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Die Bestimmung

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Es war an einem Samstag im August, den ich mit meinen Freundinnen Katrin und Brigitte bei heißer Discomusik im Kasaleon, das sich in der Hasenheide in Berlin Neukölln befand, verbringen wollte. Wie immer war es gerammelt voll. Die Discokugel an der Decke drehte sich und verbreitete eine stimmungsvolle Atmosphäre. Auf der Tanzfläche war es sehr voll, sodass sich die vielen jungen Leute kaum bewegen konnten. Es war ein heißer Sommerabend und die Klimaanlage brachte an diesem Tag keine Erleichterung. Laut war es sowieso, sodass Schreien angesagt war, wenn man sich verständigen wollte. Alte und neue junge Leute trafen sich hier, die bester Stimmung waren. Man sagte „Hallo“ und „Schön, dich zu sehen“.

Meine Freundinnen hatten sehr schnell die passenden Tanzpartner gefunden und sie bewegten sich wie die Wilden bei Rock ’n’ Roll, Jazz und Twist. Ich stand etwas verloren da und mein Blick fiel auf einen jungen Mann, der offenbar gern auf Tuchfühlung tanzte. Ich dachte: Genau meine Art zu tanzen! Ich liebte nämlich unter anderem Tango und Blues. Das Tanzen wurde mir bereits in die Wiege gelegt oder ich habe die entsprechenden Gene von meiner Mutter geerbt. Jedenfalls konnte ich den Blick nicht von diesem jungen Mann wenden – er hatte mich in seinen Bann gezogen. Als er kurz zu mir herübersah, lächelte er. Nachdem der Tanz zu Ende war, kam er auf mich zu und fragte mich, ob ich tanzen wolle. „Ja, gerne sogar!“, antwortete ich. Er nahm mich in die Arme und wir tanzten eng zusammen, ohne dass es mir unangenehm war. Genau wie ich hatte er blondgelockte Haare und blaue Augen. Zum damaligen Zeitpunkt stand ich zwar eher auf Männer mit dunklem Haar und braunen Augen, aber hier passte es. Nach dem Tanz lud er mich auf einen Drink an die Bar ein und fragte mich, ob wir uns duzen wollten. Ich hatte nichts dagegen und stimmte ihm zu. Er reichte mir seine Hand und sagte: „Ich heiße Rudolf.“ Daraufhin nannte ich ihm meinen Namen.

„Doris – was für ein schöner Name!“, war Rudolfs Meinung. „Darauf müssen wir anstoßen. Was darf ich dir bestellen: Danziger Goldwasser, Escorial Grün oder lieber etwas anderes?“ Er sah mich fragend an.

„Weißt du, Rudolf, eigentlich trinke ich gar keinen Alkohol.“

„Ach, wirklich?“ Er sah mich ungläubig an.

