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Nach dem Mittagessen saßen wir draußen auf der Veranda in buntgestrichenen Klappstühlen aus Metall, die mit Rost wie mit Pockennarben übersät waren. Die Veranda war eigentlich eine Art Gußbetonbrett und bildete das Dach der Garage, welche in den Berg hineingebaut war. Hölzerne Blumenkübel, mit einjährigen Pflanzen bestückt, standen als niedrige Schutzmauer um den Rand herum. Eine leichte Brise kam auf und hob die schwere Decke aus Sonnenschein an, die sich auf meine Arme gelegt hatte. Phils Streitlust war verflogen. Vielleicht hatten ihn ja die vielen Chemikalien in seinem Essen so besänftigt, obwohl es wahrscheinlich eher an den beiden Bieren und der Aussicht auf eine Zigarre lag, die er gerade mit einem kleinen Abschneider kappte. Er zog ein großes Küchenstreichholz aus einer Dose neben ihm und beugte sich hinab, um es auf dem Boden zum Leben zu bringen. Er paffte an der Zigarre, bis sie zog, wedelte dann das Streichholz aus und warf es in den flachen Zinnaschenbecher. Einen Moment lang saßen wir beide da und starrten hinaus aufs Meer.

Die Aussicht ähnelte einem Wandgemälde auf blauem Hintergrund. Die Inseln im Kanal, sechsundzwanzig Meilen entfernt, sahen wild und verlassen aus. Auf dem Festland waren die kleinen Strände gerade noch zu erkennen, an denen sich die Brandung wie weiße Spitzenrüschen kräuselte. Die Palmen wirkten nicht größer als junger Spargel. Ich konnte ein paar markante Punkte ausmachen: das Gericht, die High-School, eine große katholische Kirche, ein Theater, das einzige Bürohaus in der Stadt mit mehr als drei Stockwerken. Von diesem Aussichtspunkt aus gab es keinen Hinweis auf viktorianische Einflüsse oder einen der anderen, späteren Baustile, die jetzt mit dem spanischen verschmolzen.

Dieses Haus, erzählte er mir, war im Sommer 1950 fertiggestellt worden. Er und seine Frau Reva hatten es gerade gekauft, als der Koreakrieg ausbrach. Er wurde eingezogen und mußte zwei Tage nach ihrem Einzug weg. So ließ er Reva mit Stapeln von Kartons zum Auspacken zurück und kehrte vierzehn Monate später mit einer Kriegsverletzung heim. Er ging nicht weiter darauf ein, was es war, und ich fragte ihn nicht, doch hatte er seit seiner krankheitsbedingten Entlassung offenbar nur sporadisch gearbeitet. Sie hatten fünf Kinder, und Rick war das jüngste gewesen. Die anderen waren inzwischen über den ganzen Südwesten verstreut.

»Wie war er?« fragte ich. Ich war mir nicht sicher, ob er antworten würde. Das Schweigen zog sich hin, und ich fragte mich, ob das die falsche Frage gewesen war. Mir gefiel der Gedanke nicht, das wie auch immer geartete Gefühl von Kameradschaft, das sich zwischen uns aufgebaut hatte, jetzt zerstört zu haben.

Schließlich schüttelte er den Kopf. »Ich weiß nicht, was ich darauf sagen soll«, erklärte er. »Er war eines dieser Kinder, bei denen man glaubt, daß man niemals auch nur eine Minute lang Probleme mit ihnen haben wird. Immer heiter, machte Sachen, ohne daß man es ihm sagen mußte, hatte gute Noten in der Schule. Dann, als er sechzehn oder so war – sein letztes Jahr auf der High-School –, schien er den Halt zu verlieren. Sein Abschluß war noch in Ordnung, aber er wußte wohl nicht, was er mit sich anfangen sollte. Er ließ sich treiben. Hatte die Zensuren fürs College, und, weiß Gott, irgendwo hätte ich das Geld dafür aufgetrieben, aber es interessierte ihn nicht. Nichts interessierte ihn. Oh, er hat gearbeitet, aber das reichte hinten und vorne nicht.«

