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Zwangsrekrutiert

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Ich breche von England auf mit der guten Aussicht, mein Glück zu machen und gebe mich der Hoffnung hin, eines Tages in der Lage zu sein, Ihnen einen Heiratsantrag zu machen, wenn Sie bei meiner Rückkehr noch nicht anderweitig gebunden sind.

JOHN NEWTON, BRIEF AN MARY CATLETT, 1744

John Newton, ein siebzehnjähriger Seemann, stand im Frühjahr 1743 an Deck eines Schiffs, das vor der Küste Venedigs vor Anker lag. Soeben versank die Sonne hinter dem Horizont. Eine Gestalt trat aus dem Schatten, stellte sich vor ihn hin, hielt ihm einen Ring entgegen und drängte ihn, diesen anzunehmen. Wenn er ihn nähme und in Ehren hielt, würde er Glück und Erfolg im Leben haben. Sollte er den Ring jedoch verweigern oder verlieren, würde er von Unglück und Elend verfolgt werden. Newton nahm die Herausforderung an. Die Vorstellung, Herr über sein Schicksal zu sein, hatte ihn schon immer fasziniert.

Als der Überbringer des Rings in den Schatten zurücktrat, kam eine zweite unbekannte Gestalt auf ihn zu. Voller Verachtung sprach sie über die soeben gemachten Versprechungen und beschuldigte Newton, er sei unwissend und naiv. Wie sollte etwas, das so klein und unbedeutend war, Segen hervorbringen? Wie konnte er nur jemandem Vertrauen schenken, der keinerlei Beweise lieferte, dass seine Aussagen der Wahrheit entsprachen? Er gab Newton den Rat, solchem Aberglauben abzuschwören und sich von dem Ring zu trennen. Newton verteidigte sich, doch seine Argumente waren nicht tragfähig, und so zog er den goldenen Ring vom Finger und warf ihn in den Golf von Venedig.

In dem Augenblick, als der Ring im Wasser versank, schoss eine Feuerwand um die Stadt herum nach oben und erhellte den nächtlichen Himmel. Es war, als sei ein Mechanismus ausgelöst worden, der eine furchtbare Macht entfesselte. Als er den Ausdruck des Entsetzens auf Newtons schweißüberströmtem Gesicht sah, verriet ihm sein Ankläger mit selbstzufriedenem Grinsen, dass er nicht einfach einen Goldring weggeworfen hatte, der leicht ersetzt werden konnte, sondern all die Gnade, die Gott für ihn bereitgehalten hatte. Nun konnten seine Sünden niemals vergeben werden. John Newton hatte soeben seine einzige Chance zur Erlösung weggeworfen.

Als ihm aufging, was er getan hatte, erschien ein dritter Besucher. Sein Gesicht lag im Schatten, sodass Newton nicht erkennen konnte, ob es wieder ein anderer war oder, wie er vermutete, der ursprüngliche Ringträger. Newton bekannte aus freien Stücken, was er getan hatte und dass er auch um die schrecklichen Folgen seines Handelns wusste. Doch der Besucher war überraschenderweise verständnisvoll und fragte ihn, ob er anders handeln würde, wenn er noch einmal die Gelegenheit dazu erhielte.

Bevor Newton antworten konnte, sprang der Mann ins Wasser und tauchte mit dem Ring in der Hand wieder auf. Sogleich erloschen die Flammen rund um die Stadt. Der Ankläger, der die ganze Zeit im Hintergrund gelauert hatte, schlich geschlagen davon. Newton fiel ein Stein vom Herzen. Er trat zu dem Mann und wollte den Ring wieder an sich nehmen. Doch dieser zog ihn mit einer raschen Bewegung zurück. »Wenn ich dir diesen Ring wieder anvertraue, würdest du dich sehr bald wieder in dieselbe Bedrängnis bringen. Du schaffst es nicht, den Ring zu behalten, aber ich werde ihn für dich aufbewahren. Wann immer du ihn brauchst, werde ich ihn für dich hervorholen.«

Als Newton viele Jahre später über diesen eindrucksvollen Traum nachdachte, erkannte er die geistliche Allegorie darin. Es handelte sich um die Geschichte seines Lebens – die goldene Gabe des Evangeliums, die er als Kind empfangen, aber angesichts von Spott und verlockenden Argumenten aufgegeben hatte, die zerstörerischen Folgen dieser Entscheidung und schließlich die Möglichkeit eines Neubeginns. Dieser Traum war so etwas wie eine letzte Warnung gewesen, das erkannte er im Rückblick. Damals jedoch hatte er ihn nur als eine beunruhigende und anschauliche Vision angesehen. Immerhin war sie so eindrucksvoll gewesen, dass er ein paar Tage lang nicht schlafen und essen konnte; aber sie hatte nicht die Macht, seinen moralischen und geistlichen Niedergang aufzuhalten.

Dieses Traumerlebnis hatte Newton tatsächlich, als er auf einem Schiff im Mittelmeer war, das erst vor kurzem in Venedig vor Anker gelegen hatte. Das Bild des Rings, der ins Wasser geworfen wurde, hatte höchstwahrscheinlich mit einer Zeremonie zu tun, die alljährlich in Venedig stattfand, die sposalizio del mare. Geschmückte Barkassen voller Edelleute stachen in See, um einen geweihten Ring ins Wasser zu werfen. Es war die symbolische Ehe von Stadt und Meer, denn die Bewohner Venedigs wussten um die Abhängigkeit ihrer Stadt von der umgebenden See. Es war dringend notwendig, auf gutem Fuß mit dem Element zu stehen, das der Stadt Reichtum bringen, sie aber auch fortspülen konnte.

Newton hat niemals erwähnt, ob er diese Zeremonie, die regelmäßig am Himmelfahrtstag stattfand, selbst beobachtet hat. Vielleicht hat er auch nur in Venedig davon gehört, oder er kannte Canalettos Gemälde Der Buzentaur kehrt am Himmelfahrtstag zur Mole zurück, das erst dreizehn Jahre zuvor fertiggestellt worden war. Auf jeden Fall kannte er das Ritual, denn er erwähnte es später in einem Brief, wobei er von einer »törichten Zeremonie oder Hochzeit zwischen der Republik und der Adria« sprach.

