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Kapitel 3

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Rathenow im Mai 1932.

»Halt, warten Sie! Bitte, bleiben Sie stehen!«

Seefeldt erschrak, gehorchte und drehte sich um. Ein Junge kam auf ihn zugerannt, fuchtelte mit beiden Händen in der Luft herum, war außer Atem und schien völlig aufgebracht. Ein Blick nach links und nach rechts sagte Seefeldt, dass weit und breit niemand sonst in der Nähe war, nur er und der Junge. In weiter Entfernung sah er eine kleine Siedlung, ansonsten nur Wiesen und in der Nähe ein Kiefernwäldchen.

Aber natürlich warte ich auf dich.

Ein Griff in die Manteltasche. Das Klimpern der Fläschchen. Das wohlige Gefühl, das sich stets in ihm ausbreitete, wenn ein Knabe seinen Weg kreuzte.

»Warten Sie!«, keuchte der Junge, obwohl Seefeldt sich nach dem ersten Ruf nicht von der Stelle bewegt hatte.

Ein wenig enttäuscht war er, als er erkennen konnte, dass der Knabe das Alter von zehn Jahren überschritten haben musste. Er schätzte ihn auf zwölf oder gar älter. Automatisch senkten sich seine Mundwinkel sowie sein vor Erregung rasender Puls. Bedauernd löste er den Griff um die braunen Fläschchen und wartete.

»Bitte bleiben Sie stehen!«, keuchte der Junge noch einmal.

»Aber ich stehe doch«, erwiderte Seefeldt lachend. Na ja, vielleicht hatte er seine freudige Erwartung zu früh im Keim erstickt. Der Junge war zwar älter, als ihm lieb war, aber manchmal musste man flexibel sein und sich von alten Gewohnheiten verabschieden. »Beruhige dich doch erst einmal! Was ist denn passiert?«

»Ich … da hinten …« Er zeigte mit einer Hand hinter sich. »Mein Hund ist mir davongelaufen!«, fuhr er aufgeregt fort.

»Dein Hund?« Seefeldt zog verwundert die Augenbrauen hoch.

»Bitte, haben Sie ihn gesehen?«

Seefeldt schüttelte den Kopf.

»Sie müssen mir bei der Suche helfen!«, flehte der Junge.

Seefeldt lachte innerlich auf. War das nicht normalerweise seine Masche? Die Kinder zu fragen, ob sie ihm bei der Suche nach irgendetwas helfen könnten? Nun gut, dieser Fall war anscheinend anders. Seefeldt wurde neugierig und betrachtete den verschwitzten Jungen genauer. Seine braunen Locken klebten an den Schläfen. Die Wangen waren stark gerötet von der Anstrengung, die Haut braun gebrannt. Wahrscheinlich war er viel mit seinem Hund hier draußen.

Seefeldt starrte in die stechend grünen Augen seines Gegenübers. Etwas an diesem Blick zog ihn in seinen Bann, wirkte wie ein Sog. »Also, was genau ist denn passiert?«, fragte Seefeldt.

»Ich war mit meinem Hund draußen im Wald. Plötzlich hat Benno Wild gewittert und sich losgerissen. Dann ist er davon. Ich hab nach ihm geschrien, aber er war einfach weg.«

»Ganz ruhig. Wie heißt du denn?«

»Ich bin der Ludwig Gerauer und mein Vater bringt mich um, wenn ich ohne seinen Benno heimkomme. Benno ist der beste Jagdhund, den er je hatte. Und jetzt das …« Ludwig wischte sich ein paar Tränen aus den Augenwinkeln.

»Gar nichts wird dir dein Vater tun, das versprech ich dir. Wir werden den Benno schon finden. Wo hast du ihn denn zum letzten Mal gesehen?«

Ludwig ging voran, Seefeldt hinterher. Die beiden schwiegen während ihrer Suche, nur manchmal schrie Ludwig ein verzweifeltes »Benno, hier!« in den Wald.

