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Kapitel 4

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Schwerin im November 1934.

»Und was, wenn sie an einer simplen Pilzvergiftung gestorben sind? Was, wenn es doch kein Mord war?« Totzokes saß auf seinem Stuhl und beobachtete seinen Vorgesetzten, der in Feinarbeit Bilder und Notizen an die Korkwand steckte. Nachdem er das letzte Foto platziert hatte, ging er ein paar Schritte zurück und begutachtete sein Gesamtwerk.

Lobbes machte sich nicht die Mühe, seinem gelangweilten Kollegen zu antworten. Sollte er nur auf seinem Apfel herumkauen und an einen Unfall glauben. Er, Lobbes, wusste es besser. In mühsamer Kleinstarbeit hatte er sich in den letzten Wochen bundesweite Vermisstenakten von Kindern – insbesondere Jungen – zukommen lassen. Und es waren derer erschreckend viele. Manche hatte man tot in Wäldern entdeckt. Der größte Teil aber wurde noch immer vermisst.

Die liegen noch irgendwo und warten darauf, gefunden zu werden, dachte Lobbes, als er seinen Blick über die vielen Gesichter gleiten ließ.

Totzokes riss ihn aus seinen Gedanken. »Warum bist du dir so sicher, dass die alle ermordet wurden?«

»Ganz einfach«, antwortete Lobbes, ohne seinen Blick von der Pinnwand abzuwenden. »Artur war oft allein unterwegs. Er kannte die Wälder wie seine sprichwörtliche Westentasche. Er sammelte Pilze für das Gasthaus der Eltern. Für das Gasthaus seiner Eltern!« Lobbes drehte sich um und schaute seinem Kollegen in die Augen. »Was ich sagen will, ist, dass er absolut Ahnung von Pilzen hatte. Er wäre nicht einfach losgegangen und hätte einen Fliegenpilz probiert. Verstehst du?«

»Darauf baust du deine Ermittlung auf? Auf ein Kind, das deiner Meinung nach keine Pilze verwechselt?«

Lobbes musste sich eingestehen, dass seine Schlussfolgerung aus dem Mund von Totzokes lächerlich klang. Verrannte er sich womöglich wirklich? Wieder drehte er sich zur Pinnwand um und besah sie mit einem möglichst objektiven Blick. »Du bist ein Narr, Totzokes!«, brummte Lobbes. »Beusch hat uns mit dem Fall beauftragt, weil wir die beste Mordkommission bilden. Und du kaust auf deinem ausgelutschten Apfel herum, ohne die Augen richtig aufzumachen. Sonst würdest du es nämlich sehen.« Lobbes deutete mit beiden Händen auf die Pinnwand. »Die Jungen sind durch die Bank im Alter zwischen fünf und zehn. Sie kommen alle aus gutem Elternhaus, was heißt, dass ihr Auftreten gepflegt und manierlich ist. Die Fundorte sind ausnahmslos Wälder, in denen sie in Schlafposition liegend gefunden werden.«

Totzokes richtete sich auf und begutachtete die Pinnwand, als würde er sie zum ersten Mal richtig wahrnehmen.

»Ja, und soll ich dir das Verrückteste sagen?«, fragte Lobbes, der erkannte, dass sein Kollege zu begreifen begann.

Totzokes nickte.

»Alle Jungen verschwanden an kalten Tagen. Also entweder im Winter oder bei ungewöhnlich kalten Temperaturen im Herbst oder Frühling. Und jetzt sag du mir, dass da nicht der Teufel dahintersteckt!«

Totzokes fixierte die Bilder von Artur und Edgar, die nebeneinander an der Wand hingen und die Lobbes mit einem roten Faden verbunden hatte. Das Bild aus dem Wald drängte sich ihm auf, wie die beiden eng umschlungen auf dem gefrorenen Boden gelegen hatten. »Den Teufel werden wir finden und ihm das Handwerk legen!«

Lobbes grinste. Das waren genau die Worte, die er hören wollte. Endlich konnte die Arbeit losgehen. »Da draußen treibt einer sein Unwesen, lockt Kinder an und schleppt sie in den Wald. Bei so vielen Vermisstenfällen muss es auch Kinder geben, die ihm entkommen sind. Kinder, die mit ihm Kontakt hatten, so wie der kleine Artur, der ihm Gefälligkeiten erwiesen hat. Bestimmt ist er ein vertrauenerweckender Mann, dem es ein Leichtes ist, Kinder für sich zu begeistern. Wir brauchen eine Liste von vorbestraften Kinderschändern.«

»Wie, jetzt?«, fragte Totzokes. »Heute noch?«

»Wann dachtest du? Wir haben schon genug Zeit verspielt. Wir sollten endlich den Kindermörder fangen!«

Totzokes blickte Lobbes mit großen Augen an und schien nach den richtigen Worten zu suchen.

»Was ist noch? Los jetzt! Setz dich ans Telefon!« Lobbes klatschte anfeuernd in die Hände.

»Heute ist schlecht.«

»Was?« Lobbes’ Stimme überschlug sich.

»Meine Frau erwartet mich heute etwas früher.«

»Definiere etwas früher

»Jetzt. Tut mir leid.« Totzokes konnte den Ärger in Lobbes’ Augen ablesen. »Ich kann den Termin nicht absagen. Morgen, pünktlich zu Dienstbeginn, stehe ich dir zur Verfügung – bis der Mörder gefasst ist.«

»Du stehst mir zur Verfügung?«, fragte Lobbes abschätzig, »Wenn ich dich erinnern darf: Du brauchst mir keinen Gefallen zu tun, sondern einfach nur deine Arbeit zu erledigen. Uns läuft die Zeit davon und du musst heim, um dein Kind zu schaukeln und deiner Frau den Diener zu machen. Ich versteh dich nicht.« Ohne Totzokes eines weiteren Blickes zu würdigen, setzte er sich ans Telefon und griff nach dem Hörer.

Der Sandmann

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