Newton war am 24. Juli 1725 im Londoner Stadtteil Wapping in der Nähe des Towers zur Welt gekommen. Jene Gegend am Nordufer der Themse wurde von der damals florierenden britischen Schiffsindustrie beherrscht. Fünf Jahre zuvor beschrieb Stows überarbeiteter Survey of London Wapping als eine Gegend, in der »hauptsächlich Seeleute und Händler wohnen, die mit Waren für die Ausstattung von Schiffen und Seeleuten handeln. Die Häuser stehen dicht an dicht, und es leben viele Menschen dort, denn die Gegend hat dank des menschlichen Fleißes sehr gewonnen.«

Newtons Vater, der ebenfalls mit Vornamen John hieß, war einer dieser Seeleute. Er arbeitete als Kapitän auf verschiedenen Handelsschiffen, die in den Mittelmeerländern Geschäfte machten. Solche Reisen dauerten bis zu drei Jahren. Obwohl er von Jesuiten in Spanien erzogen worden war, war er nach Aussage seines Sohnes nicht von der Religion beeinflusst und gab sich ziemlich aufgeblasen und unnahbar. Newtons Mutter Elisabeth schien das genaue Gegenteil gewesen zu sein. Sie war zart und introvertiert, eine gläubige Christin, die zu nonkonformistischen Versammlungen in der nahegelegenen Grave Lane ging.

Kapitän Newton war so oft unterwegs, dass Johns frühe Erziehung fast ausschließlich in den Händen seiner Mutter lag. Aufgrund ihrer christlichen Überzeugung hatte seine moralische und geistliche Förderung für sie oberste Priorität. Im Alter von vier Jahren konnte er bereits Englisch lesen, und ein Jahr später lernte er auch noch Latein. Sie träumte davon, dass ihr Sohn einmal ein Prediger wie ihr Pastor werden sollte, Dr. David Jennings. Weil sie aber nicht der anglikanischen Kirche, der »Kirche von England«, angehörte, wusste sie, dass ihr Sohn sich nicht an einer englischen Universität einschreiben konnte. So sollte er wie Dr. Jennings die Universität in St. Andrews in Schottland besuchen.

Elisabeth Newton vertraute auf den Vers in den Sprüchen Salomos: »Gewöhne einen Knaben an seinen Weg, so lässt er auch nicht davon, wenn er alt wird.« Bevor John Newton sprechen konnte, predigte Dr. Jennings über diesen Vers aus 1. Chronik 29: »Und meinem Sohn Salomo gib ein rechtschaffenes Herz.«

»Habt ihr jemals von ganzem Herzen dieses Gebet für eure Kinder gebetet?«, fragte er die Gemeinde. »Herr, schenk ihnen ein rechtschaffenes Herz. Welchen Mühen habt ihr euch unterzogen, um sie in den guten Wegen der Heiligung zu unterweisen und zu lehren …? Seid ernsthaft und beharrlich, fleht Gott täglich an um die Seelen eurer lieben Kinder. Erbittet von ihm, dem Gott der Gnade, dass er euren Kindern ein rechtschaffenes Herz schenkt.«

Elisabeth las ihrem Sohn Geschichten aus der Bibel vor, bis sie ihm so vertraut waren wie die Geschichten, die sein Vater von seinen Seereisen erzählte. Um ihm die darin enthaltenen Lehren einzuprägen, prüfte sie sein Wissen mit den 107 Fragen und Antworten des Kleinen Westminster Katechismus.

Frage 1: Was ist das höchste Ziel des Menschen?

Antwort: Das höchste Ziel des Menschen ist, Gott zu verherrlichen und sich für immer an ihm zu erfreuen.

Frage 2: Welche Regel hat Gott uns gegeben, um uns darin zu leiten, ihn zu verherrlichen und uns an ihm zu erfreuen?

Antwort: Das Wort Gottes, das aus den Schriften des Alten und Neuen Testaments besteht, ist die einzige Regel, die uns darin leitet, wie wir ihn verherrlichen und uns an ihm erfreuen können.

Sie brachte dem Jungen auch Kinderverse von Isaak Watts bei, der zufällig ein Freund von Dr. Jennings war. Wie jeder, der neue geistliche Lieder schreibt, hatte auch Watts das Gefühl, dass die bereits vorhandene Kirchenmusik nicht genügte. Die gängige Überzeugung, dass nur bearbeitete Psalmen für den Gesang in der Gemeinde angemessen waren, bedeutete natürlich eine starke Einschränkung. Watts wollte Lieder schreiben, die sich »den gesunden Menschenverstand und die Sprache des Christen« zunutze machten. Doch war er sich sehr wohl bewusst, dass eine solche Sprache abgedroschen oder banal klingen konnte. Es war schwierig, gab er zu, »jede Zeile einer ganzen Gemeinde anzupassen und doch ein gewisses Niveau zu bewahren«.

John Newtons häusliche Erziehung war damals nichts Ungewöhnliches – auch Watts lernte schon mit vier Jahren Latein – aber vermutlich wurde er dadurch nachdenklicher und weltfremder als andere Kinder. Später beschrieb er sich als einen Jungen mit »viel Sitzfleisch«, der nicht viel spielte. Stattdessen vergnügte er sich mit Lesen, Beobachten und Nachdenken.