»So wird das nichts«, meinte Seefeldt, nachdem sie gemeinsam mindestens zwei Stunden quer durch das Wäldchen und über Wiesen gelaufen waren.

»Aber ich muss Benno finden. Verstehen Sie, ich muss!«, wimmerte Ludwig und hatte sofort wieder Tränen in den Augen.

»Komm, machen wir erst einmal eine kurze Rast. Mir tun schon die Beine weh. Ja, komm, setz dich zu mir.« Seefeldt setzte sich und klopfte neben sich auf den Waldboden, während er in seiner Manteltasche nach den Flaschen kramte und sie hervorholte. »Du hast doch sicher Durst, oder?« Seefeldt reichte dem Jungen das eine Fläschchen.

»Da ist aber nicht viel drin, was?«, stellte Ludwig fest.

»Besser als gar nichts«, erwiderte Seefeldt trocken und genehmigte sich einen Schluck aus dem anderen Fläschchen.

Ludwig hielt sich krampfhaft an seinem fest und blickte suchend um sich. »Wenn ich ohne den Hund heimkomm, dann schlägt mich Vater windelweich!«

»Dein Vater wird dir nichts tun, das verspreche ich dir.«

»Aber wie? Wie wollen Sie mir das versprechen? Der Vater schlägt mich bei jeder Gelegenheit. Wenn er besoffen heimkommt, ist es am schlimmsten.« Ludwig versteckte sein weinerliches Gesicht hinter seiner Hand und schluchzte laut auf.

Am liebsten hätte Seefeldt ihm gesagt, dass er wisse, wie er sich fühle. Dass seine Kindheit nicht anders war. Dass sein Rücken vernarbt war von erbarmungslosen Hieben mit dem Gürtel. Dass er heute noch schweißgebadet aus Albträumen hochschreckte und noch immer das laute Gebrüll zu hören glaubte. Nein, das würde dem Jungen nichts helfen.

Und trotzdem geschah an diesem Tag im Wald etwas mit Seefeldt, mit dem er nicht gerechnet hatte: Er empfand Mitleid. Mitleid für ein Kind, dem die gleiche Ungerechtigkeit widerfuhr, wie sie ihm widerfahren war. Plötzlich fühlte er wieder dieses beklemmende Gefühl der Hoffnungslosigkeit in seinem Brustkorb pochen. Dieses Gefühl, dass niemand ihm helfen und das Leben für immer so trostlos bleiben würde. Gerne hätte er seinen Arm ausgestreckt und ihn um Ludwigs Schultern gelegt, die unter seinen Schluchzern bebten. Gerne hätte er ihm gesagt, dass es irgendwann besser würde, aber das wäre eine Lüge gewesen.

»Komm, gib mir deine Flasche«, murmelte Seefeldt ergriffen vom Leid des Kindes und den Emotionen, die den seinen so sehr glichen. Er nahm ihm die Flasche ab, ohne dass Ludwig daraus getrunken hatte, und verstaute sie wieder in seiner Manteltasche.

»Komm, wir gehen weiter!«, forderte Seefeldt den Knaben auf.

»Das hat doch alles keinen Sinn«, schluchzte der und schaute ihn groß mit seinen rot unterlaufenen Augen an. »Ich muss es dem Vater beichten und die Prügel dafür einstecken.«

»Nein, das wirst du nicht!«, erwiderte Seefeldt lauter als geplant. »Ich habe dir versprochen, dass dir nichts geschehen wird, und so soll es sein.« Seefeldt grübelte, wie er sein unüberlegt gegebenes Versprechen halten könnte. »Du bleibst vorerst bei mir.«

»Wie, bei Ihnen bleiben? Ich kann doch nicht von zu Hause wegbleiben. Wie soll denn das gehen?« Ludwig stand auf und schaute auf den alten Mann hinab.

»Wieso soll das nicht gehen? Und wieso sollte es in Ordnung sein, wenn dein Vater dich verprügelt?«, fragte Seefeldt.

Ludwig grübelte.

