Читать книгу Kleiner Wolf und der Schatten - Stig Ericson - Страница 5
Schreiende Eule
ОглавлениеNach sieben Nachtlagern kamen sie an einen Bach. Das Wasser war so klar, daß man die runden Steine auf dem Boden sehen konnte, und im Gras am Ufer waren frische Spuren von Hirschen und Antilopen. Hier beschlossen sie zu bleiben, um Kräfte zu sammeln.
Früh genug würden sie dorthin kommen.
Sie bemalten ihre Gesichter mit einer heiligen roten Farbe und baten die Sonne und den Großen Geist um Schutz.
Danach stellten die Frauen die Zelte auf und machten alles im neuen Lager zurecht, während die Männer wie immer auf die Jagd gingen.
Der langgestreckte Hang hinter dem Bach war mit dunklem, saftigem Gras bedeckt.
Hier konnten die erschöpften Pferde grasen und wieder zu Kräften kommen.
Sie gaben dem Ort den Namen Fettes Gras.
Obwohl der Kältemacher, der Winter, zu seinem schneebedeckten Land hoch oben im Norden zurückgekehrt war, waren die Nächte weiterhin sehr kalt.
Die meisten saßen in ihren Zelten am Feuer.
Sie schwiegen und dachten daran, wie es wohl sein würde, wenn sie dorthin kämen.
Manchmal redeten sie über die Blauröcke.
Aber sie waren nicht mehr auf der Hut vor ihnen, wenigstens nicht so wie früher.
„Warum sollten sie zu uns kommen?“ fragten sie sich. „Wir sind doch auf dem Weg zu ihnen, weg von dem, was einmal unsere Jagdgründe waren.“
Aber am liebsten lauschten sie Geschichten aus alten Zeiten, als sie noch ein starkes, glückliches Volk gewesen waren.
Eines Abends, als Kleiner Wolf zusammen mit seinem Freund Fuchsohr im Zelt seines Onkels saß, kam ein alter Jäger zu Besuch.
Er hieß Schreiende Eule und trug diesen Namen mit Stolz. In der Nacht vor seiner ersten Büffeljagd hatte er die Eule dreimal schreien hören, und die Jagd war sehr erfolgreich gewesen.
Aber das war lange her. Der Rücken von Schreiende Eule war vom Alter gekrümmt.
Heiße Sommer und strenge Winter hatten Spuren in seinem Gesicht hinterlassen. Sein langes Haar hatte die gleiche Farbe wie das Gras nach der Schneeschmelze. Aber seine Augen waren scharf und klar, und er war ein guter Geschichtenerzähler.
Schreiende Eule wurde der Ehrenplatz links neben dem Onkel angeboten. Sie aßen und rauchten dann eine Pfeife, die einen Kopf aus schwarzem Stein hatte. Dann baten alle Schreiende Eule, vom Leben in den alten Zeiten zu erzählen.
„Hmmm“, murmelte Schreiende Eule und schloß die Augen.
Es wurde ganz still im Zelt.
Der alte Jäger versank tief in Gedanken.
Dann öffnete er die Augen und sah sich im Zelt um. Sein Blick blieb an Kleiner Wolf haften. „Hmmm“, sagte er noch einmal.
Kleiner Wolf saß zusammen mit Fuchsohr und ein paar anderen Kindern ganz dicht an der Zeltöffnung. Schreiende Eule ließ seinen Blick auf ihm ruhen, und ein schwaches Lächeln huschte über sein zerfurchtes Gesicht.
„Na, junger Jäger“, fing er an. „Hast du schon von dem Ungeheuer auf dem Großen Fluß gehört?“
Kleiner Wolf schaute ins Feuer und schüttelte den Kopf. Seine Wangen glühten. Er fühlte großen Respekt vor einem so alten Mann.
„Aber von Krähenfuß hast du doch schon gehört?“ fragte der Greis.
Kleiner Wolf nickte.
Krähenfuß war vor vielen Wintern der Führer ihres Volkes gewesen. Der Vater von Kleiner Wolf hatte oft von seinen Großtaten berichtet. Wenn die Jungen spielten, wetteiferten sie manchmal, wer von ihnen der große Häuptling Krähenfuß sein durfte.
„Hmm“, sagte Schreiende Eule wieder. „Ich dürfte wohl genausooft wie du, kleiner Jäger, dem großen Kältemacher begegnet sein, als sich das Ungeheuer das allererste Mal zeigte. Und es war zu Krähenfuß’ Zeiten.
Wie ihr alle wißt, war Krähenfuß ein guter Führer unseres Volkes. Sein Herz war stark, sehr stark. Er fürchtete nichts und niemanden.“
Mit einem Holzscheit holte der alte Jäger Glut aus dem Feuer und führte sie an seinen schwarzen Pfeifenkopf. Er blies den Rauch langsam hinaus, nach oben und nach unten, um seine Achtung vor den Geistern des Himmels und der Erde zu zeigen.
Dann schloß er wieder die Augen, lehnte sich zurück und fing an, seine Geschichte zu erzählen ...