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3 Rauchgeruch
ОглавлениеDie Ereignisse blitzten in Sekundenschnelle vor mir auf.
Ein erstickter, schriller Schrei, Knurren, schnelle Bewegungen im Laub, ein helles Aufleuchten – und dann tiefes Schweigen.
Kämpfende Tiere ...
Ich blieb noch lange geduckt sitzen, bevor ich aufzustehen wagte. Auch jetzt noch saß mir das Gefühl im Nacken, daß mir etwas in der Dunkelheit zwischen den Stämmen auflauerte; langsam schlich ich davon. Dann ging ich schneller und schneller und schließlich rannte ich. Meine Tasche schlug gegen mein Bein, während ich den nassen Weg entlangstolperte.
Nach einiger Zeit sah ich Lichter, und hinter den Bäumen zu meiner Linken glänzten Eisenbahnschienen. Ich war in die Nähe des Dorfes gekommen, das der Mann mit den Äderchen erwähnt hatte – Dundas. Ich hörte auf zu rennen, versuchte mich zusammenzunehmen.
„Aha, jetzt kommst du also.“
Martin stand von einem umgestürzten Baum am Wegrand auf. Er trat auf den Weg und wartete mit dem Rücken zu mir. Vermutlich hatte ich die ganze Zeit geahnt, daß wir uns wieder treffen würden, jetzt versuchte ich, die Erinnerung an meine Angst vor der Dunkelheit und Einsameit zu verdrängen. Zusammen gingen wir jetzt auf die Lichter zu.
„Wie hieß doch dieses Dorf hier, weißt du’s noch?“ fragte ich.
Martin antwortete nicht.
„Gut, daß es nicht mehr regnet. Aber kalt ist es immer noch ...“
Ich wollte ein Gespräch mit ihm anfangen, aber Martin schwieg beharrlich, während wir uns der Ortschaft Dundas näherten. Es roch nach Stall, und Martin blieb an einem Zaun am Rande des Weges stehen.
Hinter dem Zaun weideten ziemlich viele Pferde, und eines der Pferde kam zu uns her und streckte den Kopf über den Zaun. Martin streichelte ihm die Stirn und reichte ihm etwas von dem dünnen gelben Gras am Wegrand. Das Pferd kaute zufrieden und schnaubte, noch weitere Pferde kamen und drängten ihre Köpfe über den Zaun.
„Siehst du wohl“, sagte Martin, als wir weitergingen. Wir kamen in die Ortschaft hinein. Mehrere Fenster waren erleuchtet. Hunde bellten. Wir kamen an einer Schenke vorbei, in der gesungen und gelacht wurde. Eine alte Frau stand in der Türöffnung und sah uns nach, und irgendwo murmelte ein Bach.
Wir gingen rasch, um möglichen Fragen auszuweichen, und hatten bald die Stelle erreicht, wo der Weg nach rechts abbog. Jetzt folgten wir wieder glänzenden Radspuren zwischen dunklem, herbstlichem Wald.
„Schöne Pferde waren das“, bemerkte ich.
„Ja, mein Lieber ...“
Martin liebte Pferde. Das erste, was ich von ihm hörte, als wir uns in dem Zug von Hull nach Liverpool kennenlernten, hatte mit Pferden zu tun.
„Den ganzen Tag kein einziges Pferd zu sehen bekommen“, hatte er gesagt. „Und hier in England sollen sie doch angeblich so schöne Pferde haben ...
Jetzt hatte er hier in Minnesota schöne Pferde gesehen, und obwohl er nichts sagte, wußte ich, daß er nicht mehr wütend war. Martin hatte Tiere gern, und nachtragend war er auch nicht. Wir hatten uns schon öfters gestritten, sowohl im Zug als auch während der zehn Tage langen Schiffsreise über den Atlantik ...
... Zehn Tage voller Wind und Kälte. Das ewige Schaukeln. Der von Erbrochenem und Schweiß durchsetzte Mief unter Deck; Sturzseen über die Reling, kein trockenes Plätzchen, wo man sich verkriechen konnte. „Wenn ich mit heilem Verstand hier herauskomme, dann bleibe ich für den Rest meines Lebens in Amerika! Lieber sterbe ich, als daß ich das hier noch einmal durchmache ...“
Der Weg führte in eine Talsenke hinab, zwischen den Bäumen wurde es etwas heller. Der Nebel wogte sachte im Mondlicht. Wir blieben stehen.
„Müde bin ich jetzt“, sagte ich, „und nasse Füße hab’ ich auch.“
„Das hab’ ich schon lange“, erklärte Martin; „jedenfalls, so hatte ich’s mir nicht vorgestellt, als ich von daheim abfuhr. Und Hunger hab’ ich, herrje ...“
Martin hatte immer Hunger. Er war einer von den Menschen, die beinah immer etwas zu kauen und oft Brotrinde im Mundwinkel haben.
Wir standen nebeneinander und sahen die Wagenspuren im Nebel unter uns verschwinden. Es war kalt und schön. Meine Jacke war schwer vor Nässe und klebte an den Schultern. Wir überlegten, wie spät es wohl sein mochte, und dann gingen wir in den Nebel hinein. Martin voraus. Die Landschaft wirkte märchenhaft und geheimnisvoll.