»Natürlich kannst du auch heimgehen, wenn dir das sinnvoller erscheint. Aber bei mir wärst du in Sicherheit. Wir machen es uns schön, wir zwei«, sagte Seefeldt und meinte es so. Er konnte sich vorstellen, mit diesem Jungen durch die Wälder zu ziehen, von Ort zu Ort zu wandern. Nebenher könnte er ihn in der Uhrmacherei ausbilden, dann hätte er einen tatkräftigen Helfer an seiner Seite. Ihm ging das Herz auf bei dem Gedanken an ein geselliges Leben mit Ludwig. Mit ihm würde er sich verstehen, das fühlte er. Und für ihn würde er auf die anderen Kinder verzichten. Die würde er dann nicht mehr brauchen. Wie von selbst erhellte sich sein Gesichtsausdruck. So sehr er die Einsamkeit stets gesucht hatte, in diesem Moment konnte er sich nichts Schöneres vorstellen als ein Leben an Ludwigs Seite. »Was meinst du?«, fragte er.

»Wo wohnst du denn eigentlich?«, fragte Ludwig neugierig.

»Hier«, antwortete Seefeldt und deutete mit einer großzügigen Armbewegung auf den Wald um sich herum. »Ich wohne hier und da, bin immer unterwegs. Jeder kennt mich und doch weiß niemand, wer ich bin. Ich bin immer auf Reisen und meine Habe trage ich auf meinem Rücken. Ich bin mein eigener Herr und habe niemanden, der mir Befehle gibt … oder mich schlägt«, fügte Seefeldt leise hinzu.

Ludwigs Augen weiteten sich, und Seefeldt wünschte sich, die Gedanken des Jungen lesen zu können. Ludwig blickte noch einmal in alle Richtungen und hielt vermutlich ein letztes Mal nach Benno Ausschau. Dann wandte er sich wieder zu Seefeldt und beantwortete seine fragenden Blicke mit einem wortlosen Nicken.

Seefeldt war es, als ginge sein Herz über vor Freude. Unvorstellbar, dass er von nun an nicht mehr allein sein würde! Ein breites Grinsen überzog sein faltiges Gesicht und ließ ihn um Jahre jünger erscheinen. Das war ein guter Tag – der beste!

Beinahe ohne Schmerzen in den Gliedern stand er auf, schulterte den Rucksack, richtete den Hut und spazierte leichten Fußes zurück zur Wiese. Neben ihm Ludwig, noch unsicher über die Richtigkeit seiner Entscheidung. Seefeldt pfiff ein fröhliches Lied, während er mit einer Hand in der Manteltasche kramte und mit den beiden braunen Fläschchen spielte. Die würde er nun nicht mehr brauchen. Zumindest vorerst nicht.

Die Tage mit Ludwig vergingen für Seefeldt wie im Fluge. Nie im Leben hätte er es für möglich gehalten, dass er das Zusammensein mit einem anderen Menschen, einem Jungen, einem lebendigen Jungen, so sehr genießen könnte.

Ludwig brauchte ein paar Tage, um sich an die neuen Lebensumstände zu gewöhnen. Anfangs vermisste er seine Mutter, die Geschwister und sogar den Vater. Seefeldt hatte jedes Mal ein Ohr für seine Sorgen, nahm sich Zeit für ihn und seinen Kummer. Wenn Ludwig sich abends ganz nah zu ihm setzte und leise weinte, dann stieg in Seefeldt ein seltsam warmes Gefühl hoch. Er legte seinen Arm um die schmalen Schultern und drückte ihn fest an sich. Und nein, er fühlte dabei keine Erregung – das war es, was Seefeldt am meisten irritierte. Er brauchte die Nähe des Kindes ebenso, wie Ludwig seine nötig hatte.

