht beirren und wollten sich nicht daran hindern lassen, auf der Tour ihren Spaß zu haben.“

Bamonte, der als Roadie dabei war, beschreibt das Publikum als ziemlich gemischt. „Da waren etliche junge Fans, aber auch die alte ‚Regenmantel­brigade‘, denn es war ja wieder eine Clubtour, bei der die Band oft erst gegen Mitternacht auf die Bühne kam. In vielen Clubs – wie zum Beispiel im Top Rank in Birmingham – betrug das Mindestalter der Gäste achtzehn Jahre.“ Fletcher entwickelte seine eigene Theorie über den Altersunterschied zwischen denjenigen, die ihre Platten kauften, und denjenigen, für die sie bei ihren Gigs spielten: „Ich glaube nicht, dass Tourneen eine große Rolle für unsere Musik spielen. Die meisten Käufer unserer Platten waren wahrscheinlich noch nie im Leben bei einem Gig dabei und würden das wohl auch niemals tun. Die sehen sich lieber Fotos von uns in den Magazinen an.“

Am vordersten Bühnenrand zeigte der charismatische Dave Gahan schon jetzt Eigenschaften einer richtigen Rampensau, verglichen mit den Rock’n’Roll-Auftritten späterer Jahre war das aber noch recht bescheiden. Die Musiker hatten noch keine rechte Vorstellung davon, wie sie sich in der Öffentlichkeit präsentieren wollten. Sie waren schlimm angezogen, in einer Mischung aus New-Romantics-Lumpen und billigem High-Street-Zeug. Am schlimmsten war jedoch die Tatsache, dass die Synthesizer – anders als Gitarren – an festen Plätzen auf der Bühne standen, was ihnen jede Möglichkeit nahm, sich auf der Bühne wie professionelle Performer zu bewegen. Gary Numan hatte dieses Problem dadurch gelöst, dass er eine lebhafte Light-Show veranstaltete und außerdem mit einer Art eingefrorener Pantomime Körpersprache vermittelte. The Human League benutzten Projektoren, um interessante Dias auf dem Bühnenhintergrund zu zeigen, und Kraftwerk hatten Schaufensterpuppen als Doppelgänger auf die Bühne gestellt. „Wir machen keine Fotosessions mehr“, sagte Ralf Hütter von Kraftwerk Ende der Siebzigerjahre. „Unsere Dummys sind plastisch und widerstandsfähiger gegen Fotos.“

Depeche Mode waren nicht die einzige elektronische Band, die Probleme damit hatte, ihre Musik zu visualisieren. Andy McCluskey von OMD, der eher wie ein Erdkundelehrer aussah als wie ein Popstar, räumte ein: „Visuell ist unser Image eine Katastrophe. Wir sehen aus wie ein Haufen Idioten, die man gerade von der Straße geholt hat.“

Hinter der Bühne verbrachten Gahan und Gore die meiste Zeit mit ihren Freundinnen, Joanna und Anne, die beide auf Tour auch aushalfen – Jo leitete den Fanklub der Band, und Anne arbeitete am Merchandising-Stand. Daryl Bamonte, der gerade die Schule abgeschlossen hatte, war jetzt ganzzeitlich Roadie und sorgte für eine vertraute, freundschaftliche Atmosphäre hinter den Kulissen. Jeder, der mit auf Tournee war, empfand den bevorstehenden Verlust von Clarke beim letzten Gig der Band im Londoner Lyceum am 16. November als schmerzlich. Als das Konzert zu Ende war, ging der Songwriter davon, drehte sich noch einmal um und winkte zum Abschied.

Mitte November 1981 veröffentlichten Mute das erste Album. „Das war auch wieder eine aufregende Zeit“, sagte Miller. „Als die Platte auf den Markt kam, bezogen wir auch unser erstes richtiges Büro, und ich nahm zu den drei Angestellten noch einen vierten dazu. Das war auf dem Seymour Place im Londoner West End.“ Daniel Miller und Depeche Mode hatten das Album Speak And Spell gemeinsam produziert; es erreichte Platz 10 der Charts und hielt sich zweiunddreißig Wochen lang in der Bestenliste. Die Platte enthielt die beiden Hitsingles „New Life“ und „Just Can’t Get Enough“ sowie einige Lieblingstracks der Band aus den Livekonzerten. Das Cover mit dem Bild eines Schwans machte zwar nicht viel Sinn und kam auch nicht allzu gut rüber, aber damit zog die Band doch einen deutlichen Trennungsstrich zwischen sich und anderen Gruppen, die Fotos ihrer Gesichter auf den Plattenhüllen bevorzugten.

