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Kapitel 2

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Neuruppin im Oktober 1934.

Edgar und Artur hatten die Zeit vergessen. Eigentlich sollten sie schon längst daheim sein.

»Wenn es zu dämmern beginnt, dann macht ihr euch auf den Weg nach Hause. Und geht ja nicht in den Wald, verstanden?«, hatte Edgars Mutter ihrem Fünfjährigen und seinem Freund nachgerufen.

»Jaja!«, hatte die Antwort der beiden gelautet, dann waren sie losgelaufen.

»Nicht so schnell!«, rief Edgar seinem Freund nach, der ein besonderes Ziel zu verfolgen schien. Der Wind trug die Schreie in eine völlig andere Richtung.

Artur stapfte über die Wiese in Richtung der Tannenschonung.

»Nicht so weit weg, hat Mama gesagt!« Bei einem Blick über die Schulter erschrak Edgar. Das letzte Haus der Siedlung war inzwischen ganz klein. Zu klein. Ihm war nicht aufgefallen, dass sie so schnell unterwegs gewesen waren. Jetzt, da er sich der Entfernung bewusst wurde, bekam er Angst. So weit hatte er sich noch nie von zu Hause entfernt. Sollte er umdrehen? Zaghaft blieb er stehen, blickte zurück zur Siedlung, dann nach vorn zu Artur, der munter weiterlief. »Artur?«, rief er gegen die heulende Bö.

»Was ist?«, kam es zurück. »Komm, wir müssen weiter! Ich bin mir sicher, dass er heute da ist und …« Die letzten Worte verschluckte der Wind. Artur verfolgte seinen Weg weiter. Er schien genau zu wissen, wohin er wollte.

Edgar fühlte sich nicht wohl bei dem Gedanken, sich bei diesem Wetter noch weiter von daheim zu entfernen. Aber von wem hatte Artur geredet? Wer sollte heute vielleicht im Wald sein? Vielleicht der Mann, von dem er schon ein paarmal erzählt hatte? Am Anfang habe Artur sich vor dem Fremden mit dem seltsamen Hut erschrocken. Aber bald schon habe er festgestellt, dass der es gut mit ihm meinte, und sich mit ihm angefreundet.

Getrieben von kindlicher Neugierde beschleunigte Edgar sein Tempo und kämpfte sich gegen den Wind zu seinem Freund vor.

Ein wenig mutiger stapfte Edgar durch die sumpfige Wiese, die seine Schuhe bei jedem Schritt festzuhalten suchte, um sie anschließend mit einem schmatzenden Geräusch wieder freizugeben. Je näher sie dem Wald kamen, desto schwächer pfiff ihnen der Wind um die Ohren.

»Wohnt der alte Mann hier im Wald?«, fragte Edgar seinen Freund. Inzwischen waren sie so tief in den Wald vorgedrungen, dass er allein unmöglich wieder herausfände. Warum hatte er sich auch überreden lassen? Weil er mutig sein und sich von dem vierjährigen Artur nicht auslachen lassen wollte.

»Nein, der wohnt nicht hier, glaube ich. Obwohl er schon ab und zu hier schläft, hat er erzählt. Aber nur, wenn es nicht zu kalt ist.«

»Und wo wohnt er sonst?«

»Pfff, was weiß denn ich!«, erwiderte Artur genervt.

»Wie weit denn noch? Mir tun die Füße weh!«, jammerte Edgar.

»Dann dreh doch um und geh heim zu deiner Mama. Die wartet eh schon auf dich. Hast vergessen, dass du bei der Dämmerung heimsollst?«

Edgar blickte hoch zum Himmel. Tatsächlich, es dämmerte bereits. Am liebsten hätte er losgeheult und sich schluchzend auf den Boden geworfen.

»Komm, drehen wir um! Deine Eltern werden sonst sicher sauer!«

»Pah, meine Eltern.« Artur schüttelte nur den Kopf und stapfte weiter.

»Ich dreh um!«, sagte Edgar entschlossen und blieb stehen. Er hatte es satt, seinem Freund hinterherzulaufen. Die Angst vor der Dunkelheit hatte die Angst, sich zu verlaufen, völlig verdrängt. Panik stieg in dem kleinen Edgar auf und Zorn, dass er sich zu diesem Abenteuer hatte überreden lassen.

»Dann geh!« Artur zuckte gleichgültig mit den Schultern.

»Wir gehen zusammen!«, bestimmte Edgar, doch Artur beachtete ihn gar nicht.