Sie hatten innerhalb von ein paar Tagen die Wälder um Rathenow hinter sich gelassen und sich so weit wie möglich von Ludwigs Heimat entfernt. Das war Seefeldts Idee gewesen, er wollte sichergehen, dass Ludwig keine Möglichkeit mehr hatte, zurückzukehren. Er wollte ihn für sich haben. Für immer. Sein Gemüt erhellte sich bei Ludwigs Anblick, wie er eng an ihn gekuschelt schlief, voll Vertrauen, ohne auch nur auf den Gedanken zu kommen, dass Seefeldt kein guter Mensch sein könnte. Immer wieder ging der eine Gedanke durch Seefeldts Kopf: Vielleicht macht er mich zu einem anderen Menschen – einem besseren.

Tagsüber zogen sie durch die Dörfer und reparierten Uhren. Seefeldt erkannte schnell Ludwigs Geschicklichkeit im Umgang mit dem feinen Werkzeug. Abends versorgten sie sich mit Lebensmitteln und kehrten zurück in die umliegenden Wälder.

Ludwig genoss die neu gewonnene Freiheit an der Seite des alten Mannes, und Seefeldt fühlte sich innerhalb kürzester Zeit um Jahre verjüngt. Ludwig war sein Lebenselixier, das seinen Elan von Neuem erblühen ließ. Mehr noch, Seefeldt hatte sich noch nie so lebendig gefühlt. Er war neugierig auf die Welt, die durch Ludwigs Augen völlig anders aussah als durch seine.

»Kann ich für immer bei dir bleiben?«, fragte Ludwig eines Tages überraschend, als sie über eine sonnenbeschienene Wiese spazierten.

Seefeldt blickte tief in die inzwischen vertrauten Augen und fühlte, wie ihm sein Herz aufging. Hatte er richtig gehört? Ludwig wollte bei ihm bleiben? Konnte es sein, dass es einen Menschen gab, der für ihn bestimmt war, der ihn mochte, genauso wie er war? Einen Menschen, der ihn brauchte und sein Leben an seiner Seite verbringen wollte?

Während Ludwig auf eine Antwort wartete, sammelten sich Tränen in Seefeldts Augen. Stets hatte er geglaubt, dass er ein Einzelgänger sei, ein Außenseiter, ein Griesgram, dem man lieber aus dem Weg ging. Doch dieser Junge hatte ihm nach ein paar gemeinsamen Wochen das Gegenteil bewiesen. Nicht er war der Außenseiter, der Griesgram – er hatte einfach noch nicht den richtigen Menschen gefunden. Den Menschen, der für ihn bestimmt war und der zu ihm gehörte wie der Schnee zum Winter und der Sonnenschein zum Frühling. Ludwig war ein Feld voller Sonnenblumen in seinem Sommer.

»Natürlich bleibst du bei mir!«, antwortete er unter Tränen.

Ludwig hielt Seefeldt mit seinem Hilfe suchenden Blick gefangen, während sie langsamen Schrittes weiterstapften. »So schön wie bei dir, war es nämlich noch nie«, fuhr er leise fort und senkte seinen Blick beschämt zu Boden.

»Ich weiß, mein Junge, so schön war es noch nie.« Seefeldt blickte wieder geradeaus und ließ diesen Moment einfach auf sich wirken.

»Wo kommt denn der Bub auf einmal her? Ist das Ihrer?«, fragte Frau Krauzer eine Spur zu neugierig.

Seefeldt fühlte eine beklemmende Wut in sich aufsteigen. Warum mussten manche Menschen stets ihre Nasen in fremde Angelegenheiten stecken? Waren ihnen ihre Sorgen und Freuden nicht genug? Woher kam diese derartig unnötige und unangebrachte Neugierde? Seefeldt selbst scherte sich einen Dreck um andere – nun ja, bis auf Ludwig, um den sorgte er sich von ganzem Herzen. Aber er käme nie und nimmer auf die Idee, in anderer Leute Leben zu schnüffeln.

Trotzdem hieß es an dieser Stelle, Ruhe zu bewahren. Was sollte die alte Krauzer schon wissen? Wenn er und Ludwig aus ihrem Haus verschwunden waren, wären sie vergessen. Sofort würde sie sich wieder mit dem Gucker ans Fenster setzen, um hinter vorgezogenen Gardinen die Nachbarn auszuspionieren.