Kurz vor Johns siebtem Geburtstag im Jahr 1732 erkrankte seine Mutter an Tuberkulose (damals Schwindsucht genannt), eine der verheerendsten Krankheiten früherer Jahrhunderte. In den unbelüfteten Häusern übertrug sich die Infektion rasch, und es gab keine medizinische Heilung. Als die Mutter sich nicht mehr selbst versorgen konnte, brachte man sie in das Haus einer langjährigen Freundin, Elisabeth Catlett, und ihrer Familie, die in Chatham in Kent wohnte. Die Catletts hatten zwei Kinder, die dreijährige Mary und den einjährigen John. Die Mütter sagten manchmal im Scherz zueinander, dass ihre Erstgeborenen, die altersmäßig nur vier Jahre auseinanderlagen, eines Tages vielleicht Mann und Frau werden würden.

Im Haus der Catletts wurde die kranke Elisabeth Newton wahrscheinlich in einen Raum gebettet, dessen Fenster und Ritzen versiegelt worden waren, damit die gefürchtete Krankheit sich nicht noch weiter ausbreitete. Vielleicht hat man ihr zweimal täglich einen Löffel Brühe eingeflößt, die aus Schnecken, Ysop und Zucker hergestellt wurde, wie es in einem alten Buch über Hausmittel empfohlen wurde. Aber all das half nicht, und sie starb am 11. Juli 1732.

Der Tod der Mutter muss eine traumatische Wirkung auf den empfindsamen Jungen gehabt haben, zumal überhaupt keine Verwandten in der Nähe lebten. Sein Vater ging weiterhin viel auf Reisen, und nach kurzer Zeit heiratete er wieder. Zusammen mit seiner Frau, die nur als Thomasina bekannt ist, zog er nach Aveley in Essex und gründete eine neue Familie. Während dieser Zeit wurde John zwei Jahre lang in ein Internat in der Nähe von Stratford geschickt. Diese beiden Jahre sollten die unglücklichsten seines bisherigen Lebens werden. Die sanfte, liebevolle Erziehung seiner Mutter wurde ersetzt durch die »unbesonnene Strenge« eines Schulmeisters, der am Ende nicht nur seine Seele zerbrach, sondern ihm auch die Liebe zu Büchern raubte. Sein Gedächtnis ließ nach, er vergaß sogar die Grundregeln der Arithmetik, die er zuvor sicher beherrscht hatte, und fühlte sich wie in einen »Tölpel« verwandelt.

Im zweiten Jahr wurde es etwas besser, denn er bekam einen neuen Lehrer, der seine Veranlagung bemerkte und ihr gerecht wurde. Der Lehrer erkannte Johns Feinfühligkeit und förderte seine Liebe zu Sprache und Literatur. Er machte ihn auch mit den Schriften Ciceros und den Gedichten Vergils bekannt, die beide auf Latein gelehrt wurden. Die Schulferien verbrachte der Junge in Aveley bei seiner neuen Stiefmutter. Und hier nun »durfte ich mit sorglosen und weltlichen Kindern Umgang pflegen und passte mich bald ihren Gewohnheiten an«.

Diese Einschätzung spiegelte die religiösen Werte wider, die John von seiner Mutter mitbekommen hatte. Nach Isaak Watts’ Katechismus bedeutete Weltlichkeit, »das zu missbrauchen und zu verachten, was heilig ist oder zu Gott gehört«. Damit waren nicht nur gotteslästerliche Reden gemeint, sondern auch die Nichteinhaltung des Sabbats oder die Verspottung des christlichen Glaubens, eine Lehre, die später eine tiefe Wirkung auf Newton haben sollte, da sie seine Vorstellung von einem sündigen Leben prägte.

Mit Sicherheit war für so einen zartbesaiteten Jungen kaum ein Beruf weniger geeignet als der eines Seemanns. Aber als John die Schule verließ, gab es für ihn gar keine andere Wahl; und so fuhr er mit seinem Vater zur See. »Am Tag meines elften Geburtstags«, berichtete er seinem ersten Biografen Richard Cecil, »ging ich in Longreach auf meines Vaters Schiff an Bord.« Das war in der Nähe von Purfleet in Essex.

Das Buch über Fahrten im Mittelmeer, das im Londoner Public Record Office (Nationalarchiv) aufbewahrt wird, bestätigt die Angabe. Am 22. Juli 1736 kam sein Vater nach London, um seine bevorstehende Reise auf der Valentia Pacquet mit einer zwanzigköpfigen Mannschaft einzutragen. Das Datum der Rückkehr, am rechten Rand notiert, sollte der 6. Oktober 1738 sein. Wenn wir annehmen, dass Newton nicht auf einem anderen Schiff zurückgekehrt ist, bedeutet das, dass er dreizehn Jahre alt war, bevor er England wiedersah.

Da er auf einem relativ kleinen Schiff fuhr und die Kabine des Kapitäns teilte, fiel dem Jungen der Wechsel vom Landleben zur Seefahrt, von der Schule zum Schiff nicht allzu schwer. Doch sein Vater blieb ihm fremd. John Newton lobte den »gesunden Menschenverstand« des Vaters und sein »großes Wissen über die Welt«, fügte jedoch hinzu, dass er »in seinem Auftreten distanziert und streng war, was mich einschüchterte und entmutigte. Ich hatte immer Angst vor ihm …«

Newtons Einstellung zur Religion wurde nun reichlich konfus. Während etlicher Seereisen mit seinem Vater schwankte er zwischen intensiver Frömmigkeit und völliger Interesselosigkeit. Seine Gottesfurcht war in der Regel eine Reaktion auf eine Zeit der Exzesse. Er versuchte, Gottes Anerkennung zurückzugewinnen, indem er ihm bewies, dass er seine Begierden kontrollieren konnte. Wenn jedoch die Selbstdisziplin nachließ, was sie unweigerlich tat, bekam er erst Schuldgefühle und wurde dann von Furcht gepackt. Der Kreislauf begann von neuem.

