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Mitten wir im Leben sind

mit dem Tod umfangen.

(Anonyme Sammlung

altterranischer Weisen,

Kapitel 77 »Martin Luther«)

Prolog

Ein kurzes Erwachen

vor 265 Jahren

»Kupfer«, sagte Tonyor mit brüchiger Stimme. »Angeblich riecht es dort unten auf Zeut nach Kupfer.«

Etwa 200 Meter unter ihrem Gleiter eilte ein giraffenartiges Tier über eine schillernde Eisfläche, verlor den Halt, rutschte und versuchte sich mit tapsigen Schritten zu fangen. Zu Homer G. Adams' Überraschung entfaltete es Flügel und schlug hastig damit. Eine rote Feder löste sich und trieb im Wind davon.

»Die Tatsachen sprechen dagegen«, sagte Adams.

»Warst du bereits dort?«

»Nein«, gab er zu. Das musste er auch nicht, wenn die Fakten nun einmal anders lauteten. Mit dieser Argumentation kam er bei seinem grauhaarigen Begleiter jedoch nicht weiter, das wusste er.

Tonyor interpretierte grundlegende Gegebenheiten ganz nach eigenem Geschmack oder ignorierte sie einfach, indem er auf der Weisheit des Alters beharrte. Natürlich war Adams um ein Vielfaches älter.

»Wie riecht eigentlich Kupfer?«, fragte Tonyor. Seine wenigen Haare färbte er sich in tiefem, glänzendem Schwarz.

»Überhaupt nicht.«

»Oh.«

Ihr Gleiter war ein Spezialmodell – eher eine Mischung aus Helikopter, Flugzeug und Luftkissenboot. Anders hätte er auf der hiesigen Version des Planeten Zeut nicht funktioniert. Es hatte die terranischen Ingenieure eine Menge grauer Haare gekostet, eine Lösung zu finden, die Fluggefährte nicht einfach so abstürzen ließ.

Die Pilotin zog tiefer, zu der Forschungsstation mitten in der Eiswüste, in der zum ersten Mal seit Jahrhunderten Leben spross. Die Temperaturen stiegen seit einigen Jahren langsam, aber kontinuierlich.

Adams entdeckte das Grün eines Moosteppichs. Eine der geflügelten Giraffen – natürlich hatte dieses Wesen mit dem irdischen Tier, das sich in der anderen Hälfte des Dyoversums entwickelt hatte, nicht das Geringste zu tun – stand dort und fraß. Es war viel kleiner, als es aus der Höhe den Anschein erweckt hatte, wahrscheinlich wegen seiner Giraffen-Assoziation inmitten der endlos weißen Weite, die dem Auge keine Vergleichsmöglichkeit bot. Es sah ausgemergelt aus, trotz des dicken Fells.

Der Gleiter näherte sich der Energiekuppel rund um die Forschungsstation, einem einzelnen, weitläufigen Flachbau, der an eine schmucklose Halle für Robotfabrikation erinnerte. Alles andere als ein wohnlicher Ort. An einem uralten, im Eis konservierten Baumriesen nur wenige Meter vom Rand der Kuppel entfernt öffnete sich eine Knospe. Es kam Adams vor, als würde das Lila aus sich heraus leuchten.

Im Gleiter saßen nur sie beide als Passagiere, das einzige Besatzungsmitglied war die Pilotin, angestellt bei der privaten Firma Far Cry, die auch die Station betrieb. Adams hatte sie beim Start vom Raumhafen Terrania nur kurz gesehen – eine trotz ihrer langen, blau-silbrig gefärbten Haare erstaunlich unauffällige Frau.

Far Cry war eine Mixtur aus Architekturbüro, Stadtplanungs-Konsortium und exogeologischem Forschungsinstitut. Es gingen Gerüchte, dass ein Nachkomme des genialen Robotikers Whistler seine Finger in der Finanzierung hatte und als graue Eminenz im Hintergrund die Fäden zog, doch das hielt Adams für eine Verschwörungstheorie. Der TLD hatte in dieser Hinsicht ermittelt, um möglichen künftigen Problemen vorzubeugen, aber nie etwas gefunden, das über bloßes Hörensagen hinausging.