»Das ist der Ludwig, der begleitet mich für eine Weile. Er will das Uhrmacherhandwerk erlernen«, erklärte Seefeldt, ohne von seiner Arbeit aufzusehen. Ludwig saß während der ganzen Zeit neben ihm und schaute ihm mit großem Interesse auf die Finger.

»Soso, Uhrmacher will er werden«, erwiderte die Krauzer misstrauisch und warf einen genaueren Blick auf den Jungen. »Ist er dafür nicht zu jung?«

Seefeldt starrte sie entrüstet an und fühlte sich ertappt.

»So ein Bub gehört doch zu seinen Eltern und nicht zu einem heimatlosen Vagabunden. Seien Sie mir nicht böse, Seefeldt, aber das ist nun mal meine Meinung!«

Seefeldt fühlte, wie der Zorn sich durch sein Innerstes nach außen zu boxen suchte, wie seine Finger zitterten und sein Herz raste. Kurz schloss er die Augen und atmete tief ein und aus. Ganz ruhig, Adolf, gleich bist du fertig und kannst hier raus. Bleib ruhig, weck bloß keinen Verdacht!

Ein Blick hinüber zu Ludwig genügte, um sein Gemüt zu besänftigen. Sollte die dumme Alte reden, was und über wen sie wollte. Niemand schenkte ihr Glauben, egal welche Geschichten sie erzählte. Sie war eine einsame Frau und siechte in ihrer Trostlosigkeit dahin. So wie ich bis vor Kurzem, dachte Seefeldt und schenkte Ludwig ein aufmunterndes Lächeln.

In Zukunft würde der Junge einfach im Wald bleiben, während Seefeldt seiner Arbeit nachging – nur zur Sicherheit. Niemand durfte ihm Ludwig wegnehmen, dafür würde er sorgen. Der Junge war sein Sonnenschein, sein Lachen, seine Freude. Er wollte nicht mehr zurückdenken an die schwammig grauen Tage, an denen er allein durch die Wälder gezogen war. Das hier fühlte sich so viel besser an.

Am liebsten hätte er nach Ludwigs Hand gegriffen und sie fest gedrückt. Das laute Räuspern der alten Krauzer riss ihn allerdings aus seinen Tagträumen und erinnerte ihn daran, dass er so schnell wie möglich hier rauswollte. Die volle Kiste auf dem Tisch sagte ihm jedoch, dass er noch ein paar Stunden verweilen würde.

Nach getaner Arbeit zog sich Seefeldt gemeinsam mit Ludwig in den Wald zurück.

Zwei Wochen später und einige Kilometer von der Krauzer entfernt fühlte er sich wieder in Sicherheit – so sehr, dass er Ludwig wieder mitnahm zu seinen Erledigungen.

Er ahnte seinen Fehler noch nicht. Frau Krauzer war noch am selben Tag zur Polizei gegangen.

»Herr Adolf Seefeldt? Sofort stehen bleiben!«

Seefeldt gehorchte. Er brauchte sich nicht umzudrehen, um sich zu vergewissern, wer nach ihm gerufen hatte. Er kannte diese Stimmen, sie klangen immer gleich, egal wo, egal wann oder von wem. Der Befehl eines Polizisten hatte immer denselben Beigeschmack nach Erbrochenem und verursachte ihm jedes Mal aufs Neue Schüttelfrost.

Sie können mir nichts, gar nichts.

Seefeldt drehte sich nicht um, stand einfach nur da, starrte nach vorn auf die menschenleere Straße und genoss so intensiv wie möglich die letzten Augenblicke in Freiheit. Und die letzten Augenblicke mit Ludwig.

»Seefeldt, drehen Sie sich um«, forderte der Polizist barsch.

Meine Güte, wie sehr würde er die Zeit mit Ludwig vermissen. Wehmütig blickte er zu dem Jungen, der dicht an ihn gedrängt stand und zitterte.

