Читать книгу Das zerbrochene Siegel - Susanne Eder - Страница 11
Kapitel 3
ОглавлениеMondlicht fiel auf Penelope und ließ ihr graues Fell silbern glänzen. Sie hatte sich im Kreuzgang des Domstifts eingerollt, nur wenige Schritte von der Pforte entfernt, die zum Kapitelhaus der Stiftsbrüder führte. Hinter dem Kreuzgang erhob sich der Dom St. Peter und Paul zu Worms, flankiert von seinen vier mächtigen Türmen, die wie zu Stein erstarrte Wächter über der Bischofskirche aufragten.
Friedliche Stille lag über dem Ort. Die Domherren schliefen, und erst zur Prim würden die Glocken sie wieder zum Gebet rufen.
Unvermittelt hob Penelope den Kopf und starrte wachsam zu der Pforte hinüber, die vom Kreuzgang auf den Domplatz führte. Die Tür knarrte. Gleich darauf glitt eine Gestalt in die Arkaden des Kreuzgangs. Die Domkatze erhob sich und verharrte reglos an ihrem Platz, ohne den Eindringling aus den Augen zu lassen. Auch er blieb stehen und schien angestrengt zu lauschen, während er mit seiner Lampe in die dunklen Ecken des Kreuzgangs hineinleuchtete, so weit der Lichtschein trug. Schließlich zog er die Pforte hinter sich zu und schlich in Richtung Kapitelhaus. Kaum hatte er sich in Bewegung gesetzt, verließ auch Penelope ihren Schlafplatz. Auf leisen Pfoten huschte sie hinter einen der Pfeiler, als wolle sie das weitere Geschehen aus sicherer Entfernung beobachten.
Vor der Pforte zum Kapitelhaus blieb der Eindringling stehen. Penelope spitzte die Ohren, als er einen Schlüsselbund unter seinem Umhang hervorzog und die Tür öffnete. Für einen Moment verharrte die Gestalt, als würde sie horchen, dann glitt sie durch die Pforte.
Eine Weile noch hielt Penelope ihren Blick aufmerksam auf die Tür gerichtet, die sich hinter dem Eindringling geschlossen hatte, doch schließlich schien sie beruhigt. Mit einem Laut, der wie ein Seufzen klang, ließ sie sich, eng an den Sockel des Pfeilers geschmiegt, nieder, bettete ihren Kopf auf die ausgestreckten Vorderpfoten und schloss die Augen.
Der Mond war weitergewandert und warf seinen Silberstrahl auf das Dach der Domkellerei, als die Pforte vom Kapitelhaus plötzlich aufgerissen wurde und die Katze erneut aufschreckte. Der nächtliche Besucher stürmte aus der Tür, eilte den Weg zurück, den er gekommen war, und hatte, ebenso wie die Domkatze, den Kreuzgang längst verlassen, als die alarmierten Dombrüder mit ihrer Suche nach dem Eindringling begannen.
»Zweifelsohne gebt Ihr mir recht, Burggraf?« Erwartungsvoll hielt Eltrudis in ihrem Monolog inne.
Bandolf hob den Kopf von seiner Schüssel und runzelte die Stirn. Er hatte nicht die geringste Ahnung, wovon Matthäas Tante sprach.
Der frühe Morgen war nie seine beste Zeit, und heute um so weniger, da er schlecht geschlafen und sich die halbe Nacht überlegt hatte, wie in aller Welt er Ulberts Mörder dingfest machen konnte, bevor Bischof Adalbero ihm einen Strick aus dieser unglückseligen Angelegenheit drehen konnte.
»Gewiss«, murmelte er und ignorierte geflissentlich das Grinsen seines Marschalks, der neben ihm saß.
Eltrudis war seine Unaufmerksamkeit offenbar nicht aufgefallen. »Der bedauernswerte Graf litt am Schlagfluss«, fuhr sie fort. »Er nuschelte, sodass ihn kaum jemand verstehen konnte, was für die arme Gräfin äußerst unerquicklich war. Doch da war nichts zu machen. Und ein halbes Jahr später ist er ohnehin gestorben.« Sie schüttelte missbilligend den Kopf: »In den Armen seiner Kebse.«
Was blieb dem armen Hund auch anderes übrig, als Zuflucht bei einer Geliebten zu suchen? Bei einem Weib wie Eltrudis, dachte Bandolf, der nur den letzten Satz aufgenommen hatte und glaubte, sie spräche von ihrem Gatten.