Tonyor diente seit Jahrzehnten als offizieller Sprecher für Far Cry und kommunizierte in dieser Funktion häufiger mit der Regierung der Liga ... genauer gesagt, mit Homer G. Adams, dem Advisor des Residenten. Adams schätzte ihn. Irgendwie zumindest. Und wo er ihn zu penetrant oder besserwisserisch fand, pflegte er einen professionellen Umgang. Mit anderen Worten: Er ließ sich nichts anmerken.

Far Cry finanzierte sich seit Jahren dank etlicher Sponsoren, die in dem offiziellen Auftrag, auf Zeut eine Stadt samt kleinem Raumhafen zu errichten, eine lukrative Investition in die Zukunft sahen.

Seit es Terra in die andere Hälfte des Dyoversums verschlagen hatte, verstand man unter Expansion längst etwas anderes. Etwas Bescheideneres. Die Milchstraße war in gewisser Hinsicht auf eine Raumkugel von wenigen Hundert Lichtjahren Durchmesser geschrumpft, die man gerade so mit waghalsigen Raumflügen bereisen konnte.

Und Zeut war ohnehin eine Legende – im Heimatuniversum existierte der Planet seit Langem nicht mehr, sondern war lediglich vor Urzeiten Teil des Solsystems gewesen. In dieser Hälfte des Dyoversums zog er nach wie vor seine exzentrische Bahn um die heimatliche Sonne.

Noch ließ sich bei einem Überflug nichts von der geplanten Stadt erahnen, und dafür gab es einen guten Grund: das Leben. Genauer gesagt, der erwartete oder erhoffte Ausbruch einer Lebensphase auf dieser eiskalten, erstarrten Welt.

Jemand in der Forschungsstation schaltete ihnen eine Schleuse in die Energiekuppel, und sie landeten wenige Sekunden später. Sie verließen den Gleiter, und zum ersten Mal atmete Adams die Luft des Planeten Zeut.

Nur dass es nicht der legendäre Planet war. Stattdessen standen sie auf einem ...

... ja, was?

Auf einem Ebenbild?

Einem Zwilling?

Eigentlich ja.

Denn eigentlich war das Universum, in das es die Erde vor Jahrhunderten verschlagen hatte, ein Zwilling des Heimatuniversums – mehr noch, ein siamesischer Zwilling, wenn man es so wollte, obwohl die Analogie nur beschränkt zutraf. Entstanden im selben Urknall, entwickelten sich die beiden Universen seitdem weiter, verbunden lediglich an einem Punkt: der Zerozone.

So weit stand das Modell, und bei diesen Grundlagen endeten auch die Interpretationen, denen sämtliche Wissenschaftler zustimmten. Zumindest fast alle.

Es blieben mehr Fragen als Antworten.

Und genau das, fand Adams, machte das Leben in diesem fernen und doch so eigentümlich vertrauten Bereich überhaupt erst spannend. Er hatte sich daran gewöhnt. Oder? Es gab Tage, nein, Wochen, vielleicht sogar Monate, in denen er gar nicht an das alte Heimatuniversum und eine Rückkehr dorthin dachte.

Wenn sich die Universen seit dem Urknall getrennt voneinander entwickelten – wie konnte es dann sein, dass weitgehend dieselben Sonnensysteme mit einander stark ähnelnden Planeten entstanden waren? Es musste etwas geben, das die Entwicklung beeinflusste und regulierte. Die Zerozone?

Aber falls es eine solche Einflussnahme gab, beschränkte sie sich offensichtlich auf die Ebene unbelebter Materie. Denn kein Planet in dem von der Menschheit bislang besuchten Bereich hatte dasselbe Volk hervorgebracht wie sein Ebenbild im bekannten Heimatuniversum.

Wobei auch das nicht stimmte. Die große, unerklärliche Ausnahme bildeten die Topsider. Was wiederum von Anfang an nur zu Konflikten geführt hatte.

Fragen über Fragen.

Bei manchen schien eine Antwort geradezu greifbar nah, bei anderen unendlich weit entfernt.