»Nahm er Drogen?«

»Ich glaube nicht. Zumindest gab es dafür keine Anzeichen, die ich erkennen konnte. Der Junge trank sehr viel. Reva dachte, es läge daran, aber ich weiß nicht. Er ging gern weg. Er war die ganze Nacht unterwegs, verschlief das Wochenende und hing mit Typen wie Bobby Callahan herum, die gesellschaftlich weit über uns stehen. Dann fing er an, mit Bobbys Stiefschwester Kitty zu gehen. Gott, dieses Mädchen ist vom Tag ihrer Geburt an ein Problem gewesen. Da war ich es dann leid, ihn zu beherbergen. Wenn er nicht zur Familie gehören wollte, auch gut. Dann geh aber woanders hin und verdien dir deinen eigenen Unterhalt. Glaube nicht, du könntest dieses Haus ausnutzen, um dir das Essen und die Wäsche machen zu lassen.« Er hielt inne und sah zu mir herüber. »War das falsch? Das frage ich Sie.«

»Ich weiß nicht«, erwiderte ich. »Wie kann man so eine Frage überhaupt beantworten? Kinder kommen von der Bahn ab, und dann fangen sie sich wieder. In vielen Fällen hat das gar nichts mit den Eltern zu tun. Wer weiß schon, woran das liegt?«

Er schwieg und starrte zum Horizont hinaus. Seine Lippen umschlossen die Zigarre wie das Verbindungsstück eines Schlauchs. Er sog Nikotin ein und blies dann eine Rauchwolke aus. »Manchmal frage ich mich, wie helle er war. Vielleicht hätte er zu einem Therapeuten gehen sollen, aber woher sollte ich das wissen? Reva sagt das jetzt immer. Was macht ein Psychiater mit einem Kind, das keinen Antrieb hat?«

Auf all das hatte ich keine Erwiderung, also gab ich verständnisvolle Laute von mir und beließ es dabei.

Kurzes Schweigen. Dann: »Ich hörte, Bobby ist total fertig.«

Sein Ton war zögernd, eine vorsichtige Frage nach einem verhaßten Rivalen. Er hatte Bobby wahrscheinlich mehr als hundertmal den Tod gewünscht und sein Glück, überlebt zu haben, verflucht.

»Ich bin mir nicht sicher, ob er nicht mit Rick tauschen würde, wenn er könnte«, gab ich zurück, indem ich mein eigenes Gefühl dazu äußerte. Ich wollte keine neue Woge der Aufregung in Gang setzen, doch ich wollte auch nicht, daß er den Verdacht hegte, Bobby könne irgendwie »glücklicher« sein als Rick. Bobby mußte alles geben, um sein Leben in Griff zu kriegen, und das war ein Kampf.

Unterhalb von uns kam ein hellblauer alter Ford in Sicht, der ratternd Auspuffgase spuckte. Der Fahrer drehte weit um mein Auto herum und blieb stehen, offenbar, um eine automatische Garagentür zu bedienen. Der Wagen tastete sich vorsichtig an uns vorbei außer Sicht, und einen Moment später hörte ich den gedämpften Klang einer Wagentür, die zugeworfen wurde.

»Das ist meine Frau«, meinte Phil, als der Mechanismus der Garagentür unter unseren Füßen rumpelte.

Reva Bergen stapfte, beladen mit Einkaufstüten, mühsam den steilen Weg hinauf. Mit Befremden registrierte ich, daß Phil keinerlei Anstalten machte, ihr zu helfen. Sie sah uns, als sie die Veranda erreicht hatte, und zögerte. Ihr Gesicht war völlig ausdruckslos. Selbst auf diese Entfernung hatte ihr Blick etwas Unbestimmtes, das deutlicher wurde, als sie schließlich kurze Zeit später aus der Hintertür trat. Sie hatte spülwasserblonde Haare und den erschöpften Ausdruck, den Frauen um ‘ die fünfzig manchmal bekommen. Ihre Augen waren klein und fast ohne Wimpern. Blasse Augenbrauen, blasse Haut. Sie war zart und dürr, und die Hände an ihren schmalen Gelenken wirkten plump wie Arbeitshandschuhe. Die beiden schienen so extrem wenig zusammenzupassen, daß ich das ungebetene Bild ihres Ehebetts schnell wegschob.