Einige Male entging Newton nur knapp dem Tod, und das hatte jedes Mal eine ernüchternde Wirkung auf ihn. Einmal wurde er in hohem Bogen von einem Pferd abgeworfen und landete gefährlich nahe neben einer Reihe von zugespitzten Pfählen in einer Hecke. Der glückliche Ausgang dieses Unfalls führte dazu, dass er sein Leben änderte, und doch »dauerte es nicht lange, bevor ich wieder in meinen Bemühungen nachließ. Solche Kämpfe zwischen Sünde und schlechtem Gewissen wiederholten sich oft, und jeder Rückfall ließ mich in noch größere Verderbtheit sinken.«

Einmal hatte man ihm und einem Freund die Besichtigung eines Kriegsschiffs versprochen, das in der Nähe von Purfleet auf der Themse vor Anker lag. Newton kam zu spät und verpasste das Beiboot, das sie über den Fluss bringen sollte. Er ärgerte sich maßlos, dass er nicht auf die Zeit geachtet hatte. Doch als er näher ans Ufer kam, sah er, dass das Boot, das bereits seinen Freund und einige andere Jungen an Bord genommen hatte, gekentert war. Alle Passagiere waren ertrunken.

Wie bei dem Reitunfall war seine unmittelbare Reaktion Erleichterung, gefolgt von dem Gefühl, dass Gott ihn wohl in besonderer Weise bewahrt hatte. Vielleicht hatte er ihn ja für einen wichtigen Auftrag ausersehen? Solche Gedanken und der Anblick der trauernden Familie seines Freundes bei der Beerdigung stimmten ihn nachdenklich. »Aber«, so schrieb er später, »auch dieses Erlebnis war bald vergessen.«

Bücher hatten zuweilen eine ähnliche Wirkung auf ihn. The Familiy Instructor, 1715 von Daniel Defoe als Leitfaden zur Besserung des sittlichen Verhaltens verfasst, ließ ihn »erkennen, dass die Religion notwendig war, um der Hölle zu entrinnen«, wie er schrieb. »Aber ich liebte die Sünde und wollte ihr nicht den Rücken kehren.« The Christian Oratory von Benjamin Bennett berührte ihn noch tiefer. Nachdem er das Werk gelesen hatte, begann er die Bibel zu studieren und ein diszipliniertes Gebetsleben zu organisieren. Darüber hinaus führte er ein Tagebuch, in dem er seine geistliche Entwicklung verfolgte. Aber auch diese Übungen »verflüchtigten sich wie eine Wolke am Morgen«.

Die tiefgreifendste Veränderung hielt zwei Jahre an. Newton wurde zum Asketen. Den größten Teil des Tages verbrachte er mit Gebet, Meditation und Bibellese, er wurde Vegetarier, hielt Fastenzeiten ein und ging jeglichen Gesprächen aus dem Weg, damit bloß kein törichtes oder sündiges Wort aus seinem Mund kam. Durch diese strenge Askese fühlte er sich außerordentlich religiös, doch sie brachte ihm weder Liebe, noch Freude und Frieden. »Es war eine armselige Religion«, beschrieb er später diese Zeit. »Sie ließ mich in vieler Hinsicht in der Macht der Sünde gefangen. Ich wurde trübsinnig, töricht, ungesellig und nutzlos.«

Doch dann nahm er im Alter von siebzehn Jahren – während sein Schiff bei der holländischen Hafenstadt Middleburg vor Anker lag – ein Buch zur Hand, das eine entscheidende Wirkung auf sein weiteres Leben hatte, indem es den Teufelskreis von Genuss und Askese durchbrach. Es handelte sich um den zweiten Band der Characteristicks, das der dritte Earl of Shaftesbury verfasst hatte, eine Sammlung philosophischer Aufsätze.

In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts waren Shaftesburys Gedanken kurze Zeit populär, weil er die Lehren der Kirche in Frage stellte und sich über die religiösen »Eiferer« lustig machte, wie die Frommen genannt wurden. Er war kein Atheist, sondern Deist, das heißt, er akzeptierte die Möglichkeit der Existenz Gottes, lehnte aber die meisten christlichen Lehren ab. Vor allem widersprach er der allgemein üblichen Auffassung, dass hohe moralische Maßstäbe vom christlichen Glauben abhängig seien. Deswegen wurde er natürlich von der Kirche angegriffen.

Für Newton, der bisher nur wenige philosophische oder theologische Werke gelesen hatte, schien die Vorstellung, an Gott zu glauben und ein tugendhaftes Leben zu führen, ohne sich dabei von den Lehren Jesu leiten zu lassen, befreiend. Characteristicks setzte sich mit »Frömmigkeit« und »wahrer Religion« auseinander, kam aber zu unerwarteten Schlussfolgerungen. Shaftesbury argumentierte, dass wahre Moral nicht in göttlichen Gesetzen, sondern im menschlichen Instinkt verwurzelt sein müsse. Wenn man das Rechte nur aus Angst vor der Strafe Gottes tue, sei das nicht Gerechtigkeit, sondern Eigensucht, da der Beweggrund Selbsterhaltung sei und nicht Liebe.

Das kleine, handtellergroße Büchlein wurde Newtons neuer Katechismus. Er trug es immer bei sich und lernte den zweiten Abschnitt, eine 178 Seiten umfassende »philosophische Dichtung«, fast auswendig. Er fühlte sich befreit von den Forderungen des orthodoxen Glaubens und ohne die Furcht vor dem Gericht. Weil er Shaftesburys anspruchsvolle Gedanken verstand, fühlte er sich denen überlegen, die demütig die Lehren der Kirche akzeptierten.

Das Leben auf See gefiel ihm nicht sonderlich, aber weil er kein Handwerk erlernt hatte und auch keinen Sinn fürs Geschäftliche besaß, blieb ihm keine andere Wahl. Sein Vater machte sich Sorgen wegen Johns mangelndem Ehrgeiz. Um seine Selbstständigkeit zu fördern, verschaffte er ihm eine Stelle bei einem befreundeten Kaufmann in Alicante, einer Hafenstadt an der Südostküste Spaniens. Doch die dort geforderte Disziplin war John zuwider. Er zeigte, wie er es später ausdrückte, »ein unbeständiges Verhalten« und »einen Mangel an Zurückhaltung« und wurde daher wieder nach Hause geschickt.