Der Fotograf und Coverdesigner Brian Griffin hatte schon etliche berühmte Hüllen in den späten Siebzigern und zu Beginn des neuen Jahrzehnts illustriert, unter anderem für Elvis Costellos Armed Forces, Joe Jacksons Look Sharp und Iggy Pops Soldier sowie für Teardrop Explodes, Echo and The Bunny­men und Devo. „Damals hatte mein Agent ein Büro auf dem Seymour Place“, erinnert sich Griffin. „Er hatte den ersten, zweiten und dritten Stock gemietet, und eines Tages erzählte er mir, eine kleine Plattenfirma sei im Parterre eingezogen, die ein Plattencover brauche. Ich musste nur eine Treppe hinuntergehen, um Daniel in seinem kleinen Büro zu treffen. Ich ließ mich informieren, wobei ich das erste Meeting mit der Band ziemlich seltsam fand, denn sie wirkten sehr passiv. Da war kein Eifer, alles schien ihnen egal. Aber je länger ich mit ihnen arbeitete, umso engagierter wurden sie. Ich machte das Coverfoto in meinem Studio in Rotherhithe. Ich habe keinen Schimmer, wie ich auf den Gedanken kam, einen Schwan in einen Plastikbeutel zu packen. Ihre Reaktion auf das Motiv fiel sehr zweifelnd aus.“

„Es war scheußlich“, sagte Gahan kurz nach Veröffentlichung der Platte. „Brian Griffin erklärte uns vorab seine Idee: Wir sollten uns vorstellen, wie ein Schwan in der Luft oder auf einem Meer aus Glas schwebe. Und das klang ganz großartig. Hinterher war es aber nur ein ausgestopfter Schwan in einem Plastikbeutel! Es sollte alles hübsch und romantisch sein, doch dann war es nur komisch.“

Speak And Spell bekam überwiegend positive Kritiken. Sounds beschrieb das Album als „trendy Electro-Disco-Beats, die Hand in Hand gehen mit Chorknabenmelodien und einem Karussell von Neo-Folk-Synthies, um ein perfektes, unverschnörkeltes Popsoufflé hervorzubringen“. Und der Melody Maker meinte: „Das klingt so eindeutig fröhlich, so klar und sprühend vor neuem Leben, dass man meint, sie müssten eigentlich tanzende Schatten in die Wände brennen.“ Paul Morley vom NME schrieb: „Depeche Mode nehmen die glänzende, flüchtige, oberflächliche und vorhersehbare Nettigkeit des Teen-Bop – das passive Muster von Slik, das frische Tempo der Bay City Rollers – und emaillieren sie mit Intelligenz und Unbekümmertheit. Depeche Mode führen die Fähigkeit, lesen und schreiben zu können, in den Bubblegum ein.“ Der Record Mirror bewertete die Platte mit der Höchstnote – fünf Punkten – und beschrieb sie als „charmante, kecke Kollektion verführerischer Tanzlieder, sprudelnd und knapp, wie Popmusik sein sollte“. Der Autor der Plattenkritik empfand den ernsthafteren Track „Photographic“ als Höhepunkt und meinte: „‚Photographic‘ klingt wie die beste Musik von Gary Numan – nur noch besser: Alle düsteren Passagen, textlich wie musikalisch, kommen mit einem schnell tanzbaren Beat statt mit der Feierlichkeit, die Numan stets allzu dick auftrug.“

