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Im Haus des Knochensägers

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Ich war fast beim Buggy angelangt, als Doktor Finerty sich zu bewegen begann.

Ich blieb stehen.

Ein verängstigtes Mädchen mit klopfendem Herzen und allzu lebhafter Phantasie – das war ich in diesem Moment. Ich hätte mir natürlich denken können, daß...

Jetzt entdeckte er mich. Er hielt in einer Bewegung inne, stützte sich schwer auf den Wagen, legte den Kopf zurück.

„Wer bist du, und was willst du?“

Ich bekam heraus, wer ich war.

„So, so. Du bist das also. Aber dann komm und hilf mir...“

Ich nahm ihn unter den Arm und stützte ihn, als er auf das Haus zuhinkte. Er roch nach altem Schweiß.

„Ich bin nur so müde“, sagte er leise. „So tief und unsäglich müde. Diese Irrfahrten...“

Als wir zur Tür kamen, lehnte er sich vor, hielt sich am Türpfosten und sank auf der Treppe zusammen.

„Das Pferd“, sagte er. „Die Königin. Versorg sie, bevor du gehst.“

Ich spannte die müde Königin aus, gab ihr Wasser, und als ich sie ins Gehege führte, war ich beinahe aufgekratzt, wie wenn ein Schmerz plötzlich nachläßt.

Jetzt würde ich vielleicht eine Antwort auf die Frage bekommen, die mich so bewegte.

Aber als ich zum Haus zurückkam, bezweifelte ich es wieder.

Der Doktor hatte den Hut abgenommen, und er saß so, daß das Licht des roten Streifens im Westen auf sein Gesicht fiel. Er sah unendlich müde und traurig aus. Alt. Die Bartstoppeln waren weiß und die Falten um den Mund tief wie Pflugfurchen. Seine Hände lagen auf dem Schoß, und der eine Daumen bewegte sich langsam auf dem Hosenstoff hin und her.

Er schaute auf, und es schien, als ob er plötzlich merken würde, daß er nicht allein war.

„Was wolltest du?“

„Nicht Besonderes. Ich sah nur den Buggy, und dann...“

„Ja, ja“, sagte der Doktor. „Hilf mir hineinzukommen. Es ist schon spät.“

Er suchte in seiner Tasche.

„Hier ist der Schlüssel.“

Wir gingen hinein.

Als der Doktor die Wandlampe neben der Tür anzündete, bohrte sich das Licht des Reflektors in mein gesundes Auge.

„Jetzt, also“, sagte der Doktor. „Geh jetzt nach Hause.“

Ich blieb an der Türschwelle stehen, ich sah ihn immer deutlicher, die Luft in dem stillen Haus war dumpf und stickig, und ich hatte das Gefühl, daß ich ihn so nicht sich selbst überlassen konnte.

Er schaute das rauchende Streichholz an.

„Du könntest eigentlich noch etwas für mich machen.“

„Was denn?„

„Kaffee kochen. Wenn ich eine Tasse guten, starken Kaffee trinke, dann kann ich vielleicht richtig einschlafen. Du kannst es gerne auf mich schieben, wenn du zu spät nach Hause kommst.“

Es war ein merkwürdiges Gefühl, in Mrs. Ryans Herd Feuer zu machen, ich weiß, daß ich darüber nachdachte. Ihre Kaffeemühle zu benutzen, Wasser in ihre graublaue, emaillierte Kaffeekanne mit angeschlagenem Deckel zu gießen, eine ihrer rosageblümten Tassen hinzustellen...

Während ich all das tat, schaute ich heimlich zu einem Tisch hinten an der Wand. Dort lagen eine Menge Knochen aufgereiht, einige mit kleinen Zetteln.

„Osteologie“, hörte ich den Doktor sagen. „Die Lehre vom Skelett. Das interessiert mich. Man bekommt ja viele Knochen zu Gesicht auf den Fahrten zu den Patienten.“

Er saß an dem runden Tisch, lehnte sich zurück, mit gesenktem Kopf und vorgestreckten Beinen. Als ich ihm Kaffee einschenkte, richtete er sich auf.

„Hol für dich auch eine Tasse. Du hast es ja noch weit nach Hause. Du trinkst doch Kaffee...“

Ich hielt die Tasse unter die Nase und hörte, wie Doktor Finerty den heißen Kaffe in kleinen, vorsichtigen Schlucken trank. Ich wagte nicht, ihn anzuschauen. Ein Doktor war etwas Feines und Besonderes.

„Du hast dir natürlich deine Gedanken gemacht“, sagte er nach einer Weile.