Nachdem Matthäas Tante den vergangenen Tag damit verbracht hatte, in ihrer Kammer Hof zu halten, hatte sie sich heute Morgen, sichtlich mühsam, die Treppe heruntergeschleppt und verkündet, sie wolle versuchen, einen Happen zu sich zu nehmen. Um der Höflichkeit Genüge zu tun, hatte Bandolf sich nach ihrem Befinden erkundigt, und seither erging sich Eltrudis in der Aufzählung ihrer eigenen zahlreichen Leiden, die sie mit den Todesfällen aus hochgestellten Kreisen würzte.
Bandolf warf einen Blick zu seiner Gattin hinüber, die am anderen Ende der Tafel neben ihrer Tante saß und die Schüssel mit ihr teilte. Während Eltrudis ihren Appetit wiedergefunden hatte und Löffel um Löffel von Filibertas kräftig gewürztem Dinkelbrei in ihren Mund schob, schien Matthäa keinen Hunger zu haben. Mit gesenktem Kopf stocherte sie unlustig in dem Brei und sprach kaum ein Wort. Die Hauseigenen waren offenbar ebenfalls mit Stummheit geschlagen und ließen das muntere Geplauder, das sonst an seiner Tafel herrschte, vermissen. Bandolfs Stirnrunzeln vertiefte sich. Für einen Moment fragte er sich, woher die trübselige Stimmung in seiner Halle rühren mochte, doch dann schweiften seine Gedanken wieder ab.
Das nächtliche Brüten über den toten Ulbert hatte dem Burggrafen die Erkenntnis gebracht, dass er noch viel zu wenig von dem Mann wusste. Er beschloss, Bruder Goswin im Domstift aufzusuchen.
Mit dem Scholasticus verband Bandolf eine Freundschaft, die einst mit ihrer gemeinsamen Vorliebe für die Werke des Römers Vergil begonnen hatte. Bruder Goswin hegte jedoch noch eine andere Leidenschaft. Seit Jahren arbeitete er an einer Chronik, die von Anbeginn der Zeit bis zum Jüngsten Gericht jedes erwähnenswerte Ereignis in Stadt und Bistum beinhalten sollte. Wenn jemand über Land und Leute Bescheid wusste, so war es Bruder Goswin. Bandolf hoffte, der Scholasticus könne ihm mehr über die Familie von Flonheim berichten, und womöglich war ihm sogar der dunkelhäutige Fremde bekannt, der mit Ulbert in Streit geraten war.
»Ich bin anderes gewohnt, Burggraf, als in einem Haus zu verweilen, in dem man sich des Nachts vor Eindringlingen nicht sicher sein kann«, riss ihn Eltrudis’ scharfe Stimme wieder aus seinen Gedanken. »Ohne Euch belehren zu wollen, möchte ich doch nicht verhehlen, dass mir Eure Sanftmut den Hörigen gegenüber nicht angebracht erscheint. Mein Gatte, Gott hab ihn selig, hätte den Torwächter schwer bestraft, dessen könnt Ihr sicher sein.« Sie warf ihm einen strengen Blick zu. »Nicht, dass dergleichen in meinem Haus je geschehen wäre. Wie Ihr wisst, hielt ich immer streng auf Ordnung der Dinge. Glaubt mir, Ihr solltet es ebenso halten.«
»Mit meinen Eigenleuten verfahre ich, wie ich es für angebracht erachte«, brummte Bandolf ungehalten.
Eltrudis hob eine Augenbraue.
»Wo seid Ihr Ulbert von Flonheims Vater zum ersten Mal begegnet?«, fragte Matthäa hastig, als wolle sie einer unwirschen Antwort ihrer Tante zuvorkommen. Überrascht schaute der Burggraf von seiner Gattin zu Eltrudis, die von einem plötzlichen Hustenanfall geplagt wurde.
»Ihr kanntet Ulbert von Flonheim?«
»Seinen Vater«, antwortete Eltrudis mit erstickter Stimme. Sie warf ihrer Nichte einen ungnädigen Blick zu.
»Und wieso erfahre ich das erst jetzt?«, knurrte Bandolf.