Speak And Spell klingt tatsächlich sehr kaugummimäßig und naiv, enthält aber schon Hinweise darauf, dass die Band durchaus bereit ist, atmosphärisch dichtere Gebiete und Themen zu ergründen. Die Beiträge „Photographic“ und „Puppets“ von Vince Clarke und das verträumte „Any Second Now“ weisen schon in diese Richtung, aber noch wichtiger für diesen Trend sind Martin Gores „Tora! Tora! Tora!“ und das exzellente Instrumentalstück „Big Muff“. Speak And Spell enthält außerdem auch den reinen elektronischen Sound ihrer Liveauftritte und an Kraftwerk erinnernde Klarheit, gemischt mit eindeutigen Teenagerpopklängen. Daniel Miller betont: „Wir haben nie polyfone Synthesizer benutzt, um Akkorde zu spielen. Wir fanden, dass das nicht zu elektronischer Musik passte, und daran glaube ich immer noch. Mithin mussten wir die Akkorde Ton für Ton aufbauen.“ Trotzdem beurteilte Dave Gahan die Platte nach wenigen Jahren weitaus kritischer als zu Beginn, nachdem er oft genug die schauerlich kitschigen Songs „Boys Say Go!“ oder „What’s Your Name?“ gehört hatte: „Bestimmte Tracks aus Speak And Spell sind mir heute peinlich, obwohl ich die Platte damals großartig fand.“

Im Dezember 1981 gaben Mute offiziell bekannt, dass Clarke die Band verlassen habe. Nach der Tour wurde die Stimmung erst richtig schlimm, angeheizt durch die aggressiven und ehrgeizigen Veranlagungen von Gahan und Fletcher. „Die Trennung war alles andere als freundschaftlich“, sagt der hyperaktive, emotionale Gahan. „Auf beiden Seiten herrschten recht böse Gefühle. Es dauerte fast ein Jahr, ehe sich das legte, aber bis dahin war es ziemlich bissig.“

Zur gleichen Zeit schaltete die Gruppe eine Anzeige im Melody Maker: „Bekannte Band sucht Synthesizerspieler unter einundzwanzig Jahren.“ Ihre erste USA-Tournee war für den Januar 1982 gebucht, weil die Single „Just Can’t Get Enough“ in den US-Clubs so erfolgreich war, und dafür brauchte die Band jemanden, der die Melodien von Clarke live spielte. Depeche Mode wollten nicht etwa einen ständigen Ersatz für den abtrünnigen Songwriter einstellen. Unter den Keyboardern, die zum Vorspielen kamen, war auch der zweiundzwanzigjährige Alan Wilder aus Hammersmith, Westlondon.

Wilder, am 1. Juni 1959 geboren, war älter als die Mitglieder von Depeche Mode, und er stammte außerdem aus einer liberaleren Mittelschichtfamilie. „Die Jugend von Hammersmith ist nicht so rebellisch wie die Teenager von Basildon, obwohl meine Eltern weder reich noch arm waren. In der Schule hielt ich mich meist sehr im Hintergrund. Das Einzige, was mich interessierte, waren Musik und Sprachen.“ Als Wilder mit elf Jahren auf die Saint Clement’s Danes Grammar School kam, spielte er bereits Klavier und Flöte, und so wurde er bald Mitglied des Schulorchesters und einer Blaskapelle.

„Meine Eltern wollten, dass ihre Kinder musikalisch erzogen werden“, erzählt Wilder. „Einer meiner Brüder ist Pianist und begleitet alle möglichen Sänger, der andere gibt Musikunterricht in Finnland. Nachdem ich 1975 die Schule verlassen hatte, war ich die ganze Zeit arbeitslos gewesen. Meine Eltern rieten mir, mich bei Tonstudios zu bewerben. Ich wurde, glaube ich, rund vierzigmal abgewiesen. Schließlich wurde ich zum Teekochen in den DJM-Studios im Londoner West End angestellt, wo ich meinen damaligen Idolen, den Rubettes, begegnete. Außerdem spielte ich in einer kleinen Soft-Rock-Band mit, die sich The Dragons nannte. Dann zog ich nach Bristol, um mehr Gelegenheit zum Üben zu haben. Danach spielte ich in mehreren Jazz- und Bluesbands mit, darunter auch in einer Pub-Band namens Real To Real.“ Für kurze Zeit spielte Wilder in der New-Wave-Band Daphne and The Tenderspots, die eine Single, „Disco Hell“, herausbrachte und wo er sich Alan Normal nannte. Später schloss er sich den Hitmen an, deren Sänger Ben Watkins Juno Reactor gründete. Er spielte bei einigen Liveauftritten mit und entdeckte dann die Anzeige im Melody Maker.