Phil erklärte, wer ich war und die Tatsache, daß ich den Unfall untersuchte, bei dem Rick ums Leben gekommen war.

Ihr Lächeln war gemein. »Bobby hat also Gewissensbisse?«

Phil sprang ein, bevor ich eine Antwort formuliert hatte. »Ich bitte dich, Reva. Es kann doch nichts schaden. Du hast selbst gesagt, daß die Polizei -–«

Abrupt wandte sie sich um und ging wieder hinein. Verlegen schob Phil die Hände in die Taschen. »Scheiße. So ist sie, seitdem es passiert ist. Die Dinge haben sie aufgebracht. Es war schon keine Freude, mit mir zusammenzuleben, aber diese Geschichte hat ihr das Herz gebrochen.«

»Ich muß los«, meinte ich. »Aber wenn Sie möchten, können Sie mir einen Gefallen tun. Ich habe herauszufinden versucht, was damals vor sich ging, und hatte bisher nicht viel Glück. Hat Rick Ihnen irgendeinen Hinweis gegeben, daß Bobby in Schwierigkeiten oder durcheinander war? Oder daß er selbst irgendein Problem gehabt hat?«

Er schüttelte den Kopf. »Ricks ganzes Leben war ein Problem für mich, aber das hatte nichts mit dem Unfall zu tun. Aber ich werde Reva fragen, vielleicht weiß sie etwas.«

»Danke«, sagte ich. Ich schüttelte ihm die Hand und fischte dann eine Karte aus meiner Tasche, damit er wußte, wo er mich erreichen konnte.

Er brachte mich zur Straße, und ich dankte ihm noch mal fürs Essen. Als ich in den Wagen stieg, schaute ich" hoch. Reva stand auf der Veranda und starrte zu uns hinunter.

Ich fuhr wieder in Richtung Stadt. Am Büro machte ich halt, um meinen Anrufbeantworter auf Nachrichten abzuhören (keine) und die Post durchzusehen, die nur aus Reklame bestand. Ich machte mir eine frische Kanne Kaffee und zog meine Reiseschreibmaschine hervor, um die Untersuchungsergebnisse bis zu diesem Punkt einzeln aufzulisten. Es war eine mühsame Arbeit, zumal absolut nichts dabei herauskam. Dennoch, Bobby hatte ein Recht darauf zu erfahren, wie ich meine Zeit verbrachte, und er hatte ein Recht darauf zu erfahren, wo das Geld blieb.

Um drei Uhr verschloß ich das Büro und ging zu Fuß zur Stadtbücherei, die zwei Blocks geradeaus und zwei Blocks hoch lag. Ich ging zum Zeitschriftenleseraum hinunter und fragte nach den Zeitungen vom vergangenen September, die jetzt auf Mikrofilm gespeichert waren. Dann suchte ich mir eine Lesemaschine, setzte mich und fädelte die erste Spule ein. Die Schrift war weiß auf schwarz, so daß alle Fotografien wie Negative aussahen. Ich hatte keine Vorstellung davon, was ich entdecken könnte, also war ich gezwungen, jede Seite zu überfliegen. Aktuelle Ereignisse, Inlandsnachrichten, lokalpolitische Themen, Feuer, Verbrechen, Sturm, Geburten, Todesfälle und Scheidungen irgendwelcher Leute. Ich las die Spalte »Verloren und Gefunden« und die Klatsch-, Gesellschafts- und Sportseiten. Der Mechanismus zum Weiterdrehen des Films war irgendwie nicht in Ordnung, so daß die jeweiligen Abschnitte mit leicht verzerrter Scharfeinstellung auf den zweiundzwanzig mal dreißig Zentimeter großen Bildschirm sprangen und eine Art Seekrankheit hervorriefen. Um mich herum schmökerten Leute in Zeitschriften oder saßen in niedrigen Stühlen und lasen Zeitungen, die auf hölzernen Ständern angebracht waren. Die einzigen Geräusche in dem Raum waren das Summen des Apparates, den ich benutzte, ein gelegentliches Husten und das Rascheln der Zeitungen.