Ich dachte, einer könne nicht schaden, und gab mir einen Ruck, zumal ich nicht als Memme dastehen wollte. So entschied ich mich für Danziger Goldwasser – ein Gewürzlikör, in dem etwas Goldenes schwamm, was faszinierend aussah. Rudolf bestellte bei der Dame hinter der Bar zwei Gläser Danziger Goldwasser und für sich ein neues Bier. Während wir auf die Getränke warteten, rauchten wir genüsslich eine Zigarette. Wenig später stießen wir an und ich nahm einen Schluck, der in einem Hustenanfall endete. Rudolf lachte und bestellte ein Glas Wasser für mich. Wir suchten uns ein gemütliches Plätzchen abseits vom Getümmel, wo wir uns ungestört unterhalten konnten. Zuerst sprachen wir über belanglose Dinge, zum Beispiel über seine Arbeit. Er sagte, er hätte Schreiner gelernt und arbeite derzeit bei der Fischfirma Loseid als Kraftfahrer. Aber unsere Themen wurden immer persönlicher und gingen dann doch sehr in die Tiefe. Jeder von uns hatte ja in seiner Kindheit und als Jugendlicher so einiges durchmachen müssen. Rudolf offenbarte mir, was er im Alter von sechs Jahren im Krieg erlebt hatte. Seine Mutter und zwei seiner Geschwister waren bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen. Er erzählte es mir in etwa wie folgt: „Normalerweise sind wir immer in einen der Luftschutzbunker in Berlin gegangen, wenn es Fliegeralarm gab. Mutter sagte: ‚Heute gehen wir in den Keller, und wenn sie Bomben abfeuern, werden sie bestimmt nicht auf unser kleines Haus zielen, sondern auf die großen, die daneben stehen.‘ Meine Mutter, meine Schwester Gerda und zwei weitere meiner Schwestern gingen daraufhin in den Keller, in dem wir uns sicher fühlten. Als dann die Bomben vom Himmel fielen, war es, als hätten sie sich ausgerechnet unser Haus ausgesucht. Berge von Steinen und Balken stürzten über uns zusammen und es brannte lichterloh. Wir hörten unsere Geschwister schreien. Meine Mutter wurde von einem Balken aufgespießt und auch eine meiner Schwestern war tot. Wenn wir nach oben schauten, sahen wir nur ein großes Loch, durch das der Himmel zu sehen war. Meine große Schwester Gerda war am Bein verletzt worden. Gemeinsam krabbelten wir die Schuttberge hinauf und krochen durch das Loch ins Freie. Das Haus brannte lichterloh und ich rannte hinein, weil ja noch eine meiner Schwestern in den Trümmern war. Ich konnte sie mit meinen sechs Jahren Gott sei Dank retten. Aber sie machte sich von meiner Hand los und sagte: ‚Wo Mutter ist, will ich auch sein!‘ Also rannte sie zurück ins Haus und verbrannte. Von meiner Mutter hat man später nur noch einen Schuh gefunden. Mein großer Bruder Fredi war im Krieg und unser Vater bei der Arbeit. Die anderen Geschwister waren in Sicherheit, wahrscheinlich in einem der Bunker, die es in Berlin gab. Die Tragödie konnte nicht schlimmer sein, als mein Vater nach Hause kam und vom Tod seiner Lieben erfuhr. Für ihn und meine anderen Geschwister brach eine Welt zusammen. Mein Vater starb einige Zeit später im Krankenhaus Friedrichshain an der Ruhr. Gerda hatte ihn mit dem Handwagen dort hingebracht. Keiner aus der Familie hat ihn jemals im Krankenhaus besucht und ich wusste später auch nicht, wo man ihn begraben hatte. Die Zeit danach verbrachte ich bei Pflegeeltern, die der Familie bekannt waren. Sie lebten am Schlesischen Bahnhof, wo es zur damaligen Zeitpunkt viele Laubenkolonien gab. Das Jugendamt setzte sich mit der Familie in Verbindung. Die wiederum erklärte sich bereit, mich aufzunehmen. Mir war es recht, da ich die Familie ja kannte und auf keinen Fall in ein Heim wollte. Meinen großen Geschwister war es wohl egal, da sie alle ihr eigenes Leben führten und viel älter waren als ich. Auch für sie war es nach dem Krieg nicht so einfach, denn unsere Familie hatte ja alles verloren – wir waren sechs Mal ausgebombt worden. Sie nahmen jedenfalls an, dass ich gut bei den Pflegeeltern aufgehoben war. Aus heutiger Sicht wäre ich wohl besser in ein Kinderheim gegangen. Bei meinen Pflegeeltern durchlebte ich die Hölle. Ich wurde brutal geschlagen, mein kleiner Körper war voller blauer Flecken. Einmal musste ich mit meinem Kopf in ein Ofenloch kriechen, dann schlug mein Pflegevater meinen Hintern mit einem Ledergurt grün und blau, nur weil ich die Katze vom Tisch gescheucht hatte, die von meinem Teller fressen wollte.“

Ich war von Rudolfs Schilderungen so schockiert, dass mir die Tränen über das Gesicht liefen. Er tat mir unendlich leid. Ich fragte ihn, warum seine Pflegemutter nicht eingegriffen hatte.