Diese Charaktereigenschaften waren die Ursache all seiner frühen Probleme. Er verabscheute Organisation, sträubte sich gegen jegliche Disziplin und war nur dann wirklich glücklich, wenn er sich selbst überlassen wurde. Schlechte Beziehungen am Arbeitsplatz, unsoziales Verhalten und abgebrochene Verträge waren die Folge. Später fasste er diese Zeit so zusammen: »Ich liebte ein visionäres und beschauliches Leben, eine Mischung aus Religion, Philosophie und Trägheit, und der Gedanke an Strebsamkeit und Fleiß im Beruf war mir gründlich zuwider.«

Als Kapitän Newton sich von der Seefahrt zurückzog, um mehr Zeit für seine zweite Familie zu haben, wurde es notwendig, seinen Sohn irgendwo unterzubringen. Er wandte sich an seinen Freund Joseph Manesty, der wie er Kapitän gewesen war, inzwischen aber als erfolgreicher Kaufmann und Schiffseigner in Liverpool lebte. Manesty hatte Geschäftsbeziehungen in der Karibik – möglicherweise besaß er Anteile an einer Plantage – und bot Kapitän Newton für seinen aufsässigen Sohn eine Stelle auf Jamaika an. Die Stelle war auf fünf Jahre befristet; sein Schiff sollte Liverpool im Dezember 1742 verlassen.

Das war ein gutes Angebot für jemanden, der sich noch beweisen musste. John würde zur Zeit seiner Rückkehr zweiundzwanzig sein und dann genügend Geld für eine Heirat gespart haben. Er würde zudem Gelegenheit haben, seinem Vater zu beweisen, dass er reifer und nicht mehr so nutzlos war wie früher. Doch der Weg zu einem geordneten Leben war schwieriger als erwartet.

In dieser Zeit erhielt John die Einladung, Familie Catlett in Chatham zu besuchen. Unter normalen Umständen hätte er diese höflich abgelehnt, denn obwohl die Catletts sich um seine kranke Mutter gekümmert hatten, war seither der Kontakt abgerissen. Doch die Einladung kam gerade in dem Moment, als er ein Paket an einen Onkel im nahegelegenen Maidstone ausliefern wollte. Über Chatham nach Hause zu fahren, bedeutete nicht mal einen Umweg.

So kam er am 12. Dezember 1742 ins Haus der Catletts und wurde von George und Elisabeth und ihren drei älteren Kindern willkommen geheißen. Mary – manchmal auch Polly genannt – war inzwischen eine lebhafte Vierzehnjährige, in deren Nähe andere sich wohlfühlten. Nie hat Newton ihr Äußeres beschrieben und selten auf ihren Charakter Bezug genommen, aber was auch immer sie an sich hatte, es muss ihn sehr fasziniert haben. Wenn sie im Zimmer war, konnte er die Augen nicht von ihr abwenden. Wenn sie hinausging, fragte er sich, wohin sie wohl gehen mochte.

Er erwartete eine heftige Rüge, weil er seine Zusage an Joseph Manesty nicht einhielt, doch sein Vater reagierte überraschend verständnisvoll und geduldig. Ja, er ging sogar so weit, ihm einen Posten auf einem Handelsschiff zu beschaffen, das den Mittelmeerraum bereiste. Doch auf dieser Reise konnte Newton sich nicht in die Kapitänskajüte flüchten. Er war zum ersten Mal allein unterwegs und arbeitete Seite an Seite mit den lebensüberdrüssigen Seeleuten, die für sein Interesse an Vergil und der Mathematik kein Verständnis hatten. Samuel Johnson beschreibt das Leben auf See zu dieser Zeit folgendermaßen: »Kein Mann wird zur See fahren, der es schafft, sich ins Gefängnis zu bringen; denn auf einem Schiff zu sein, heißt im Gefängnis zu sein, mit der Möglichkeit, zu ertrinken.« Ein zeitgenössisches Sprichwort drückt ungefähr dasselbe aus: »Wer zum Vergnügen zur See fährt, würde auch zur Hölle fahren, um sich die Zeit zu vertreiben.«

Während dieser Fahrt träumte Newton von dem Goldring, der ihm in Venedig angeboten wurde. Vielleicht entsprang dieser Traum einer Mischung aus lebhafter Fantasie und schlechtem Gewissen oder war, wie er später glaubte, eine geistliche Vision. Später schrieb Newton Träumen eine Bedeutung zu. Er glaubte, dass Gott auch heute noch durch Träume reden kann, so wie er in biblischer Zeit zu Josef und Jakob im Schlaf gesprochen hat.

In einem Lied mit dem Titel »On Dreaming« (Vom Träumen) schrieb er die folgenden Zeilen:

But though our dreams are often wild,

like clouds before the driving storm;

yet some important may be styl’d,

sent to admonish or inform.

Auch wenn unsere Träume oft wild sind,

wie Wolken, die vom Sturm getrieben werden,

können sie doch eine wichtige Botschaft enthalten,

die uns zur Ermahnung oder Information gesandt wird.

»Doch auch wenn ich dies damals nicht begriff, wurde mir ein großer Nutzen zuteil«, schrieb er über seinen venezianischen Traum. »Ich erfuhr die Gnade.«

Die Mittelmeerreise endete am 10. November 1743. Newton enttäuschte seinen Vater wieder einmal, als er vom Dock in Rochester direkt zu Mary eilte, statt erst nach Hause zu kommen. Sein letzter Besuch bei den Catletts hatte den Verlauf seines Lebens geändert, da er auf sein Abenteuer in der Karibik verzichtete. Und auch diesmal erhielt sein Leben eine neue Wendung.

