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Es begann 1991 mit einer beiläufigen Bemerkung von Bono, dem Leadsänger der irischen Rockgruppe U2. Wir diskutierten über die Verdienste katholischer und protestantischer Künstler im westlichen Kulturkreis, und Bono sagte, seiner Meinung nach gehörten die Lieder von Charles Wesley zu den bedeutendsten Kunstwerken englischer Protestanten.

Ich erwähnte die faszinierenden Geschichten einiger dieser Lieder und dachte dabei besonders an »When Peace like a River« (deutsch: Wenn Friede mit Gott meine Seele durchdringt) von Horatio Gates Spafford. Ich wusste, dass dieses Lied entstanden war, als der Autor von Liverpool nach New York segelte. Unterwegs erfuhr er, dass seine vier Töchter, die zusammen mit seiner Frau auf einem anderen Schiff vor ihm reisten, ertrunken waren. Das Schiff war vor der Küste Neufundlands mit einem anderen kollidiert. Als Spafford in die Gegend kam, wo seine Kinder den Tod gefunden hatten, waren ihm angeblich die Anfangszeilen des Liedes in den Sinn gekommen. Solche Geschichten erzählten Prediger manchmal, und als Kind erschienen mir dann Kirchenlieder, die ich sonst als langweilig empfunden hätte, als etwas ganz Besonderes.

Daraufhin erwähnte Bono »Amazing Grace«. »Kennst du das?« Natürlich kannte ich das Lied und ein wenig auch seine Geschichte. Der Verfasser war John Newton, ein Sklavenhändler, der nach einem schrecklichen Sturm auf See eine Bekehrung erlebt hatte. Er wurde Pfarrer, schrieb diese Hymne, die 1971 zu den Top Ten gehörte. Ich besaß sogar eine Taschenbuchausgabe von Newtons Autobiografie, die ich wohl von meinem Vater ausgeliehen und nie gelesen hatte. In der modernen Ausgabe hieß das Buch Out of the Depths (Aus den Tiefen). Auf dem grellen Titelbild war ein rotgesichtiger Seemann abgebildet, der am Steuer eines sinkenden Schiffes stand. An seinen Füßen brachen sich die Wellen, und die zerfledderten Segel flatterten im Wind.

Drei Jahre später suchte ich nach Ideen für einen Film. Auf einem Flug von London nach Los Angeles begann ich Out of the Depths zu lesen, das ich als mögliches Quellenmaterial mitgenommen hatte. Ich fand die Geschichte dieses Seemanns und Sklavenhändlers faszinierend. Sie besaß alle Elemente eines großen Dramas: einen Helden und Rebellen, eine Liebesgeschichte, Suche und Streben, Flucht, Hindernisse, Konflikte, Prüfungen, Wendepunkte, eine Krise, einen Höhepunkt, eine Auflösung und persönliche Veränderung.

Als ich nach London zurückkam, rief ich Bono an und erzählte ihm, auf was für eine tolle Idee er mich gebracht hatte. »Tatsächlich?«, sagte er. »Die Geschichte des Liedes kannte ich gar nicht. Hab’mir nur gedacht, dass sie sicher gut ist.« So fasste ich ihm kurz den Inhalt zusammen. Er hörte schweigend zu. »Das ist ja ne tolle Story«, meinte er. »Muss ich unbedingt lesen.«

In den folgenden Jahren spürte ich Newtons Lebensgeschichte immer mehr nach und beschloss dann, lieber ein Buch zu schreiben statt einen Film zu drehen. Meine Aufmerksamkeit galt dabei eher dem Lied als seinem Verfasser.

Am 11. September 2001 war ich mitten in der Schreibarbeit, aber nach diesem Tag war »Amazing Grace« plötzlich das Lied, das die Menschen überall sangen, um ihrem Glauben, ihrer Hoffnung und ihrer Solidarität Ausdruck zu verleihen. Dass Menschen aller Altersgruppen sich an den Händen fassten und leise die bewegenden Worte sangen, war eines der ergreifendsten Bilder in Zeiten des Schocks und der Trauer. »Amazing Grace« wurde in Gottesdiensten, bei Gedenkfeiern, Benefizkonzerten und Beerdigungen gesungen. Es wurde in Manhattan von einer Kapelle der Heilsarmee gespielt, während Freiwillige die Lastwagen mit Hilfsgütern für die Helfer von Ground Zero beluden. Dudelsackbläser der New Yorker Polizei spielten es am Beginn des Prayer-for-America-Gottesdienstes im Yankee Stadion. Mitarbeiter des Roten Kreuzes sangen das Lied in Shanksville, Pennsylvania, wo die Maschine der United Airlines, Flug 93, auf ein Feld gestürzt war.