„Die wurde ja auch ständig von ihm geschlagen“, antwortete er. „Nach der Schule musste ich sofort nach Hause kommen. Und wehe, ich verspätete mich! Bereits auf dem Heimweg fing ich an zu zittern, weil ich wusste, was mich erwartete. In der Schule hatte ich zwei Freunde, Walter und Rolf, mit denen ich so gerne gespielt hätte. Aber es sollte nicht sein. Nachdem ich meine Schularbeiten gemacht hatte, musste ich mich um die Tauben und die Ziegen kümmern. Mein Pflegevater hatte eine große Taubenzucht und Tiere bedeuteten ihm mehr als Menschen. Schon als kleiner Junge musste ich den Tauben mit einem Beil den Kopf abschlagen und er ließ sie dann auf diese Weise verstümmelt herumfliegen. Noch heute sehe ich diese grausamen Bilder vor mir. Am Sonntag gab es immer Taubenbraten und ich hätte am liebsten quer über den Tisch gekotzt. Aus Angst vor Strafe aß ich meinen Teller jedoch leer.“

Ich sagte zu Robert: „Das ist ja grausam, was du erlebt hast!“ Dann fragte ich ihn, warum er das alles nicht der Frau vom Jugendamt erzählt hatte. Sie kam doch einmal im Monat ins Haus und wollte von ihm wissen, wie es ihm in der Familie gefiel.

„Weißt du, Doris, manchmal war mein Pflegevater auch nett zu mir. Dann schenkte er mir Geld, sodass ich mit meinen Freunden ins Kino gehen konnte. Außerdem hatte ich reichlich zu essen. Und was ganz wichtig war: Ich hatte Schuhe! Das konnte so kurz nach dem Krieg nicht jeder von sich behaupten. Also habe ich zu der Frau gesagt, dass es mir bei meinen Pflegeeltern gut gefiel.“

Weitere Einzelheiten möchte ich dem Leser ersparen, auch wenn heutzutage offen über solche Themen gesprochen wird. Roberts Erzählungen gingen aber weiter:

„Ich hatte die Schule beendet und wurde zusammen mit Walter und Rolf eingesegnet. Zu diesem Anlass bekam ich einen schönen Anzug. Wir Jungen waren an diesem Tag so glücklich. Anschließend begann ich eine Lehre als Schreiner. Mein Pflegevater vertrat die Meinung, dass es sich für mein späteres Leben auszahlen würde, wenn ich ein Handwerk erlernte. Von diesem Zeitpunkt an ließ ich mir nichts mehr von ihm gefallen. Wenn er mich schlagen wollte, drohte ich ihm damit, es dem Jugendamt zu melden. Als ich meine Lehre beendet hatte, mein eigenes Geld verdiente und mich häufig mit meinen Freunden traf, gab es immer öfter Streit, wenn ich spät heimkam. Als ich wieder einmal nicht pünktlich zum Essen nach Hause kam, erwartete er mich bereits an der Tür und schlug mir mit der Faust ins Gesicht. Jetzt war ich am Zuge. Ich stellte diesen alten Sadisten an die Wand und ließ meine ganze Wut und das Leid, das ich all die Jahre ertragen hatte, an ihm aus. Ich schlug so lange zu, bis er am Boden lag. Meine Pflegemutter – ich nenne sie mal „Frieda“ – griff nicht ein. Stattdessen nickte sie nur. Anschließend packte ich meinen Koffer und fuhr zu meinem Freund Walter und dessen Familie, die mich ohne zu zögern aufnahmen. Erst jetzt konnte ich mit jemandem über das Erlebte sprechen. Walters Familie war der Meinung, dass man den Mann anzeigen müsste. Ich habe meinen sadistischen Pflegevater nie wiedergesehen.“ Robert ließ das Gesagte kurz sacken und erzählte schließlich weiter:

„Walter arbeitete bei der Bahn und Rolf hatte die Absicht, Schauspieler zu werden, wie seine Eltern es waren. Sein Vater Franz hatte in dem Spielfilm „Kahn der fröhlichen Leute“ mitgespielt, der damals noch in Schwarz-Weiß gedreht wurde. Rolfs Idee zerplatzte allerdings schon bald wie eine Seifenblase. So beschlossen wir drei, gemeinsam zur Volksarmee zu gehen, um dem Volke in der DDR zu dienen. Allerdings wurde uns von nun an verboten, in den Westteil rüberzugehen. Das hielt uns jedoch nicht davon ab, wenn wir frei hatten und keine Uniform trugen, nach drüben zu gehen, wenn es einen neuen amerikanischen Spielfilm gab. Wir wurden überall eingesetzt. Beispielsweise mussten wir die Grenzen bewachen, nicht nur in Berlin, auch außerhalb im Osten. Wir unterhielten uns mit den Grenzsoldaten über die Sperrzonen, in denen die Soldaten aus dem Westen standen. Für uns junge Burschen war das alles aufregend und wir hatten viele Freunde, die bei der Armee waren. Der Westen reizte mich immer mehr, zumal es mir dort auch möglich war zu arbeiten. Immer mehr Menschen verließen den Osten, um in Westberlin ein besseres Leben zu führen. Wir mussten uns in Marienfelde im Aufnahmelager melden, um im Westen bleiben zu können.“ Hier unterbrach ich Rudolf und berichtete ihm, dass wir ebenfalls geflüchtet waren und Ähnliches durchgemacht hatten.

„Erzähl doch mal, wo ihr herkommt“, bat er mich. „Und warum seid ihr geflüchtet?“

Ich winkte ab. „Nein, Rudolf, dafür reicht die Zeit heute nicht aus. Es wäre eine zu lange Geschichte. Ein anderes Mal spreche ich gern darüber. Erzähl du ruhig weiter!“

Inzwischen waren wir fast die Letzten und es ging schon auf den Morgen zu. Wir hatten in dieser Samstagnacht unser Umfeld völlig vergessen, es gab nur noch uns beide. Tatsächlich sprach er weiter. Nach einer Weile sagte er: „Ich weiß gar nicht, warum ich dir das alles erzähle. Eigentlich spreche ich mit niemandem über mein Leben, aber zu dir hatte ich von Anfang an Vertrauen.“ Er lächelte und fuhr fort: „Natürlich wurden unsere Westbesuche beobachtet, und eines Tages wurden Walter, Rolf und ich aufgefordert, in das Büro unseres Kommandanten zu kommen. Uns ging natürlich ganz schön die Muffe. Doris, du glaubst nicht, was sie uns alles vorgeworfen haben! Angeblich hatten wir unseren Eid als Soldaten gebrochen und geplant, gemeinsam in den Westen zu fliehen. Was wir zu unserer Verteidigung vorzubringen hatten, wollten sie sich gar nicht anhören. Wir mussten unsere Waffen abgeben und wurden fürs Erste mit Arrest bestraft. Was hatten sie als Nächstes mit uns vor? Uns beherrschte die Angst, dass sie uns einsperren würden. Wir waren doch nur junge Burschen von nicht einmal zwanzig Jahren, die nichts Böses im Sinn hatten. Sie setzten sich mit unseren Familien in Verbindung. Walters Vater war ein hohes Tier bei der Partei, der, wie es schien, die Sache für uns in Ordnung brachte. Auf einmal durften wir wieder an allem teilnehmen, ohne dass man mit uns darüber sprach, was zu dieser Entscheidung geführt hatte. Und Fragen zu stellen, das kam für uns nicht infrage. Wir waren doch nur froh, dass die Sache für uns keine schlimmeren Folgen hatte. Aber der Westen reizte mich doch sehr, zumal ich keine Eltern hatte wie Walter und Rolf, die ja noch zu Hause lebten. Und weil ich wusste, wo meine noch lebenden Geschwister wohnten, war es für mich ein Leichtes, zu ihnen in den Westen zu flüchten. Ich dachte: Endlich bist du in Freiheit und kannst tun und lassen, was du willst. Ich nahm Kontakt zu meinen Geschwistern auf und Gerda bot mir an, bei ihr und ihrer Freundin Erna zu wohnen, bis ich im Aufnahmelager in Marienfelde alle Formalitäten hinter mich gebracht hatte. Nach meiner Anerkennung als Flüchtling suchte ich mir eine Stellung in meinen Beruf als Schreiner. Unseren Führerschein hatten wir drei Freunde bei der Volksarmee gemacht. Wie gesagt, ich arbeite inzwischen als Kraftfahrer, wo ich mehr Geld verdiene.“