Newton behandelt dieses bedeutende Ereignis in seiner Autobiografie erstaunlich kurz: »Bevor mir wieder eine angemessene Stelle angeboten wurde, zwang man mich zum Militärdienst, was ganz und gar meinem eigenen, wie immer gedankenlosen Verhalten zuzuschreiben war. So kam ich an Bord eines Versorgungsschiffes der Marine.« Chatham war nicht weit vom Fluss Medway entfernt, und oft lagen Flotten der königlichen Marine in der Flussmündung vor der Küste von Sheerness vor Anker. Kleine Boote mit Rekrutierungsmannschaften fuhren die nahe gelegenen Städte an und zwangen Männer zum Dienst in der Marine, besonders solche, die schon Erfahrung mit der Seefahrt hatten. Im Februar 1744 war Newton einer dieser Unglücklichen.

Er ging nicht näher auf sein »gedankenloses Verhalten« ein. Es mochte die Tatsache sein, dass er sich in einer Gegend aufgehalten hatte, die für Zwangsrekrutierungen bekannt war. Vielleicht hatte er aber auch eine andere Unachtsamkeit gemeint – etwa seine Kleidung und Gangart, die ihn als Seemann auswiesen. Eine der gängigsten Methoden der Zwangsrekrutierung bestand darin, die Männer in Wirtschaften betrunken zu machen und sie dann festzunehmen, wenn sie keinen Widerstand mehr leisten konnten. Wurde Newton auf diese Weise hereingelegt?

Die Gruppe, die ihn festnahm, wurde vom ersten Leutnant Thomas Ruffin angeführt, der vom Kapitän der Harwich, Philip Carteret, geschickt worden war. Während einer dreiwöchigen Fahrt auf dem Tender Betsy wurden acht Männer auf das neu erbaute Kriegsschiff von 976 Bruttoregistertonnen eingezogen, dessen Mannschaft schließlich auf 350 anwuchs. England und Frankreich standen am Rand eines Krieges, und die Marine brauchte erfahrene Seeleute.

Newtons Aussichten waren düster. Es blieb ihm keine Zeit, um Abschied zu nehmen, und die Dauer seines Dienstes war unbestimmt. Die Admiralität konnte die Harwich jederzeit irgendwohin abkommandieren. Verzweifelt schrieb er an seinen Vater, der jetzt an Land eine Stelle als Beauftragter der Royal African Company innehatte. Diese Organisation mit königlicher Urkunde garantierte ein Monopol der britischen Handelsbeziehungen mit Afrika. John fragte ihn, ob er ihn nicht aus der Marine herausholen oder zumindest dafür sorgen konnte, dass er auf ein Handelsschiff kam. Doch obwohl der Vater regelmäßigen Schriftkontakt zur Admiralität hatte, war sein Einfluss nicht sehr groß. Die heikle Situation zwischen England und Frankreich ließ keine Vergünstigungen zu. Das Beste, was er für seinen Sohn erreichen konnte, war die Beförderung aufs Achterdeck als einer von zehn Seekadetten.

Als der Krieg tatsächlich ausbrach, wurde die Harwich zum Schutz von Konvois im Ärmelkanal abkommandiert. Das Schiff fuhr nach Schottland und über die Nordsee nach Ostende in Belgien, Göteborg in Schweden und Helsingør in Dänemark. Den Krieg bekam Newton erst im September 1744 zu spüren, als die Harwich das Feuer auf das französische Schiff Solide eröffnete und es nach einer zweistündigen Seeschlacht kaperte. Segel und Takelage der Harwich wurden zerstört und einer aus der Mannschaft getötet. Von der Besatzung der Solide starben sieben Männer, und zwanzig wurden schwer verletzt, unter ihnen der Kapitän, der ein Bein verlor. Die restliche französische Mannschaft wurde als Kriegsgefangene festgenommen.

Newton fand auf dem Achterdeck zwei enge Freunde. Job Lewis, ein stiller Bursche, hatte einen schlichten christlichen Glauben. Der andere Seemann, den Newton nicht mit Namen nannte, betrachtete das Christentum dagegen als Aberglaube. Als »Freidenker« kannte er die Characteristicks, glaubte jedoch, dass Newton Shaftesbury missverstanden hatte. Langsam aber gründlich begann er zu unterhöhlen, was noch von Newtons Glauben übrig geblieben war.

Einige Biografen haben in diesem Mann Kapitän Carterets Sekretär James Mitchell gesehen, doch durch Mitchells Tagebuch, das keiner von ihnen damals kannte, wissen wir heute, dass dies unwahrscheinlich ist. Im Gegensatz zu Shaftesbury sah Mitchell einen Zusammenhang zwischen moralischem Verhalten und religiöser Überzeugung. Nach einem heftigen Sturm wurden die Seeleute sich ihrer Sterblichkeit bewusst und hielten einen Dankgottesdienst ab. Doch, so notierte Mitchell, »sobald der Gottesdienst beendet und die Gefahr vorüber war, war dieser Eindruck völlig ausgelöscht. Die Mannschaft fuhr fort, sich zu betrinken, zu fluchen und sich so gottlos zu verhalten wie zuvor.« Er nannte sie »undankbare, gedankenlose Kreaturen« und beklagte, »dass sie erst dann an die Existenz einer höheren Macht denken, wenn sie in Gefahr schweben«.

Jener unbekannte Freidenker, der versuchte, Newton die letzten Reste seines Glaubens zu nehmen, glaubte, dass John eine unhaltbare Synthese zwischen Shaftesburys deistischem Gedankengut und der Lehre des Neuen Testaments schuf. Und wie der schemenhafte Ankläger im Traum vom Goldring überredete er ihn, seinem Glauben abzuschwören.

Viele Jahre später beschrieb Newton ihn in einem Brief an Mary als »einen scharfsinnigen Mann, der mir meine Grundsätze raubte und mich mit Unglauben vergiftete«. Bevor er Shaftesburys Werke kennen lernte, hätte er sich wahrscheinlich mit Job Lewis’ aufrichtigem, doch ungeprüftem Glauben identifiziert, da er vermutlich sehr seinem eigenen glich, als er jünger war. Doch nun hatte er, ermutigt durch sein neu entdecktes, säkulares Gedankengut, nur Spott für ihn übrig. So sagte auch Lewis schließlich seinem Glauben ab – und dieses Wissen sollte Newton in seinem späteren Leben stets verfolgen. Als er seine Grabinschrift verfasste, nannte er das Christentum einen Glauben, »den er lange Zeit zerstören wollte«. Job Lewis war sein erstes Opfer.