Der witzige, schlagfertige Wilder erinnert sich: „Bevor ich zu Depeche Mode kam, hatte ich, ehrlich gesagt, keine Ahnung von elektronischer Musik. Zum Vorspielen hatten sich fast nur Fans der Band eingefunden, und ich glaube, es gefiel Dave, Andrew und Martin einfach, dass ich im Gegensatz zu denen ziemlich unbeeindruckt blieb. Außerdem konnte ich gleich von Anfang an bei ihnen problemlos mitspielen. Was mir noch auffiel bei dieser ersten Probe: Sie hatten alle Pullover der britischen Warenhauskette Marks & Spencer an und waren unglaublich schüchtern. Das ist Martin zwar immer noch, aber damals war seine Schüchternheit fast unerträglich. Man kam sich bei ihm richtig beklommen vor, eben weil er selbst so verklemmt war.“

Die Probe war für Alan Wilder gar nicht so einfach, wie sich das vielleicht im Nachhinein anhört: „Ich komme ja eher aus einer Mittelschichtfamilie, doch die anderen waren typische Bengel aus der Arbeiterklasse. Musikalisch fand ich ihre Klänge ein bisschen naiv, aber trotzdem nicht uninteressant. Außerdem war ich damals in einer so verzweifelten Lage, dass ich einfach jeden Gig zum Mitspielen angenommen hätte.“

Wilder fiel auch damals schon die Rolle von Daniel Miller als Inspirator und Mentor auf: „Daniel war damals sehr sorgfältig bei jeder Entscheidung, die mit Depeche Mode zu tun hatte. Ich musste mich vor der Probe zuerst bei Daniel vorstellen; alle mussten das. Er verhörte erst einmal die Leute, danach durften sie zum Vorspielen. Etwa zwanzig Leute spielten vor, danach bat Daniel zwei erneut zur Probe. Ich war einer dieser letzten beiden Aspiranten, und ich war wohl kaum nach Daniels Geschmack. Der andere hatte zwei Songs, die Daniel gefielen, und ich glaube, seiner Ansicht nach passte er besser zur Band. Daniel hatte wohl gemerkt, dass ich einen ganz anderen Hintergrund und außerdem eine musikalische Ausbildung hatte. Aber ich glaube, der Band war das ziemlich egal – sie fanden wohl einfach, dass ich die Songs spielen konnte und dar­über hinaus auch noch äußerlich zu ihnen passte, also entschlossen sie sich für mich. Daniel rief mich kurz danach an und sagte mir, dass ich den Job bekäme. Aber er ließ keinen Zweifel daran, dass es nur für diese eine Tournee war.“

Miller bestätigt: „Ich glaube, ich hätte dem anderen Kandidaten den Vorzug gegeben, aber sie wollten Alan haben. Also gab ich meinen Segen dazu. Es ging ja auch nur darum, einen Livemusiker zu haben, und nicht etwa ein ständiges neues Bandmitglied einzustellen. Alan fühlte sich wohl ziemlich über­legen, denn er konnte ihre Songs einhändig spielen. Aber es klappte eben gut, und man brauchte ihm nichts beizubringen.“

„Als ich zu Depeche Mode kam, gefiel mir ihre Musik überhaupt nicht“, gesteht Wilder. „Martin, Dave und Andy waren aber nette Kerle, und so beschloss ich, ein paar Monate bei ihnen mitzumachen. Ich habe das nie bereut“, sagt er ganz ernst.

Ende 1981 gingen die drei Gründungsmitglieder – ohne Clarke und Wilder – wieder ins Blackwing-Studio, um eine neue Single einzuspielen, „See You“. Daniel Miller erzählt: „Es war der erste Track, den wir ohne Vince aufnahmen. Martin hatte sich den Song ausgedacht, und der war ganz einfach: nur eine Melodie auf dem Casio, und Martin tappte dazu den Beat mit dem Fuß. Der Song war insoweit bereit, aber es war nicht zu erkennen, in welche Richtung Arrangement und Sound gehen sollten. Es war ganz anders als mit Vince, der ja immer genau wusste, was er wollte, aber die Atmosphäre im Studio war dennoch recht hoffnungsvoll und positiv. Keiner hatte irgendwelche Zweifel, dass es weitergehen würde.“

Depeche Mode - Die Biografie

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