Das war unser Kennenlernen an einem Samstag im August. Mein Herz hatte sich für diesen jungen Mann weit geöffnet, der mit seinen zweiundzwanzig Jahren innerlich zerbrochen war. Auf einmal hielt ich mein eigenes Leben nicht mehr für so wichtig. Am frühen Morgen – es wurde bereits hell – begleitete mich Rudolf bis zur U-Bahn. Ich fuhr in Richtung Innsbrucker Platz, wo ich bei einem älteren Ehepaar, das ebenso wie ich mit Nachnamen „Lange“ hieß, als Untermieterin wohnte. Von dem Tag an trafen wir uns, so oft es unsere Zeit erlaubte, und aus der anfänglichen Sympathie wurde Liebe. Und natürlich hegte ich Mitgefühl für Rudolfs Lebensgeschichte. Er lebte als Untermieter in einem möblierten Zimmer, das sich in Kreuzberg SO 36 in der Wrangelstraße befand. Wenn er Feierabend hatte, ging er in seine Eckkneipe, zumal die Wirtin für ihre Gäste auch Mittagessen kochte. So manches Mal trafen wir dort zusammen. In dieser Kneipe lernte ich auch Rudolfs Bruder Fredi kennen, der nach Feierabend gelegentlich dort sein Bierchen trank. Er und seine Frau Lilo lebten, verbunden mit einer Hauswartstelle, in einer Neubauwohnung in der Waldemarstraße/Ecke Pücklerstraße. An eine Neubauwohnung zu gelangen, war zu der damaligen Zeit schwierig.

Wenn ich Rudolf besuchte, um bei ihm zu nächtigen, zog ich mir schon im Flur die Schuhe aus, damit seine Vermieterin, Frau Schulz, nichts davon mitbekam. Trotzdem knarrten die verdammten Treppenstufen! Zur damaligen Zeit war es jungen Frauen, die noch nicht einundzwanzig waren, verboten, bei einem Mann zu schlafen, der keine eigene Wohnung hatte. Frau Schulz bekam natürlich mit, was unter ihrem Dach vor sich ging. Wenn ich nachts im Haus war, sah sie garantiert am nächsten Morgen aus dem Fenster und drohte mir und Rudolf mit dem Finger. Die Sache löste Rudolf schließlich auf seine Weise. Von diesem Zeitpunkt an gab es keine Probleme mehr. Mir stand sogar die Küche zur Verfügung und Rudolf brauchte nicht mehr in die Kneipe zu gehen, denn von jetzt an kochte ich.

Wie Frauen nun mal so sind, beschäftigte ich mich im Laufe der Zeit damit, Rudolfs Zimmer umzugestalten und es mit Deckchen, Blümchen und bunten Kissen zu verschönern, damit wir uns wohlfühlen konnten. Rudolf und ich wollten unbedingt zusammenziehen. Wir würden eine Monatsmiete sparen und das ständige Hin- und Herfahren hätte ebenfalls ein Ende. Aber wie sollten wir an eine Wohnung gelangen, zumal ich nicht mit Rudolf verheiratet und zudem auch noch nicht mündig war. Daraufhin ließ Rudolfs Schwester Gerda ihre Beziehungen spielen, was nach einiger Zeit auch zum Erfolg führte. Einer ihrer Bekannten, Herr Weinrich, hatte die Absicht, auf unbestimmte Zeit in sein Gartenhaus zu ziehen, und suchte jemanden, der seine Wohnung übernahm. Für wie lange, das stand in den Sternen. Dieses Angebot wurde für uns zum Glücksfall. Natürlich kamen Schwierigkeiten auf uns zu, weil wir nicht verheiratet waren. Herr Weinrich meinte jedoch, dass es der Hauseigentümer, Herr Berthold, vorerst nicht erfahren müsse. Außerdem verlangte Herr Weinrich für seine Möbel fünfhundert Mark Abstand. Doch woher nehmen und nicht stehlen? Da Rudolf und ich noch nicht besonders gut verdienten und erst recht kein Spargeld besaßen, wussten wir uns zunächst keinen Rat. Aber auch hier gab es einen rettenden Engel. Gerdas Freundin Erna stellte uns das Geld zur Verfügung und war damit einverstanden, dass wir es ihr in Raten zurückzahlten.