Später hörte man »Amazing Grace« nicht nur überall in Amerika, sondern auf der ganzen Welt. Ein Schulchor sang das Lied im Nationalstadion in Singapur vor 15.000 Menschen. Mica Paris, die bekannte britische Soulsängerin, sang eine A-capella-Version in einem Gedenkgottesdienst in der Westminster Abbey in London; 200.000 Berliner summten die Melodie am Brandenburger Tor; kanadische Abgeordnete sangen es gemeinsam im Parlamentsgebäude in Ottawa, und in Lakenheath, dem größten amerikanischen Luftwaffenstützpunkt in Europa, wo F-15 Bomber darauf warteten, in den Mittleren Osten geschickt zu werden, spielte es ein einzelner Dudelsackbläser als Zeichen, dass das dreiminütige Schweigen zu Ende war.

Und natürlich war es bereits die Lieblingshymne von Präsident George W. Bush. In seiner 1999 erschienenen Autobiografie A Charge to Keep beschrieb er seinen christlichen Glauben mit Worten aus diesem Lied. »Ich durfte erfahren, dass Gott seinen Sohn für einen Sünder wie mich in den Tod geschickt hat«, schrieb er. »Mein Trost wurde, dass ich durch den Sohn Gottes unglaubliche Gnade erleben durfte, eine Gnade, die jede Grenze, jede Hürde übersteigt und jedem offensteht.« Während seiner Amtseinführung in Washington wurde das Lied dreimal von Tiffany Ameen gesungen, einer Schülerin aus New Orleans.

Mein persönliches Schlüsselerlebnis mit »Amazing Grace« hatte ich jedoch an einem ganz normalen Sonntag, als ich mit meinem sechzehnjährigen Sohn einen Gottesdienst in der Londoner All Souls Church besuchte. An dieser Stelle muss ich hinzufügen, dass mein Sohn sich wunderte, warum sein Vater sich so ausgiebig mit einem Lied beschäftigte, das so … nun … so uralt war. Viel lieber wäre es ihm gewesen, ich hätte ein Lied unter die Lupe genommen, das gerade in den Charts stand. Das eben wirklich wichtig war.

An diesem Sonntagmorgen trat ein Mann vor der Predigt ans Rednerpult, um kurz zu erzählen, wie er Christ geworden war. Sein Name war Sherman Whitfield. Er war ein großer, muskulöser Schwarzamerikaner mit rasiertem Schädel, einem breiten Grinsen und einer Stimme, um die ihn jeder Schauspieler beneidet hätte. Er war mir schon früher aufgefallen, und ich war immer beeindruckt, wenn er die Kanzellesungen hielt. Er trug einen Bibeltext so dramatisch vor, dass ich hinterher das Gefühl hatte, ich hätte dieses Buch noch nie gelesen.

Sherman Whitfield kam aus Arkansas und arbeitete für ein Chemiewerk in England. Nun erzählte er also seine Geschichte. Er stammte aus einer Familie mit sechs Kindern, und sein Vater hatte die Familie verlassen, als er noch klein war. Keiner aus seiner Familie ging in die Kirche, obwohl seine Großmutter eine gläubige Christin war. Er hatte sich durch Schule und College gekämpft, einen guten Abschluss gemacht und dann eine gut bezahlte Stelle bekommen. Und so war er stolz auf das, was er erreicht hatte. »Ich dachte, dass Sherman Whitfield schon ein toller Kerl ist«, sagte er. »Ich hatte mich selbst an den Haaren aus dem Sumpf gezogen, ich war Herr über meine Seele, ich war der Boss.«