Ich schaffte es, die Zeitungen der ersten sechs Tage jenes Septembers durchzusehen, bevor mich die Entschlossenheit verließ. Ich würde das Ganze in kleinen Dosen erledigen müssen. Mein Hals war steif, und mein Kopf begann zu schmerzen. Ein Blick auf die Uhr zeigte mir, daß es fast fünf Uhr war, und ich war zu Tode gelangweilt. Ich notierte mir das Datum der letzten Zeitung, die ich durchgesehen hatte, und floh dann in den Sonnenschein des späten Nachmittags. Ich ging zu meinem Bürogebäude zurück und holte den Wagen vom Parkplatz, ohne hinaufzugehen.

Auf dem Nachhauseweg hielt ich am Supermarkt, um bei einer schnellen Runde mit dem Einkaufswagen Milch, Brot und Toilettenpapier zu kaufen. Im Hintergrund wurde soviel lyrische Musik gespielt, daß ich mir vorkam wie die Heldin in einer romantischen Komödie. Nachdem ich gefunden hatte, was ich brauchte, stellte ich mich in die Expreßreihe für zwölf Teile oder weniger. Mit mir standen fünf Leute an, und alle zählten verstohlen den Inhalt der anderen Wagen. Der Mann vor mir hatte einen zu kleinen Kopf für seine Gesichtsgröße und wirkte wie ein zu schwach aufgeblasener Ballon. Er hatte ein kleines Mädchen bei sich, das vielleicht vier Jahre alt war und ein nagelneues Kleid trug, das etliche Nummern zu groß war. Irgend etwas daran schrie »arm«, aber ich weiß nicht warum. Es gab ihr das Aussehen eines Zwerges; die Taille hing auf ihren Hüften, der Saum um ihre Fußgelenke. Sie hielt die Hand des Mannes in vollkommenem Vertrauen und zeigte mir ein schüchternes Lächeln, das so voller Stolz war, daß ich, ohne es zu wollen, zurücklächelte.

Als ich nach Hause kam, war ich müde, und mein linker Arm schmerzte. Es gibt Tage, an denen ich kaum an den Unfall denke, und Tage, an denen mich ein ständiger dumpfer Schmerz fertigmacht. Ich beschloß, auf meinen Lauf zu verzichten. Zur Hölle damit. Ich nahm ein paar Tylenol mit Kodein, trat mir die Schuhe von den Füßen und kroch in die Falten meiner Bettdecke. Da befand ich mich auch noch, als das Telefon klingelte. Jäh schreckte ich hoch und langte automatisch nach dem Hörer. Mein Appartement war dunkel. Der unerwartete schrille Ton hatte mir einen Adrenalinstoß durch den Körper gejagt, und mein Herz klopfte heftig. Mit Unbehagen sah ich auf die Uhr. Viertel nach elf.

Ich murmelte »Hallo« und fuhr mir mit einer Hand übers Gesicht und durch die Haare.

»Kinsey, hier ist Derek Wenner. Haben Sie schon gehört?«

»Derek, ich schlafe fest.«

»Bobby ist tot.«

»Was?«

»Ich vermute, er hatte getrunken, obwohl wir im Moment nicht mal das sicher wissen. Sein Wagen kam von der Straße ab und prallte gegen einen Baum in der West Glen. Ich dachte, ich sollte Sie informieren.«

»Was?«Ich wußte, daß ich mich wiederholte, aber ich konnte nicht begreifen, worüber er sprach.

»Bobby ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen.«

»Aber wann denn?« Ich wußte nicht, warum das wichtig sein sollte. Ich stellte einfach Fragen, weil ich mit der Nachricht anders nicht fertig wurde.