»Beruhig dich, Bub«, flüsterte Seefeldt ihm zu. »Die können uns gar nichts. Wir sind nur zwei Freunde, die gemeinsam durch die Gegend streifen. Und wenn du ihnen genau das erzählst, dann kann uns nichts passieren. Wir sind nur Freunde, verstehst du? Nur Freunde! Alles andere musst du für dich behalten, weißt, was ich meine?«

Ludwig nickte kaum wahrnehmbar, presste die Lippen aufeinander und schluckte hart. Er wusste, was Seefeldt meinte. Ja, er wusste es nur zu gut.

Es waren nur wenige Tage und Nächte vergangen, da hatte sich das Verhalten des alten Mannes verändert. Anfangs war er eher distanziert gewesen, hatte Ludwig Zeit gelassen, um Vertrauen zu fassen. Dann, eines Tages, nachdem Seefeldt ihm einige seine geheimen Verstecke für Konservendosen gezeigt hatte, saßen sie an einer Lichtung beisammen und löffelten am Lagerfeuer Gulasch aus der Dose. Seefeldt hatte ihm erzählt, dass er in seinen Wäldern so viele Konserven gehortet hätte, dass er monatelang überleben könne, ohne einen Schritt in die Zivilisation tun zu müssen. Ludwig fand das Leben von Seefeldt imposant und erstrebenswert.

Als er ihm anvertraute, dass er sich bei ihm wohlfühle, rückte Seefeldt plötzlich näher an ihn heran. »Ich fühl mich auch wohl, wenn du bei mir bist«, hatte er geantwortet und den Arm um seine schmalen Schultern gelegt. »Ich mag dich«, fuhr er fort, »und ich will, dass es dir gut geht. Willst du auch, dass es dir gut geht?«

Ludwig wusste nicht so recht, was der Alte meinte, und antwortete mit einem zaghaften Kopfnicken.

»Dann darf ich dir also etwas Gutes tun?«, fragte Seefeldt noch einmal mit einer Stimme, die so süß klang wie ein warmer Sonnenuntergang.

Ludwig mochte den Alten und sah keinen Grund, diese Frage zu verneinen.

»Gut«, fuhr Seefeldt fort, legte seinen Hut beiseite und seinen Mantel ab. »Dann mach einfach die Augen zu und lehn dich zurück an den Baumstamm. Na, mach schon, es wird dir gefallen!«

Ludwig tat, wie ihm geheißen, und hoffte insgeheim auf eine Überraschung. Ein Geschenk, vielleicht eine der kostbaren Uhren.

Aber es war keine Uhr, die Seefeldt ihm überreichen wollte. Ludwig zuckte zurück, als er die Hände von Seefeldt an seinem Hals fühlte.

»Pscht! Ich tu dir nichts Böses. Es wird dir gefallen, wirst sehen.«

»Seefeldt! Umdrehen!«, rief die kratzige Stimme des Polizisten erneut.

Ludwig nickte Seefeldt zu. »Nur Freunde«, versicherte Ludwig blass.

»Seefeldt, Sie kommen mit uns mit! Und du auch!«, sagte der Beamte mit einem Blick auf den Jungen. »Bist du der Ludwig Gerauer?«

Der Junge nickte und begann zu zittern. Er wollte nicht zurück zu seinen Eltern. Er würde dort nicht überleben, das wusste er. Der alte Seefeldt war vielleicht komisch und machte Sachen mit ihm, die sich unangenehm anfühlten, aber er tat ihm nicht weh. Er schrie ihn nicht an und ließ ihn nicht hungern. Bei ihrem letzten Aufenthalt in Potsdam hatten sie gemeinsam so viele Uhren repariert, dass Seefeldt ihm von dem verdienten Geld sogar Schuhe gekauft hatte. Noch nie im Leben war jemand so gut zu ihm gewesen wie dieser Uhrmacher. Wenn sie ihn ihm wegnähmen, wäre das sein Tod, das wusste Ludwig und begann, leise Tränen zu weinen. Er weinte um die Zeit im Wald, um die Gespräche mit Seefeldt, um die gemütlichen Abende am Lagerfeuer und vor allem weinte er um sein Leben.