Zwei Jahre nach Abschluss der Universität heiratete er und war sehr erfolgreich im Beruf. Aber dann geriet sein Leben ins Wanken. Mit seiner Ehe ging es bergab, und seine Frau holte sich Rat bei einem Pastor. Als Sherman an einem Nachmittag früher nach Hause kam, ertappte er die beiden in flagranti. Der Pastor sprang auf und rannte aus dem Haus; Sherman folgte ihm auf den Fersen. »Ich hatte schon von den Seelsorgegesprächen dieses Pastors gehört«, kommentierte er spöttisch, »aber ich hatte nicht gewusst, wie persönlich sie waren.«

Nach dieser Entdeckung ging es mit seinem Leben stetig bergab. Seine Ehe zerbrach, er begann zu trinken, und natürlich ließ auch die Qualität seiner Arbeit nach. Die Selbstsicherheit, die sich über die Jahre aufgebaut hatte, wurde immer stärker unterhöhlt. »Ich hatte keine Kontrolle mehr über das Schiff. Ich hatte keine Kontrolle mehr über mein Leben. Ich war am Boden zerstört. Ich war verletzt. Ich war ein gebrochener Mann.«

In dieser Situation erinnerte er sich an Dinge, die seine Großmutter ihm von einem Jesus erzählt hatte, der Kranke heilen, Tote auferwecken und den Blinden das Augenlicht wiedergeben konnte. Ob dieser Jesus auch etwas für Sherman Whitfield tun konnte? »Ich sagte meinen Freunden, die mit mir joggten, dass ich daran dachte, in die Kirche zu gehen. Aber sie meinten nur: Steht es schon so schlimm mit dir, Sherman?«

Trotzdem machte er sich auf den Weg zur Kirche, immer noch unsicher, ob das nun das Richtige sei. »Eine innere Stimme sagte mir: Sherman, du brauchst doch nicht gerade heute Abend zu gehen. Tu’s nicht. Geh nach Hause zurück. Und eine andere Stimme sagte: Nein, du musst gehen. – So ging ich also an diesem Abend in die Kirche und hörte das Wort Gottes, und nach der Predigt stand der Chor auf und sie sangen:

Amazing grace! (how sweet the sound)

that saved a wretch like me!

I once was lost, but now am found;

was blind, but now I see.

Unglaubliche Gnade, (wie süß der Klang)

die einen Elenden wie mich gerettet hat!

Einst war ich verloren, nun bin ich gefunden;

war blind, nun kann ich seh’n.

Als ich von dem Elenden hörte, sagte ich: Moment mal! Er rettet die Elenden? Das bin ja ich! Ich ging normalerweise nicht in die Kirche, und so verstand ich nicht das ganze Drum und Dran, wie man gerettet wird. Ich saß ganz hinten, und als sie mit dem Lied fertig waren, stand ich auf und streckte die Hand hoch. Der Prediger sah mich an. Ich weiß nicht, ob er gedacht hat, dass die Kirche brennt oder so was, aber er sagte: Bitte, kann ich Ihnen helfen? Ich sagte: Ich will diesen Jesus, von dem ihr hier redet. Ich will den, der einen Elenden retten kann. Da bat er mich niederzuknien. Ich gab dem Prediger die Hand, und ich gab Gott mein Herz.

Seit dieser Zeit ist alles neu geworden. Gott hat mir ein neues Leben geschenkt – und eine neue Frau dazu. Ein paar Jahre später habe ich übrigens diesen Prediger wiedergetroffen, den ich mit meiner Frau erwischt hatte, und all der Hass, all die Wut, alles, was ich ihm immer schon antun wollte, schmolz einfach dahin. Ich ging auf ihn zu und reichte ihm die Hand. So etwas kann nur Jesus bewirken.«

Shermans Geschichte war für mich wie eine Bestätigung. Es war, als hätte Gott mir seine Hand auf die Schulter gelegt. Diese Worte, die am Ende des 18. Jahrhunderts an einem frostigen Dezembertag im Dachzimmer eines englischen Pfarrhauses geschrieben worden waren, besaßen auch heute noch eine lebensverändernde Wirkung. Es waren Worte, die auch im 21. Jahrhundert ermutigten, herausforderten, trösteten – ja sogar Menschen zur Umkehr riefen.