Ja, überlegte Adams, es lohnte sich, das neue Umfeld der Erde mit offenen Augen, offenem Verstand und offenem Herzen zu erleben. Über wissenschaftliche Fragen zu rätseln, über Entdeckungen zu staunen und sich für Wunder zu begeistern.

Aber im Moment schob er all das beiseite.

Momentan ging es nur um Zeut.

Seltsam, dass er in all den Jahren seit der Ankunft in diesem Zwilling des Solsystems nie die Zeit gefunden hatte, diesem in der Heimat legendären und längst verschwundenen Planeten einen Besuch abzustatten. Oder sie sich nie genommen hatte.

Dieser Zeut wich stark von dem Ebenbild im Heimatuniversum ab – das der Menschheit nur aus Expeditionen durch Zeit und Raum bekannt war, an denen Adams selbst freilich nie teilgenommen hatte. Selbstverständlich kannte er trotzdem die gewonnenen Informationen.

Es gab merkliche Unterschiede, etwa das völlige Fehlen von PEW-Metall, und mehr als das ... aber es ließen sich auch verblüffende Übereinstimmungen feststellen.

»Advisor?«, riss ihn eine Stimme aus den Gedanken, dann: »Advisor! Es ist mir eine Freude und Ehre, dich hier zu sehen!«

Eine Frau kam auf die Neuankömmlinge zu. Sie hatte lange weiße Haare, was ihr auf den ersten Blick etwas Arkonidisches verlieh. Die dunkelblauen Augen sprachen dagegen.

Augen, in denen sich nach Adams' Meinung ein tiefer Schrecken eingenistet hatte, den sie zu verbergen versuchte.

»Willkommen auf Zeut«, fuhr sie fort. »Ich bin Muury, von Haus aus Biologin, aber auch Mädchen für alles in der Station.«

Sie drehte den Kopf zu Tonyor, nickte stumm und wandte sich wieder ab. »Wollt ihr mir folgen?«

»Muury hasst mich«, sagte Tonyor unvermittelt. »Sie war gegen meinen Vorschlag, mit dem Beginn des Städtebaus zu warten, bis die Lebensphase des Planeten vorüber ist.«

»Weil es unnötig verzögert«, sagte Muury.

Tonyor schüttelte den Kopf, und mit einem Mal wirkte er weitaus energischer als zuvor. »Es gibt eine Menge Theorien, aber niemand weiß, wie stark die Lebensphase ausfällt und welche Veränderungen bevorstehen und wo wir ungewollt die natürliche Entwicklung beeinflussen könnten.«

»Hass ist außerdem das falsche Wort«, stellte Muury unbeeindruckt fest. »Ich hasse dich nicht.«

»Wie würdest du es nennen?«, fragte Tonyor.

Sie dachte kurz nach, und ihr Gesicht blieb reglos. Adams nutzte die Gelegenheit, sie zu mustern, und er empfand noch stärker als zuvor, dass sie unter dieser Fassade Angst verbarg. Oder etwas, das einer tief empfundenen Furcht zumindest nahekam.

»Mitleid«, fasste Muury schließlich ihre Überlegungen zusammen. »Wie man es einem Menschen eben entgegenbringt, der sich für klug hält, in Wirklichkeit jedoch ein Narr ist. Und der seine Entscheidungen von Terra aus fällt, statt auch nur ein einziges Mal persönlich nach Zeut zu kommen.«

»Es muss hart für dich gewesen sein, mitzuerleben, wie alle auf den angeblichen Narren hören, aber nicht auf dich. Unterschätz nie die Weisheit des Alters!«

»Niemand hat je behauptet, im Universum ginge es gerecht zu.« Sie räusperte sich. »Ich zumindest nicht. Wie siehst du das, Advisor?«

Homer G. Adams fühlte sich nicht wohl in seiner Haut angesichts dieser offen zur Schau getragenen Feindseligkeit. »Über Gerechtigkeit ließe sich lange philosophieren. Berichte mir lieber davon, wie das Leben sich auf dem Planeten Bahn bricht.« Denn das war der eigentliche Grund seines Besuches. Er wollte es miterleben!