„Was wird er wohl sagen?“ fragte ich, als wir auf der anderen Seite des Tales wieder in den Wald traten.
„Was soll er denn sagen?“
„Na, weil ich dabei bin!“
„Onkel Kalle meinst du? Was soll er dazu sagen?“
„Ich weiß nicht.“
„Mensch“, sagte Martin gutmütig.
Die Landschaft wurde jetzt allmählich hügelig, blieb jedoch weiterhin von dichtem Laubwald überzogen. Das gefallene Laub schimmerte hell auf der Erde.
„Hast du ihn schon mal gesehen?“ erkundigte ich mich. Martin schüttelte den Kopf.
„Es ist schon viele Jahre her, seit er hierher nach Minnesota zog“, antwortete er. „Damals war ich wohl noch nicht einmal geplant.“
„Ich habe ein komisches Gefühl, so einfach bei ihm in die Tür zu fallen.“
„Ach, Mensch ...“
Martin schüttelte den Kopf, dieser vierschrötige, 17-jährige Bauernjunge, mit dem ich nicht allzuviel gemeinsam hatte, der aber in jenem Augenblick sehr viel für mich bedeutete.
Etwas später bekamen wir Rauch in die Nase. Es mochte ungefähr acht Uhr abends sein. Der Weg führte bergauf, und der Nebel war dünner geworden.
„Das kommt sicher von der Siedlung“, meinte Martin.
Es gab keinen Zweifel mehr: wir näherten uns Millersburg.
Das erste Haus, zu dem wir kamen, war neu gebaut und roch nach frischem Holz. Wir sahen einander zögernd an. Jemand bewegte sich hinter den Fenstern, und die Tür ging auf, bevor wir uns entschlossen hatten, anzuklopfen.
Es war ein Norweger, der hier wohnte, ein langer, blonder Mann, und als wir nach Charles Nelson fragten, sagte er, daß wir auf dem richtigen Weg seien, wir müßten nur der Landstraße bis zur Kirche folgen, die sich gerade im Bau befand, und dann nach links abbiegen. Aber wir wüßten doch wohl schon, welch ein Unglück Nelson getroffen habe? Er habe übrigens viel von einem schwedischen Jungen gesprochen, der kommen werde ...
„Der hat aber komisch gesprochen!“ meinte Martin, als wir ein Stück weitergegangen waren.
„Was ist denn daran so komisch? Er ist doch Norweger!“
Martin antwortete nicht, aber ich hörte, daß er kicherte. Ich fing an, mich wieder über ihn zu ärgern. Dieser kindische Kerl.
Ein schwedischer Junge! Und ich ...
Ich fühlte mich mißmutig, als ich auf dem Weg zwischen den Höfen hinter Martin herging. Ich spürte die Blicke der Leute durch die Dunkelheit – sogar die Kühe wirkten neugierig, fand ich. Schließlich kamen wir zu der halbfertigen Kirche, die auf einer Anhöhe rechts des Weges lag und aussah, wie das Skelett eines Vogels mit langem, gerecktem Hals ohne Kopf.
Wir fanden den Seitenweg, der sehr schmal war und wieder bergab führte.
Wir gingen ziemlich lang durch dichten Wald, bevor wir auf einen Stoppelacker hinauskamen. Hinter dem Acker lag ein niedriger Hügel mit einem großen gespaltenen Baum und den Überresten eines Hauses. Die verbrannte Erde knisterte unter den Schuhsohlen.
„Das muß ein großes Haus gewesen sein“, bemerkte Martin und stellte den Fuß auf einen der schwarzen Stöcke.
Er sprach ungewöhnlich leise, und plötzlich begriff ich, daß auch er aufgeregt war. Ich sah mich um.
Der Hügel fiel sanft zu einem kleinen See ab, und gegen das glitzernde Wasser und das niedrige Buschwerk davor zeichneten sich die Umrisse eines größeren Gebäudes mit flachem Dach ab. Es schien die Scheune zu sein. Wir gingen hin.
„Vielleicht wohnen sie jetzt hier, seit das andere Haus abgebrannt ist“, flüsterte Martin. Dann hämmerte er an die Tür.
Ich kann mich noch an das Echo der Schläge erinnern und an die Stille, die folgte, und daran, wie ein paar dünne Baumstämme im Wind aneinander scheuerten.
„Wo können sie denn sonst sein?“ sagte Martin.
„Vielleicht sind sie fortgezogen.“
„Dann hätte er es doch gesagt, kapierst du das nicht, der komische Norweger ...“
Martin war gereizt und unruhig. Als wir wieder den Hügel hinaufgingen, sah ich etwas am Waldrand hinter dem Stoppelacker glänzen. Ein Fenster.
Martin hatte es auch gesehen, und als wir näherkamen, entdeckten wir das kleine Blockhaus. Es lag zwischen hohen Bäumen eingeklemmt und war sehr niedrig.
Martins Augen funkelten, als er mich ansah, und ich bildete mir ein, daß er wieder diesen ärgerlich eingebildeten Gesichtsausdruck hatte.
„Dein reicher Onkel“, dachte ich.
Martin zupfte seine Schildmütze zurecht und ging mit wiegendem Gang hin und klopfte an die Tür.