»Kurz nach zehn. Er war tot, als man ihn ins St. Terry schaffte. Ich muß noch hinfahren und ihn identifizieren, aber es gibt keinen Zweifel.«

»Kann ich irgend etwas tun?«

Er schien zu zögern. »Nun, vielleicht könnten Sie das wirklich. Ich habe versucht, Sufi zu erreichen, aber sie scheint nicht da zu sein. Dr. Metcalfs Personal versucht ihn gerade aufzutreiben, also wird er wahrscheinlich in Kürze hier sein. Vielleicht könnten Sie ja in der Zwischenzeit bei Glen bleiben. Dann kann ich zum Krankenhaus rüberfahren und sehen, was los ist.«

»Komme sofort«, stimmte ich zu und legte auf.

Ich wusch mir das Gesicht und putzte mir die Zähne. Ich sprach die ganze Zeit über mit mir selbst, doch ich fühlte überhaupt nichts. All meine Körperfunktionen schienen zeitweise auszusetzen, während mein Hirn mit den Tatsachen kämpfte. Die Nachricht prallte immer wieder ab. Unmöglich. Nein, nein. Wie konnte Bobby tot sein? Stimmt alles nicht.

Ich schnappte mir eine Jacke, meine Handtasche und die Schlüssel. Dann schloß ich ab, stieg in den Wagen, ließ den Motor an und fuhr los. Ich fühlte mich wie ein gut programmierter Roboter. Als ich in die West Glen Road abbog, sah ich die Einsatzfahrzeuge und fühlte, wie mich ein Frösteln am Ende meiner Wirbelsäule kitzelte. Es war genau in der großen Kurve, einem toten Winkel nahe den »Slums«. Der Krankenwagen war schon fort, aber noch standen Streifenwagen da, deren Funkgeräte in der Nachtluft quäkten. Passanten standen im Dunkeln am Straßenrand, und der Baum, gegen den er gefahren war, wurde von grellem Flutlicht angestrahlt. Der tiefe Schnitt in seinem Stamm sah aus wie eine tödliche Wunde. Der BMW wurde gerade von einem Abschleppwagen abtransportiert. Die Szene wirkte seltsamerweise wie eine Kulisse für Filmaufnahmen. Ich fuhr langsamer und sah mir den Ort mit einem unheimlichen Gefühl von Distanz an. Da ich nicht noch zur allgemeinen Konfusion beitragen wollte und mir Sorgen um Glen machte, fuhr ich weiter. Eine leise Stimme murmelte: »Bobby ist tot.« Eine zweite Stimme sagte: »O nein, so etwas wollen wir gar nicht denken. Ich will nicht, daß es wahr ist, verstanden?«

Ich bog in die schmale Einfahrt und folgte dem Weg, bis er auf dem großen Vorplatz endete. Das gesamte Haus erstrahlte taghell, als sei eine riesige Party im Gange, aber es gab weder ein Geräusch noch waren Menschen oder Autos zu sehen. Ich parkte und ging zum Eingang. Eines der Mädchen öffnete mir wie auf Knopfdruck die Tür, als ich mich näherte. Es trat zurück und ließ mich kommentarlos ein.

»Wo ist Mrs. Callahan?«

Sie schloß die Tür und ging den Flur entlang. Ich folgte ihr. Sie klopfte an die Tür zu Glens Studierzimmer, drehte dann den Knopf um und trat wieder zurück, um mich an ihr vorbei in den Raum gehen zu lassen.

Glen trug einen hellrosa Morgenrock und saß zusammengekauert und mit angezogenen Knien in einem der Ohrensessel. Sie hob den Kopf, ihr Gesicht war verquollen und naß. Sie sah aus, als seien all ihre emotionalen Dämme gebrochen: auslaufende Augen, tränenverwaschene Wangen, triefende Nase. Sogar ihre Haare waren feucht. Einen Moment lang stand ich immer noch ungläubig da und sah sie an, und sie sah mich an, senkte dann wieder den Kopf und streckte eine Hand aus. Ich ging zu ihr und kniete mich neben den Sessel. Ich nahm ihre Hand – klein und kalt – und drückte sie an meine Wange.