Ein paar Wochen später stand ich in diesem Pfarrhaus in jenem kleinen Zimmer, wo Newton zum ersten Mal die Worte erstaunlich und Gnade nebeneinandergesetzt und ein Lied verfasst hatte, das die Höhen und Tiefen seines Lebens beschrieb. Das Haus gehört heute nicht mehr der Kirche, aber es ist vertraglich festgelegt, dass kein gegenwärtiger oder zukünftiger Eigentümer den Raum verändern darf, der einmal Newtons Studierzimmer war.

Von einem Fenster aus sieht man das Grundstück, auf dem das schon vor langer Zeit abgerissene Great House stand, in dem Newton seine neu komponierten Lieder bei den Abendversammlungen vorstellte. Aus dem gegenüberliegenden Fenster blickt man auf die Kirche St. Peter and St. Paul aus dem 14. Jahrhundert, in der Newton sechzehn Jahre lang Pfarrer war. Hinter der Kirche befindet sich sein Grab. Über dem Kamin sind zwei alttestamentliche Verse direkt auf die Wand geschrieben, die Newton ständig vor Augen haben wollte. Sie sollten ihn an die Gnade erinnern, die in sein Leben gekommen war.

Weil du in meinen Augen so wertgeachtet

und auch herrlich bist …

JESAJA 43,4

ABER

Du sollst daran denken, dass du auch Knecht warst

in Ägyptenland und der Herr, dein Gott, dich erlöst hat.

5. MOSE 15,15

Der erste Vers erinnerte ihn daran, wie weit er gekommen war, dass sich seine Lebensumstände und sein Verhalten von Grund auf verändert hatten. Der zweite Vers ließ ihn daran denken, woher er gekommen war, und das wollte er nie vergessen. Niemals vergaß er die Zeit, die er als Sklave auf einer afrikanischen Insel verbracht hatte; die Zeit, als er erkannte, dass er nicht der Kapitän seiner Seele, nicht sein eigener Boss war. Dass die beiden Verse nach über zwei Jahrhunderten immer noch an dieser Wand zu sehen sind und all die vielen Bewohner überlebt haben, zeigt den Respekt, den man John Newton und seiner Geschichte entgegenbringt.

Als ich allein in diesem Zimmer stand, wünschte ich mir, die Dielenbretter und der Kamin würden ihre Geheimnisse preisgeben und mir genau berichten, was an dem Tag geschah, als Newton die berühmten Zeilen schrieb. Saß er dabei an einem Schreibtisch oder auf dem Sofa? Da zu jener Zeit Winter war, und ein kalter dazu, brannte sicher ein Feuer im Kamin. Vielleicht hat seine lange Pfeife geraucht, mit der er sich zu entspannen pflegte. Haben sich ihm die Verse förmlich aufgedrängt, oder hat er die verschiedendsten Versionen zusammengeknüllt in die Flammen geworfen, bevor er die richtigen Worte fand?

Der Gedanke der Gnade beeinflusste auch Bono, während ich noch an dem Buch arbeitete. Als er auf der Tournee durch Amerika den U2-Klassiker »I Will Follow« sang, fügte er die folgenden Zeilen hinzu: »I was cased in amazing grace / I was lost but now am found«. Und dann schrieb er für das Album All That You Can’t Leave Behind sein eigenes Lied »Grace«. Als Sänger ist ihm die Verbindung zwischen dem angenehmen Klang der Musik und der Gnade wichtig, zwischen der Musik und der geistlichen Erneuerung.

»Gnade – das ist wahrhaftig eine ungeheuerliche Vorstellung«, sagte Bono einmal zu launch.com. »Wir hören so viel von Karma und so wenig von der Gnade. Jede Religion spricht vom Karma und dass man nur das zurückerhält, was man investiert. Sogar das Christentum, in dem es ja um die Gnade gehen sollte, hat anstelle der Erlösung das angemessene Verhalten oder die richtige Aussprache oder gute Werke oder was auch immer gesetzt. Aber für mich ist allein die Vorstellung der Gnade faszinierend.«

Steve Turner

Amazing Grace

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