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Vorwort

«Alles wirkliche Leben ist Begegnung.»

Martin Buber

Im Februar 1983 gab die damalige → Priorin, Schwester Elisabeth Galliker, den Stichentscheid. Es ging um meine Aufnahme in die → Bäuerinnenschule im Kloster Fahr. Die Schulleiterin und weitere Schwestern im Lehrerinnenkollegium waren skeptisch, ja reagierten ablehnend auf meine Bewerbung. Sollte man der 29-Jährigen wirklich den letzten freien Platz für den Frühlingskurs geben? Der verheirateten Journalistin, die in der Stadt Zürich wohnte und nicht aus bäuerlichem Umfeld stammte? Eine solche Frau hatte man noch nie aufgenommen. Mein Profil entsprach überhaupt nicht dem Standard. Und so zweifelte man wohl, ob ich mich in den schulischen Alltag und die klösterliche Atmosphäre würde einfügen können.

Die Schwestern wagten es! Sie gaben mir damals eine Chance. Und noch heute, 35 Jahre später, bin ich ihnen sehr dankbar dafür. Ich wollte beruflich etwas anderes machen, weg von Schreibmaschine und Meetings. Im Kloster lernte ich Einmachen und das Anbauen von Gemüse nach Fruchtfolge, beschäftigte mich mit häuslicher Krankenpflege und Hühnerhaltung und erlebte kreative Stunden beim Töpfern und am Webstuhl. Es waren einzigartige zwanzig Schulwochen, in denen ich in eine völlig neue Welt eintauchte. Ich durfte bei den Fahrer Frauen fürs Leben lernen, genoss die unbeschwerte Zeit draussen vor der Stadt in vollen Zügen und erlebte die Schwestern als liebenswürdig und offen. Auch die Begegnungen mit den Mitschülerinnen aus den verschiedenen Ecken der Schweiz, mit ihren unterschiedlichen Lebensentwürfen, waren sehr bereichernd. Wir lachten und lernten viel. Bäuerin bin ich zwar nicht geworden, sondern der schreibenden Zunft treu geblieben. Aber als Mutter, Hausfrau, Handwerkerin und Gärtnerin begleitet mich das Fahrer Wissen noch heute.

Vor einigen Jahren fragte ich Priorin Irene Gassmann, ob sie sich ein Buch mit Porträts der Schwestern vorstellen könnte – ein Buch, in dem diese offen über ihr Leben, ihren Alltag erzählen würden, ein Pionierprojekt in der katholischen Welt wohl auch. Die Priorin wusste von meinen Erfahrungen mit Oral History. In meine Buchprojekte waren immer Begegnungen mit Menschen eingeflossen: mit Schwyzer Frauen, mit Ausgewanderten, die westwärts nach Amerika gezogen waren, mit Diakonissen des Bethanien-Diakoniewerks oder mit Schweizer Bäuerinnen, die ich in «Beruf Bäuerin» porträtiert hatte.

Priorin Irene zögerte. Sie vertröstete mich, «später vielleicht», meinte sie. Noch standen die Sanierung und der Umbau der Klostergebäude an, die grosse Züglete des ganzen → Konvents in die Räumlichkeiten der Bäuerinnenschule und zurück ins Kloster. Für Interviews war da keine Zeit. Ich hatte mich zu gedulden. Ende 2016 legte ich Priorin Irene meine Idee erneut vor. Die Gemeinschaft war wenige Monate zuvor ins frisch renovierte Kloster zurückgekehrt, die Kisten waren ausgepackt. Das Klosterleben verlief wieder in ruhigen Bahnen.

Und nun stiess mein Vorschlag auf offene Ohren. Priorin Irene rief die Klosterfrauen in den Kapitelsaal, und die Schwestern beschlossen einstimmig, zum 888-Jahr-Jubiläum des Klosters Fahr im Jahr 2018 ein Porträtbuch mit Bildern über ihr Leben zu veröffentlichen. Und von vornherein stand fest: Mitmachen war freiwillig. Wer Lust dazu hatte, konnte sich in eine Liste einschreiben. Siebzehn von zwanzig Frauen willigten ein und starteten mit mir das Abenteuer. Den Entscheid dreier Schwestern, mit Bild, aber ohne Text im Buch zu erscheinen, respektiere ich voll und ganz. Er ist für mich Ausdruck der Emanzipation der Frauen im Fahr – jede entscheidet für sich selbst. Demut ja, aber der frühere unbedingte Gehorsam ist in den vergangenen Jahren einer moderneren, offeneren Form des Gemeinschaftslebens mit mehr Mitsprache gewichen.