An Bord der Harwich war auch ein Geistlicher, Robert Topham, doch weder Newton noch Mitchell erwähnen ihn an irgendeiner Stelle. Nach einigen wenigen offiziellen Berichten zu urteilen, scheint er eher für seinen bequemen, genussvollen Lebensstil als für einen dynamischen Glauben bekannt gewesen zu sein. Als er zum ersten Mal an Bord kam, beklagte er sich bei Kapitän Carteret über seine Kabine. Er hatte erwartet, dass sie größer und besser ausgestattet sei. Während der Fahrt musste er wegen Trunkenheit bestraft werden.

Am 5. Dezember 1744 erhielt die Harwich den Befehl auszulaufen. Zu der Zeit lag sie vor der Stadt Deal an der englischen Südküste vor Anker. Der Auftrag lautete, einen Konvoi von Schiffen der Royal African Company nach Gambia zu begleiten und dann mit Schiffen der Ostindischen Kompanie nach Indien weiterzufahren. Die Reise, einschließlich eines längeren Aufenthalts in Indien, sollte über fünf Jahre dauern. Verantwortlich für die Vorbereitung der Schiffe und die Verbindung zur Flotte der königlichen Marine war zufällig Kapitän Newton.

Sein Sohn, der geglaubt hatte, allerhöchstens zwölf Monate auf See zu sein, war beunruhigt, als er von der fünfjährigen Reise erfuhr. So nahm er zum frühestmöglichen Zeitpunkt Landurlaub und ritt nach Chatham. Der Gedanke, dass er Mary wohl erst wiedersehen würde, wenn sie einundzwanzig war, erschien ihm unerträglich. Er hätte innerhalb von vierundzwanzig Stunden wieder zum Schiff zurückkehren sollen, doch wie schon bei früheren Gelegenheiten dehnte er seinen Landurlaub auf mehrere Tage aus und kehrte erst am Neujahrstag 1745 zurück. »Diese Unbesonnenheit«, so gab er später zu, »besonders, weil es nicht die erste Freiheit war, die ich mir herausgenommen hatte, missfiel Kapitän Carteret in höchstem Maße, und ich verlor für alle Zeit seine Gunst.«

Drei Wochen später schrieb er während einer Wache um ein Uhr nachts einen Brief an Mary. Darin schildert er seine stürmischen Gefühle, die er ihr nicht persönlich hatte sagen können.

»Es ist etwas in mir, ich weiß nicht, was, das mich aufrechterhält und mir die Sicherheit gibt, dass ich ganz gewiss wieder heimkomme; ob es jedoch zu irgendeinem Zweck geschieht, ob ich mit Ihnen glücklich werde oder nicht, das möchte ich gerne wissen. Gleichzeitig fürchte ich die Auflösung dieses Rätsels. Ich werde mich nicht mit dem Gedanken quälen, dass Sie bei meiner Rückkehr einem anderen angehören, bevor ich überhaupt die Gelegenheit habe, Ihnen zu zeigen, was ich tun könnte, um Sie zu gewinnen … Seit dem Tag, als ich Sie zum ersten Mal sah, liebe ich Sie. Der Gedanke, Sie eines Tages für mich zu gewinnen (und ich glaube, nichts weniger hätte das bewirkt), weckte mich aus einer dumpfen und gefühllosen Melancholie und stieß mich in die Welt. Wären Sie nicht gewesen, wäre ich bis zum heutigen Tag schwerfällig, verdrießlich und ungesellig geblieben.

Es ist nun mehr als zwei Jahre her, seit ich in fast allem, was ich unternommen habe, gescheitert bin. Mein Streben konzentriert sich jetzt auf einen Punkt, und das ist diese Reise. Ich glaube ernsthaft, dass sie mir entweder Glück bringt oder mich ins Verderben stürzt. Sicher habe ich die Hoffnung, dass die Reise von Erfolg gekrönt ist. Doch ich nehme die Liebe zur Zeugin, dass es mir dabei nicht allein um mich selbst geht, denn Reichtum ist mir nur dann etwas wert, wenn ich ihn Ihnen zu Füßen legen kann. Wenn mir das versagt bleibt, kann mir alles andere egal sein, denn ohne Sie könnte ich mich sicher nicht daran erfreuen …

Ihr höchst ergebener Bewunderer, John Newton«

Kapitän Newton hatte sich seit Oktober in einem Haus in der East Street, Portsmouth Point, Devon, niedergelassen, als seine fünf Schiffe der Royal African Company – die Loyal Judith, Katherine, Happy Deliverance, Expedition und Cape Coast – aus Deal eintrafen. Er hatte dafür zu sorgen, dass sie bemannt, beladen, mit Vorräten versorgt und bereit gemacht wurden, unter dem Schutz der Marineflotte auszulaufen. Er schrieb regelmäßig an Thomas Corbett in der Admiralität in London und an Kapitän Patrick O’Hara, dessen Schiff, die Gosport, die Verantwortung für die Schiffe der Royal African Company auf See tragen würde.

Es war eine riesige Flotte, die sich vor der Südküste Englands sammelte. Sie bestand aus 116 Kriegsschiffen, Handelsschiffen und Vorratsschiffen, die vom Portsmouth Sound auslaufen und dann ihre jeweiligen Zielhäfen in Neufundland, Lissabon, Indien und Afrika ansteuern sollten. Doch aufgrund des schlechten Wetters bekamen sie massive Schwierigkeiten. Kapitän Newton musste sich um Reparaturen kümmern, dann wurde einer seiner Kapitäne krank und musste ersetzt werden. Als das gelöst war, verließen einige Seeleute die Katherine, sodass Kapitän Newton am 15. Januar 1745 an die Admiralität schrieb und um sechs Seeleute von der Marine bat. Er erhielt schließlich vier von der Gosport.