Von da an hatten wir eine Einzimmerwohnung mit einer Küche, einem schmalen Flur, einem Badezimmer samt Wanne, einem Waschbecken – darüber hing ein Spiegel – und zwei kleinen Schränkchen. Die Toilette befand sich zwei Etagen tiefer und wurde von allen Hausbewohnern benutzt. Letzteres stellte für Rudolf das größte Problem dar, weil er äußerst schamhaft war. Im Zimmer befanden sich ein Klappbett, ein Kleiderschrank, ein runder Tisch aus Omas Zeiten, zwei Sessel, ein Flickenläufer und an den Fenstern bunte Vorhänge zum Zuziehen, damit man vom Bahnsteig aus nicht hereinschauen konnte. Die anderen schönen Möbel hatte Herr Weinrich bestimmt mitgenommen. Rudolf und ich besaßen beide keinerlei Hausrat, nicht einmal einen Löffel oder eine Gabel, geschweige denn Teller. Freunde, die das alles bereits im Überfluss besaßen, schenkten uns eine Erstausstattung. Wir waren glücklich, dass wir jetzt jeden Tag zusammen sein konnten. An unsere neue Lebenssituation gewöhnten wir uns rasch. Das Einzige, was uns störte, war die Toilettensituation. Hatten war ein Bedürfnis, standen garantiert Mieter vor der Toilette und unterhielten sich. Oder das Örtchen war besetzt und wir mussten warten. So kam Rudolf oft unverrichteter Dinge wieder nach oben, es gab ja noch den Eimer, der im Grunde keine Lösung war.

Vom Wohnzimmer aus konnten wir direkt auf den Bahnsteig Prinzenstraße sehen und dort die Fahrgäste beobachten. Die erste Zeit konnten wir nicht schlafen, weil die einfahrenden Züge schon von Weitem zu hören waren. Daran mussten wir uns gezwungenermaßen gewöhnen, weil sich bestimmte Dinge im Leben eben nicht ändern ließen. Wir schliefen in unserem Klappbett und waren glücklich, die Nähe eines anderen Menschen zu spüren. Das war etwas, was wir in unserer Kindheit vermisst hatten. Am Morgen klappten wir das Bett hoch und zogen es mit einem bunten Vorhang zu.

Wir lebten sehr sparsam, und jede Mark, die wir erübrigen konnten, legten wir zur Seite. Als Kraftfahrer bei Loseid erhielt Rudolf, ebenso wie seine Kollegen, jede Woche ein Kilo frischen Fisch geschenkt, was unserem Speiseplan zugutekam. Ich arbeite in der Druckerei Bettin, wo ich vom Steindruck bis hin zum Offsetdruck alles kennenlernte.

Rudolf wünschte sich eine Musiktruhe, da er nur ein Kofferradio besaß. Weil wir keine großen Sprünge machen konnten und eine solche Anschaffung nicht bar bezahlen konnten, beschlossen wir, uns diese mittels Ratenzahlung zu leisten. Da wir nicht verheiratet waren, lief der Vertrag auf Rudolfs Namen.

Unser neues Zuhause wurde mit der Zeit immer gemütlicher und wir genossen jeden Tag, den wir zusammen verbringen konnten. Zu seinen Geschwistern hatte Rudolf wieder gute Beziehungen aufgebaut. Oft besuchten wir Fredi und Lilo in deren edel eingerichteter Neubauwohnung. Fredi war 1953 aus Ost-Berlin geflüchtete, als es den ersten Aufstand gegeben hatte. Er arbeitete auf dem Bau und verdiente schönes Geld. Aufgrund der Hauswartstelle brauchten er und Lilo nur die Hälfte der Miete zu bezahlen.

Nach einem Jahr Ehe auf Probe wurde uns von Herrn Weinrich regelrecht die Pistole auf die Brust gesetzt, zumal er die Absicht hatte, seine Wohnung zu kündigen. Er plante, weiterhin auf seinem Grundstück zu leben, und brauchte die Wohnung nicht mehr. Wir mussten also entweder umgehend heiraten oder uns stand der Auszug bevor. Da ich immer noch nicht volljährig war und daher auch noch nicht mündig, um diese Entscheidung für mich zu treffen, wurde die Situation für Rudolf und mich zum Problem. Ich benötigte das Einverständnis meines gesetzlichen Vormundes, den ich nicht kannte …

„Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“ Die Lebensgeschichte der Susanne Bechstein

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