Das Gemeinschaftliche hat im Kloster einen hohen Stellenwert, das Individuelle tritt eher in den Hintergrund. Das äussert sich beispielsweise in der schwarzen Ordenskleidung. Obwohl ich die Fahrer Frauen seit vielen Jahren immer wieder besuchte, mit dieser und jener Kontakt hatte, wusste ich eigentlich wenig von jeder einzelnen Schwester. Nun wollte ich sie näher kennenlernen. Es interessierte mich: Wer sind diese Frauen, die das Gelübde von → Stabilitas, Gehorsam und klösterlichem Lebenswandel für immer abgelegt hatten? Woher kommen sie und weshalb wählten sie diesen Weg? Was heisst Berufung? Wie gestaltet sich der praktische Alltag in der Gemeinschaft? Und wie sehen die Frauen ihre Zukunft?

Von Mai bis Dezember 2017 lebte ich immer wieder drei Tage am Stück im Kloster. So konnte ich mich konzentriert den Gesprächen widmen. Für jede Schwester standen eineinhalb Tage, jeweils während ihrer Arbeitszeiten, zur Verfügung – die Organisation klappte von A bis Z. Ich bewohnte ein geräumiges Zimmer in der → Propstei. Was für ein Geschenk, wieder ins Klosterleben einzutauchen, so wie ich es vor 34 Jahren erlebt hatte! Dabei durfte ich den Geist des Fahrs wieder in mich aufnehmen und auch die verschiedenen Jahreszeiten in der ruhigen Oase im lauten Limmattal geniessen. Morgens sah ich hinaus auf den Propsteigarten: frisch angepflanzt im Frühling, wuchtig ausladend und farbenprächtig im Sommer, abgeräumt Ende Oktober. Ich erlebte das Kloster bei Wind und Wetter. Und so viel Vogelgezwitscher wie im Fahr gibts kaum anderswo!

Wie Jahrzehnte zuvor beeindruckten mich die Atmosphäre von Ruhe, konzentrierter Achtsamkeit und rhythmisiertem Alltag, die Gastfreundschaft und die Offenheit. Ich fühlte mich sehr wohl, und die Begegnungen waren berührend, lebendig, ja freundschaftlich. Im Laufe der Monate durfte ich in über 120 Gesprächsstunden den Fahrer Frauen zuhören und dabei unglaublich viel erfahren. Vieles davon floss in die Geschichten ein, einiges ist nur zwischen den Zeilen lesbar. Jede der 17 porträtierten Frauen schenkte mir ihr volles Vertrauen. Das war nicht selbstverständlich, ich schätzte es sehr. Für die meisten war es wohl das allererste Mal in ihrem Leben, dass sie so viel über sich erzählten, dass sie überhaupt so viel sprachen.

Das Schreiben dieses Buchs war für mich ein besonderes Privileg. Danke für eure Offenheit, liebe Schwestern im Fahr, danke für euer Lachen und Weinen, vergelts Gott. Ihr habt mir unglaublich viel Persönliches anvertraut, nicht zuletzt auch eure Gottesbeziehung. Und wenn der Text mal geschrieben war, habt ihr kaum etwas korrigiert. Es durfte sich ein Buch entwickeln, in dem ihr offen aus eurem Leben erzählt, vom Schönen und vom Schweren. Ihr habt kein Blatt vor den Mund genommen, und so kann man hier kritische Dinge lesen, die man von Klosterfrauen nicht unbedingt in dieser Offenheit erwarten würde. Priorin Irene las alle Texte, «Zensur von oben» gab es nicht. Im Gegenteil, gelegentlich ermutigte sie eine von euch sogar dazu, Passagen im Text zu belassen, die euch schwarz auf weiss auf einmal zu gewagt erschienen! So konnte das Buch entstehen, das ich mir erhofft hatte.

Diese Geschichten sollen die Einzigartigkeit eures Frauenlebens in unserer Gesellschaft bezeugen und Verständnis wecken für eine Welt, die ausserhalb der Klostermauern kaum jemand kennt. Ich wünsche euch und mir, dass die Porträts und Bilder bei vielen Menschen ankommen und in ihnen etwas bewegen.

Im Fahr

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