»Ich will heim!«, schrie Edgar und scheuchte damit einige Vögel aus den Bäumen. »Jetzt! Sofort!« Er wurde noch lauter.

»Scht! Ihr verschreckt ja die Waldelfen!«, brummte jemand mit dunkler Stimme.

Edgar begann, am ganzen Leib zu zittern und wagte es nicht, sich umzudrehen.

»Onkel Tick-Tack!«, rief Artur erfreut und lief auf den Fremden zu.

»Ja, der Onkel Tick-Tack. Komm her, du kleiner Lauser!«, begrüßte Adolf Seefeldt den Jungen und drückte ihn an sich. »Wen hast du denn da mitgebracht? Einen Freund, was?«

Artur nickte. »Das ist der Edgar. Der macht sich in die Hosen, weil es finster wird.«

»Da hat er schon recht, der Edgar. Es ist viel zu spät für euch beide. Zeit, dass ihr euch auf den Heimweg macht.«

Edgar war erstarrt vor Angst. Der Mann war riesengroß und seine unheimliche Stimme kroch in Edgars Ohren wie eine hinterlistige Schlange.

»Hab keine Angst, Edgar, ich bring euch sicher nach Hause. Kommt!« Seefeldt winkte ihnen und ging voran.

Na ja, vielleicht hatte Edgar sich doch geirrt und der Fremde war gar nicht so schlimm. Seine Stimmung stieg ein wenig, als er sich hinter Onkel Tick-Tack auf den Heimweg machte.

Die drei wanderten durch den Wald, als gehörten sie schon immer zusammen. Artur spazierte Hand in Hand mit Seefeldt und plauderte in einem fort mit ihm. Edgar ging ein paar Schritte hinter ihnen und hatte Mühe, Schritt zu halten. Mutter hatte ihm verboten, mit Fremden zu sprechen, und nun wanderte er sogar mit einem durch den Wald. Ahnungslos und hoffnungsvoll. Einfach nur heim zur Mutter, das war sein inniger Wunsch.

Die Baumwipfel über ihm zeichneten sich kaum noch vom düsteren Himmel ab, verbanden sich mit ihm in hinterlistiger Schwärze, als wollten sie gemeinsam der Furcht des kleinen Edgar lauschen. Edgar wünschte sich, so unbeschwert wie sein Freund zu sein.

Nie im Leben hätte Artur vermutet, dass Onkel Tick-Tack ihnen böse gesonnen sein könnte. Im Gegenteil, Onkel Tick-Tack hatte ihn getröstet, wenn die Eltern keine Zeit hatten, ihn hochgehoben, wenn er gestolpert war, und ihn mit unglaublichen Geschichten unterhalten, um ihn von seiner Einsamkeit abzulenken. Seefeldt schien zu verstehen, wie es sich anfühlte, wenn man daheim niemanden hatte, auf den man sich verlassen konnte. Wenn man sich unerwünscht fühlte und überflüssig.

Natürlich war es in der Dunkelheit nicht einfach, sich zu orientieren, trotzdem hatte Edgar mehr als einmal das Gefühl, dass sie schon längst am Waldrand hätten sein müssen. Waren er und Artur wirklich so lange und so tief in die Schonung eingedrungen?

»Es ist nicht mehr weit, bald sind wir da«, sprach Seefeldt beruhigend auf die Buben ein, deren Schritte immer träger und langsamer wurden.

»Ich bin so müde!«, wimmerte Artur.

Das hast du nun davon, dachte Edgar bei sich. Hättest du auf mich gehört, lägen wir längst in unseren Betten. Edgar wurde ganz klamm ums Herz bei dem Gedanken an die Mama. Bestimmt war sie krank vor Sorge. Wie sehr wünschte er sich ihre Nähe herbei. Ihren zarten Duft nach Flieder, die weichen Hände, die sanfte Stimme, die liebevolle Umarmung und den zärtlichen Gutenachtkuss auf die Stirn. So sehr er auch dagegen ankämpfte, aber bei dem Gedanken an die Mutter verlor er den letzten Rest an Kraft und begann zu weinen. Erst nur leise, kaum hörbar. Tränen flossen über die kalten Wangen, dann schmerzte der Hals und er konnte sein Schluchzen nicht länger zurückhalten. »Mama!«

»Pscht! Ist ja gut, wir sind gleich da«, beschwichtigte Seefeldt. »Siehst du da hinten? Da ist der Wald zu Ende. Wenn du genau hinschaust, siehst du das silberne Mondlicht auf der Wiese. Siehst du?« Seefeldt bückte sich zu Edgar und zeigte mit einer Hand in die Dunkelheit.