»Oh, Glen, es tut mir leid. Es tut mir so leid«, flüsterte ich.

Sie nickte zur Bestätigung und machte ein tiefes Geräusch in ihrer Kehle, das nicht einmal ein deutlich artikuliertes Weinen war. Es war ein viel primitiveres Geräusch. Sie begann zu sprechen, aber sie bekam nur einen in die Länge gezogenen, stotternden Satz heraus, Halbsprache ohne jeden Sinn. Was konnten ihre Worte auch schön ändern? Es war geschehen, und nichts konnte es rückgängig machen. Sie begann zu weinen, wie Kinder weinen, mit tiefen, bebenden Schluchzern, die nicht mehr aufhörten. Ich hielt weiter ihre Hand und bot ihr so ein Ankertau in diesem aufgewühlten Meer des Kummers an.

Schließlich spürte ich, daß sich der Sturm verzog, wie eine leichter werdende Regenwolke weitertreibt. Die Krämpfe lösten sich. Sie ließ mich los, lehnte sich zurück und atmete tief ein. Dann nahm sie ein Taschentuch heraus, tupfte sich die Augen trocken und putzte sich die Nase. Wie man es nach einer Schluckaufattacke macht, hielt sie inne und konzentrierte sich offenbar auf ihr Inneres.

Dann seufzte sie. »Mein Gott, wie soll ich das überleben?« rief sie, und wieder stiegen ihr Tränen in die Augen und rollten das Gesicht hinab. Einen Moment später hatte sie ihre Fassung wiedergewonnen und führte kopfschüttelnd noch einmal den Trockenvorgang durch. »Jesus. Scheiße. Ich glaube nicht, daß ich das schaffe, Kinsey. Verstehen Sie? Es ist einfach zu viel, und ich bin nicht stark genug dafür.«

»Soll ich jemanden rufen?«

»Nein, jetzt nicht. Es ist zu spät, und wozu auch? Morgen früh soll Derek sich mit Sufi in Verbindung setzen. Sie wird kommen.«

»Wie ist es mit Kleinert? Möchten Sie, daß ich ihm Bescheid gebe?«

Sie schüttelte den Kopf. »Bobby konnte ihn nicht ausstehen. Lassen Sie nur. Er wird es früh genug erfahren. Ist Derek zurück?« Ihre Stimme klang jetzt ängstlich, ihre Gesichtszüge waren angespannt.

»Ich glaube nicht. Möchten Sie einen Drink?«

»Nein, aber bedienen Sie sich, wenn Sie möchten. Der Alkohol ist da drüben.«

»Später vielleicht.« Ich wollte etwas, aber ich war mir nicht sicher, was. Keinen Drink, ich fürchtete, der Alkohol könnte die dünne Schicht meiner Selbstbeherrschung zerreißen. Das Allerletzte, was sie jetzt gebrauchen konnte, wäre, sich mir zuwenden und mich trösten zu müssen. Ich setzte mich in den Sessel ihr gegenüber, und mir schoß ein Bild in den Sinn. Ich dachte daran, wie Bobby sich vor just zwei Abenden zu ihr hinabgebeugt hatte, um ihr gute Nacht zu sagen. Er hatte sich automatisch umgedreht, damit er ihr die gesunde Seite seines Gesichts darbieten konnte. Es war einer seiner letzten Abende auf dieser Erde gewesen, aber weder hatte es einer von ihnen geahnt noch ich. Ich schaute zu ihr auf, und sie sah mich an, als wüßte sie, was in meinem Kopf vorging. Ich sah weg, aber nicht schnell genug. Etwas in ihrem Gesicht ergoß sich über mich wie Licht durch eine Schwingtür. Trauer schoß durch den Spalt und erwischte mich ungeschützt. Ich brach in Tränen aus.

Abgrundtief/Ruhelos

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