Im Februar 1745 gab es heftige Schneefälle. Am Ende des Monats, während die Flotte in Torbay vor Anker lag, kam ein Hurrikan auf und zwang viele Schiffe, ihre Verankerungskabel zu durchtrennen. »Es gab ein großes Durcheinander, als so viele Schiffe aus der Bucht herausfuhren«, schrieb Mitchell in sein Tagebuch. »Ein Vorratsschiff für Gibraltar und ein Schiff, das nach Mahon segeln sollte, strandeten an den Felsen; ein Großteil der Besatzungen kam dabei ums Leben. Zwei Schiffe wurden herausgetrieben und entmastet, die Royal George verlor ihren Bugsprit und kehrte zu Reparaturarbeiten nach Spithead zurück.«

Die Tiger, ein Truppensschiff, das nach Westindien auslaufen sollte und 170 Soldaten an Bord hatte, die in Devon und Cornwall rekrutiert worden waren, wurde gegen die Felsen bei Berry Head in der Nähe von Brixham geschleudert. Niemand an Bord überlebte. Drei von Kapitän Newtons Schiffen – die Expedition, Cape Coast und Katherine – wurden schwer beschädigt und konnten nicht sofort repariert werden. Zwei Tage später trieb die Winchester auf die Ipswich zu, zerbrach ihren Fockmast und tötete achtundzwanzig Seeleute, die gerade das Vormastsegel aufrollten.

Um weitere Schäden an den Schiffen und noch mehr Todesfälle zu verhindern, beorderte Konteradmiral Henry Medley, der auf der Ipswich Dienst tat, die Flotte in die geschützten Gewässer des Plymouth Sound, wo Newton zum ersten Mal erfuhr, welche Rolle sein Vater spielte: Er war bereits auf dem Weg von Portsmouth nach Brixham, um sich um die beschädigten Schiffe zu kümmern.

Da sein Vater nun in Kontakt mit den hochrangigen Offizieren der Flotte stand, kam Newton der Gedanke, er könne vielleicht dafür sorgen, dass sein Sohn von der Harwich auf eines der Schiffe der Royal African Company überstellt würde. Es blieb keine Zeit mehr, ihm einen Brief zu schicken, also musste er persönlich mit ihm reden. Als er Seeleute nach Plymouth eskortierte, nutzte er die Gunst der Stunde. Statt sie an Land zu überwachen, wie es seine Aufgabe gewesen wäre, desertierte er selbst und marschierte zu Fuß weiter. Er wusste nicht, ob er sich auf der richtigen Straße nach Brixham befand, und konnte natürlich nicht nach dem Weg fragen. Vielleicht war es dieses zögerliche Verhalten, das ihn als einen Deserteur auswies. Eine Gruppe Soldaten bemerkte ihn, er wurde festgenommen, nach Plymouth zurückgebracht und über Nacht in eine Gefängniszelle gesteckt. Desertion war besonders in Kriegszeiten ein schwerwiegendes Vergehen.

Newton wurde in Ketten zur Harwich zurückgebracht, an einem Gitter festgebunden und vor der ganzen Mannschaft ausgepeitscht. Das war nichts Ungewöhnliches. Aus dem Tagebuch von George Ratcliffe, einem gestandenen Seemann auf der Harwich, wissen wir, dass auch später auf der Reise immer wieder Leute ausgepeitscht wurden. James Wood und James Casberry erhielten jeder ein Dutzend Peitschenhiebe, weil sie einen Gehilfen des Bootsmanns beschimpft hatten. Ein anderer kam vor ein Standgericht, weil er einen Offizier beschimpft hatte, und bekam vierzig Peitschenhiebe sowie weitere zwanzig Hiebe vor jedem anderen Marineschiff in der Nähe.

Ratcliffe begann erst Tagebuch zu führen, als die Harwich bereits auf See war, daher wird Newtons Bestrafung nicht erwähnt. Wahrscheinlich hat er ein Dutzend Peitschenhiebe erhalten, die höchste Strafe, die ein Kapitän ohne Standgericht anordnen konnte. Es war jedoch mehr als genug, um seine Haut ernsthaft zu verletzen. Um eine Infektion zu verhindern, hat der Schiffsarzt sicher Salzwasser auf die Wunden gegossen und ihn in weiße Bandagen gewickelt, bevor er in seine Hängematte hinuntergetragen wurde.

Zu alledem wurde er noch vom Achterdeck verwiesen. Dies bedeutete das Ende seiner geistreichen Gespräche über Theologie, Philosophie und Moral und auch das Ende des vergleichsweisen Komforts in der Nähe der Schiffsoffiziere. Die Seekadetten wurden angewiesen, nicht mit ihm zu sprechen.

Am 14. April 1745 segelte die Flotte schließlich aus dem Plymouth Sound. Am folgenden Tag, als sie Lizard Point in Cornwall hinter sich ließen, warfen die Seeleute einen letzten Blick auf die englische Küste. James Mitchell notierte in sein Tagebuch: »Eine angenehme Brise über der Bucht. Keine besonderen Vorkommnisse.« John Newton schrieb viele Jahre später über denselben Tag: »Ich kann gar nicht mit Worten ausdrücken, mit welcher Sehnsucht und Bedauern ich zum letzten Mal auf die englische Küste blickte. Wie gebannt schaute ich zu ihr hinüber, bis sie meinen Blicken entschwand. Als ich sie nicht länger sehen konnte, war ich versucht, mich ins Meer zu stürzen. Nach dem unheilvollen Denksystem, das ich angenommen hatte, hätte das all meinen Sorgen und Nöten sofort ein Ende gesetzt. Doch die verborgene Hand Gottes hielt mich zurück.«

Amazing Grace

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