Ich starrte meine warzigen Finger an und die sehr dünne, geblümte Tasse. Und dann bekam ich es heraus:

„Sie war doch wohl nicht – in Umständen?“

Die Antwort dauerte. Ich spürte das Schweigen bis in die Knie, und möglicherweise hielt ich auch die Luft an. Aber Doktor Finerty schlug nicht mit der Faust auf den Tisch, falls ich das erwartet hatte. Er sagte ruhig und sehr freundlich:

„Die Leute reden. Nein, sie war nicht – sie war nicht, was manche behaupten. Sie war krank. Und es gibt Krankheiten, die man nicht auf gewöhnliche Art heilen kann, die man nicht sieht, die innerlich wachsen, und die am allermeisten weh tun, wenn man alleine ist. Und eines Tages kann man nicht mehr. Meine Schwester Mary hatte so eine Krankheit. Es wurde schlimmer, als sie hierherkam. Und als die Schule aufhörte. Die Leute hier. Diese Einsamkeit. Und jetzt wurde sie vom Kirschblatt geblasen...“

Der Doktor sprach mit der ruhigen Aufrichtigkeit eines sehr müden Menschen. Die Worte schienen ganz tief aus der Brust zu kommen.

„Ich denke das manchmal. Daß das Leben wie ein großes Kirschblatt ist. Und daran klammern wir uns fest, wir kleinen Insekten. Einige von uns schaffen es, bis zum großen Unbekannten auf der anderen Seite zu kommen; andere werden weggespült oder heruntergeblasen oder von einer Mordwespe gefangen. Das denke ich manchmal. Ich weiß nicht, woher ich das habe. Es kann aus einem Gedicht sein. Du liest doch Gedichte, nicht wahr, Mädchen?“

Ich spürte, daß der Doktor mich anschaute, und ich starrte in die Tasse, und möglicherweise begann einer meiner Reime in meinem Kopf zu surren: Gedicht, Pflicht, Gewicht, Sicht...

Die Gedichte, die ich in Harper’s Lesebüchern las, handelten meistens von Gott und dem Vaterland und von unnatürlich braven Kindern, die es gut hatten, wenn sie nur ehrlich waren.

Doktor Finertys müde Atemzüge waren durch die Stille zu hören.

„Was ist eine Mordwespe?“ fragte ich.

Die Stille wurde tiefer. Der Doktor setzte die Tasse ab.

„Das ist recht“, sagte er.

„Was denn?“

„Daß du so fragst. Daß du wissen willst. Daß du neugierig bist. Sie sagte das, als sie von dir sprach, meine Schwester Mary, und sie sprach oft von dir. Sie sagte, du hättest diese Art von Hunger.“

Meine Hand zitterte, als ich an dem süßen Kaffee nippte. Das wurde mir zuviel. Ich wollte nur weg. Ich wollte in meiner Sandgrube sitzen und an meinen Fingerwarzen knabbern und mit all den neuen Gedanken allein sein.

Ich hielt die Tasse mit beiden Händen, als ich sie auf den Unterteller absetzte.

„Ich muß jetzt gehen.“

Die Hand des Doktors bewegte sich langsam auf der Tischplatte hin und her, als ob er mit den Fingerspitzen nach Unebenheiten suchen würde.

„Aber du wolltest doch wissen, was eine Mordwespe ist.“

„Ja.“

„Das ist ein Insekt, das von anderen Insekten lebt. Es hat etwas mit den Larven zu tun, wenn ich mich recht erinnere. Das, was ich vorhin gesagt habe, stimmt nicht, daß sie Insekten von einem Blatt fangen. Aber es ist ein schönes Wort. Mordwespe. Es gibt Menschen, die sind wie Mordwespen. Leben vom Tod der anderen...“

Die Hand bewegte sich nicht mehr. Er hielt sich an der Stuhllehne und stand langsam auf.

„Bleib sitzen, Mädchen. Nur einen Moment. Ich komme jetzt schon wieder zurecht. Dank des Kaffees.“

Er humpelte davon in die Richtung von Mrs. Ryans Zimmer, öffnete die braune Tür, verschwand in der Dunkelheit, und ich hörte ihn suchen.

Dort drinnen war ich aufgewacht, nachdem ich ohnmächtig geworden war. Dort hatte sie sich über mich gebeugt, mit mir gesprochen...

Als der Doktor wieder auftauchte, hatte er etwas in der Hand. Er schob die Tür mit dem Ellbogen zu, als ob nichts von dort herauskommen dürfte.

„Meinst du, daß die dir passen?„

Er reichte mir Mrs. Ryans Schuhe: die schwarzen, blanken Schuhe mit den Knöpfen an der Seite, die Schuhe, von denen ich stundenlang geträumt hatte, wenn ich in der Schule saß.

Der Rote Sturm: aus den Erinnerung von Jenny M. Lind

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