So sehr Edgar seine Augen auch mühte, er konnte keinen silbernen Schein erkennen.

Sie waren nicht gleich da. Seefeldt trieb die beiden mit leeren Versprechungen immer weiter voran. Als ihre Kräfte sie endgültig verließen, schulterte er die zwei und trug sie weiter in den Wald, wo keine Menschenseele sie jemals stören würde.

Edgar wimmerte und schluchzte. Keine sanften Worte von Seefeldt konnten ihn mehr beruhigen. »Ich will heim zu Mama!«, rief er in die Nacht hinein. »Mama, wo bist du?«

Seefeldt ignorierte mit aller Kraft, dass ihm die Verzweiflung der Kinder ans Herz ging. Er versuchte, beschwichtigend auf sie einzuwirken: »Gleich!« oder »Alles wird gut!«

Die beiden Freunde schienen zu fühlen, dass nichts gut würde, und ließen ihre Schreie immer lauter durch den Wald hallen. Freilich wusste Seefeldt, dass sie hier draußen niemand hören konnte, aber er selbst würde den kreischenden Lärm nicht länger aushalten. Sollte er sie bewusstlos schlagen? Ihnen den Mund knebeln?

Vielleicht sollte er es aber einfach gut sein lassen. Der Ort hier war angemessen, weiter brauchte er nicht zu gehen. So klein die Buben waren, mit der Zeit fühlten sie sich wie zwei schwere Säcke Mehl an. Dann auch noch ihr ständiges Zappeln. Zwei waren einfach zu viel, dachte Seefeldt und stöhnte laut auf. Da war es nur ein schwacher Trost, dass er heute in sein Notizbuch zwei Markierungen machen durfte.

»So, dann wollen wir mal«, sagte er ächzend und lud die beiden vorsichtig auf dem Erdboden ab.

»Sind wir da? Ich kann unser Haus nicht sehen.« Edgar rieb sich die Augen und wurde von Schluchzern gebeutelt.

»Wir sind fast da. Aber ich brauche eine kleine Stärkung. Ihr habt doch sicher auch Durst, oder?« Seefeldt kramte in seiner Manteltasche und erfreute sich an dem vertrauten Klimpern seiner Fläschchen. »Komm, Edgar, nimm einen kräftigen Schluck«, redete er dem Jungen zu und drückte ihm das Gefäß mit seiner selbst gebrauten Giftmischung in die Hand. »Na, na, lass deinem Freund auch noch was. So, jetzt setzt euch hier hin und lasst mich eine Weile verschnaufen.«

»Ist es noch weit?«, fragte Edgar träge.

»Nein, Edgar, es ist nicht mehr weit, das meiste haben wir schon hinter uns.« Seefeldt setzte sich neben die Kinder und sah in ihre Gesichter.

Es dauerte nie lange, bis die Wirkung einsetzte. Schon nach wenigen Minuten wurden die Augen schwer und der Körper bleiern.

»Ich bin so müde«, hauchte Artur.

»Ich auch«, gähnte Edgar.

»Dann legt euch eine Weile nieder und schlaft. Ich pass schon auf euch auf!« Seefeldt verstaute die Fläschchen wieder in seiner Manteltasche. Für das nächste Mal.

Artur und Edgar drängten sich aneinander, um sich gegen die Kälte zu schützen. Das Getränk aus dem braunen Fläschchen tat langsam seine Wirkung. Edgars Anspannung und seine Angst verflogen. Da war nur noch eine angenehme Wärme, die sich in seinen Gedanken und Körperteilen ausbreitete. Es fühlte sich so an wie daheim bei Mama, wenn er sich an sie kuschelte und ihren Atem im Nacken fühlte. Und dann war da diese alles betäubende Müdigkeit, gegen die er sich nicht zur Wehr setzen wollte. Ein kurzer Schlaf würde nicht schaden, nur ein klein wenig. Und wenn er wieder aufwachte, wäre es vielleicht schon hell und Onkel Tick-Tack könnte sie ganz rasch heimbringen. Nur ganz kurz die Augen schließen, dachte er noch, dann glitt er hinüber in einen Schlaf, aus dem er nie wieder erwachen sollte. Mama würde umsonst auf ihren Jungen warten – er und Artur waren bei Onkel Tick-Tack.

Der Sandmann

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