Die elliptische Umlaufbahn um Sol brachte Zeut derzeit in die habitable Zone. Ein Bahnumlauf dauerte in diesem Teil des Dyoversums 277 Jahre und führte vom sonnenfernsten Punkt bei neun Milliarden Kilometern Abstand zum sonnennächsten bei 130 Millionen Kilometern. Allen Erwartungen zufolge und gemäß den Erfahrungen mit dem Ebenbild des Heimatuniversums stand eine kurze Phase bevor, in der die Tier- und Pflanzenwelt erwachte, ehe der Planet auf seiner Bahn wieder in eisige Erstarrung fiel.

»Die Temperaturen steigen, die vorher niedergeschlagene Atmosphäre hat sich schon seit zwei Jahren vollständig gelöst.« Muury legte den Kopf in den Nacken und deutete vielsagend nach oben, während sie in Richtung der Station ging. Ein Eingang in das Hallengebäude lag nicht weit entfernt. »Sie ist für Menschen gut verträglich ... wenn man davon absieht, dass es viel zu kalt ist, um ungeschützt zu überleben. Deshalb wird die Energiekuppel dauerhaft bestehen bleiben müssen.«

»Riecht es dort draußen nach Kupfer?«, fragte Tonyor.

Sie sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Wie kommst du darauf?«

»Gerüchte.«

»Natürlich nicht.« Sie winkte ab. »Jedenfalls zieht sich das ewige Eis teilweise zurück. Ein Meeresbereich von aktuell mehreren Tausend Quadratkilometern liegt bereits frei. Ebenso etliche kleinere Flächen auf den Kontinenten, auch hier ganz in der Nähe.«

Sie erreichten den Eingang. Die Tür öffnete sich automatisch, als sie sich näherten.

»Ich habe eine ...« Adams stockte und vermied es, den Giraffen-Vergleich zu ziehen. »... ein Tier beobachtet.«

»Vier Beine, Pelz, hager, zwei Flügel? Ein Shedant.«

»Stimmt wohl. Woher stammt die Bezeichnung?«

Ein Mädchen rannte auf sie zu, kaum dass sie eintraten. »Mama!« Es umarmte Muury ungestüm.

Homer schätzte die Kleine auf etwa fünf Jahre. Sie war ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten, wenn man davon absah, dass die Haare feuerrot wucherten.

Muury winkte ab. »Ach, nicht wichtig.«

»Woher?«, beharrte Adams, während er dem Mädchen zuwinkte.

Tonyor lachte. »Ja, sag es ihm!«

Muury nickte langsam. »Es leben nur wenige Leute hier in der Forschungsstation. Die Benennung neu entdeckter Spezies liegt in unserer Verantwortung, und wir bevorzugen ... unkonventionelle Methoden. Meine Tochter hat sich das Wort Shedant ausgedacht.« Sie strich dem Mädchen über die Wange.

Adams bückte sich zu ihr. »Du bist offenbar hochbegabt. Weißt du, was das bedeutet?«

»Klar«, piepste die Kleine. »Ich bin doch nicht blöd.«

»Eben.« Adams grinste. »Shedant ist ein tolles Wort. Wahrscheinlich hast du noch nie von dem Volk der Linguiden gehört. Wir hatten vor langer, langer Zeit mit ihnen zu tun. In ihrer Sprache bedeutet Shedant so viel wie Schönheit.«

Das Mädchen strahlte. »Ist ja super!« Dann fragte es: »Mama, darf ich zu Lerlei?«

Muury nickte. »Geh schon!«

Die Kleine rannte davon.

»Du hast gelogen, nicht wahr?«, fragte Muury.

»Das ist eine Unterstellung«, sagte Adams.

»Kennst du die Sprache der Linguiden überhaupt?«

»Teilweise. Was Schönheit heißt, weiß ich zugegebenermaßen jedoch nicht. Aber Shedant wäre ein guter Kandidat dafür.«

»Allerdings gibt es dort draußen nicht nur Schönheit, Advisor.« Unvermittelt wurde sie ernst, und was Adams bislang nur hatte erahnen können, brach nun aus ihr heraus. Die Sorge stand ihr überdeutlich ins Gesicht geschrieben. »Wir befürchten, dass gewaltige Probleme auf uns warten.«

Perry Rhodan 3062: Zeut

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