Seefeldt konnte Ludwig die Verzweiflung in seinem Gesicht ablesen. Warum war er auch so leichtsinnig gewesen und hatte den Jungen wieder mitgenommen? Hätte er ihn im Wald gelassen, dann wäre alles gut gewesen. Die alte Krauzer war Schuld, die hatte ihn verpfiffen. Wenn er je wieder zu ihr käme, dann würde er ihr teures Porzellan auf ihrem Kopf zerschellen lassen.

Seefeldt war so wütend. Schließlich musste er wieder ins Gefängnis. Und das, obwohl er die Rettung für diesen Jungen bedeutet hatte. Gut hatte er es gemeint mit dem Ludwig. Sie waren Freunde geworden und wollten in Ruhe gelassen werden.

Der Kloß in seinem Hals schwoll an und Seefeldt war den Tränen nahe. Nun würde man sie trennen. Für immer. Er brauchte Ludwig, wollte in seiner Nähe sein, seine Haut spüren und seinen kindlichen Duft inhalieren. Sollten sie doch seinen Vater einsperren, der war es schließlich, der Ludwig die Striemen am Rücken zugefügt hatte.

Aber Seefeldt wusste es besser. Sie würden ihn hinter Gitter bringen und er würde Ludwig nie wiedersehen. Er würde ihn vermissen, er vermisste ihn jetzt schon. Das herzhafte Lachen, die vertrauten Gespräche, die liebevollen Blicke. Nie wieder würde er sich einem Menschen so nahe fühlen wie diesem Jungen.

Vielleicht konnte man mit dem Richter reden. Vielleicht würde ihm endlich einer zuhören und ihn verstehen.

Seefeldt fühlte den harten Griff des Polizisten, der ihn an den Handgelenken packte und versuchte, ihm die Handschellen anzulegen.

Seefeldt wehrte sich, ließ es nicht zu, befreite sich aus dem unbarmherzigen Griff und begann zu schreien. »Lass mich los! Ich hab nichts getan!«

»Das sehen die Eltern des Jungen anders«, war die kühle Antwort.

Sofort packten vier Hände nach seinen Armen und fixierten ihn mit kaltem Metall, das sich um seine Handgelenke legte.

»Ludwig, sag ihnen, dass ich dir nichts getan habe!«, flehte er den Jungen an, der ihm weinend nachtrottete.

»Dass ich nicht lache, Seefeldt, der Bub gilt als vermisst. Erst entführst du ihn und dann schleppst du ihn von Ort zu Ort. Das war nicht sehr klug, oder?«

Seefeldt senkte den Kopf. Der Polizist hatte recht, er war unvorsichtig gewesen. Das würde ihm nie wieder passieren. Nie wieder! Genauso, wie er nie wieder seinem Ludwig begegnen würde.

Mit einem Mal wich jede Farbe aus seinem Leben, alles fühlte sich wieder schwammig grau an. Grau und einsam. Aber vielleicht war es auch gut so.

Er würde wieder hinter Gitter wandern. Dieses Mal vermutlich für eine längere Zeit. Aber was waren schon ein paar Jahre, versuchte Seefeldt, sich Mut zu machen. Er würde sie überdauern. Irgendwie. Und sobald er wieder in Freiheit wäre, würde er seine braunen Fläschchen, die er in den letzten Wochen ganz unten in seinem Rucksack verstaut hatte, wieder in seiner Manteltasche platzieren. Dann würde er wieder damit klimpern. Er konnte es kaum erwarten, das kühle Glas in seinen Händen zu fühlen. Das war sein Leben. Er war nicht gemacht für lange Bekanntschaften. Er war ein Einzelgänger und so würde es auch bleiben.

Hinter ihm wimmerte Ludwig. Für ihn konnte er nichts mehr tun. Seefeldt schluckte seinen Kummer hinunter und redete sich ein, dass es ihm egal wäre, was Herr Gerauer mit seinem Sohn machen würde, wenn dieser erst zu Hause wäre.

Der Sandmann

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