Eltrudis straffte ihren Rücken und räusperte sich: »Wie ich schon Eurer Gattin sagte, ist das lange her. Ich begegnete Agilbert vor vielen Jahren in der Pfalz zu Quedlinburg, und das war noch vor seiner Vermählung. Später haben sich unsere Wege nie mehr gekreuzt. Ihr seht also, es gibt nichts, was ich darüber zu erzählen hätte.«
»Was war Agilbert für ein Mann?«
»Er hatte ein zuvorkommendes Wesen, was seinen Mangel an Verstand jedoch nicht auszugleichen vermochte.« Sie kräuselte spöttisch die Lippen. »Er heiratete Mechthild von Fust, daran mögt Ihr seinen Mangel an Weitblick erkennen.«
»Und über den Sohn wisst Ihr nichts?«
»Lediglich, dass er tot in Eurem Hof lag«, erwiderte Eltrudis spitz. Sie schob ihre leere Schüssel von sich, seufzte tief und wandte sich an Matthäa. »Die Mahlzeit hat mich erschöpft, mein Kind. Ich hätte nach all den Aufregungen im Haus mein Lager nicht vorzeitig verlassen sollen. Wenn Ihr mir Euren Arm reichen würdet.«
Gehorsam stand Matthäa auf. Für einen Augenblick schien alle Farbe aus ihrem Gesicht zu weichen. Sie schwankte, und Bandolf sprang auf. »Was habt Ihr denn?«, rief er besorgt und griff nach dem Arm seiner Gattin.
Auch Filiberta war aufgesprungen, doch die Burggräfin hatte sich schon wieder gefangen und winkte ab.
»Ich schicke Jacob zur Heilerin«, erklärte Bandolf.
»Unsinn«, beschwichtigte Matthäa. »Es war nur ein kleines Unwohlsein und ist auch schon wieder vorbei.« Sie schenkte Bandolf ein zittriges Lächeln und bot ihrer Tante den Arm.
»Recht so, meine Liebe«, meinte Eltrudis. »Es tut nicht wohl, sich zu verzärteln.«
Übellaunig verließ der Burggraf sein Haus.
Eine Pest mit diesem Weib, dachte er verärgert und grübelte darüber nach, wie er diesen unwillkommenen Gast in seinem Haus auf dem schnellsten Wege loswerden konnte, ohne sich des Totschlags schuldig zu machen.
Auch fand er es eigenartig, dass Eltrudis ihm nichts von ihrer Bekanntschaft mit Agilbert von Flonheim gesagt hatte, nachdem sie vom Tod seines Sohnes gehört hatte. Sie war doch sonst so gesprächig. Ob sie mehr vom Vater wusste, als sie zugegeben hatte? Die Vorstellung, womöglich auf einen dunklen Fleck im Gewand der reputierlichen Tante zu stoßen, entlockte ihm ein Grinsen.
Der Burggraf sah Bruder Goswin just den Pfalzhof überqueren, als er den Platz erreichte. Wie üblich hatte es der Scholasticus eilig. Mit gesenktem Kopf und einer Robe, die zerknittert an seinem mageren Leib herabhing, bahnte er sich seinen Weg durch die Menge. Kaufleute, Bauern, Edelleute und Pilger überquerten den Platz, an den Armen vorbei, die vor der Bischofspfalz um Almosen bettelten. Manche hatten es eilig, andere standen in Grüppchen beieinander, um Neuigkeiten auszutauschen, während Tagelöhner und Hörige des Bischofs prallgefüllte Säcke zur Bischofspfalz schleppten.
Wo so viel Umtriebigkeit herrschte, waren auch die Beutelschneider nicht fern, und Bandolf ließ seinen Blick wachsam über den Platz gleiten. Am Brunnen sah er den einbeinigen Fortunatus sitzen und warf ein Almosen in seine Bettelschale, während er dem Scholasticus einen Gruß zurief. Bruder Goswin hob den Kopf und winkte ihm zu.
»Ist es Euch jemals in den Sinn gekommen, dass Ihr Eure Gutherzigkeit stets an denselben Einbeinigen verschwendet?«, begrüßte er Bandolf, als sie in der Mitte des Platzes aufeinandertrafen.
»Was ist Gott gefälliger, Bruder: Wenn man einem viel oder vielen wenig gibt?«
»Eine interessante These, Burggraf. Wir sollten bei einem Becher Wein darüber debattieren.«
Bandolf lachte. »Lieber nicht.« Er beugte sich zu Bruder Goswin hinunter und sagte leise: »Fortunatus hat ein Bein verloren. Nicht aber seine Augen und Ohren.«
»Der Bettler spioniert für Euch?«
»Aber nein, Bruder. Hin und wieder bekommt er ein Zubrot, und hin und wieder erzählt er mir eine Geschichte.«
Bruder Goswin schüttelte lachend den Kopf.
»Habt Ihr es eilig?«, erkundigte sich Bandolf. »Ich war auf dem Weg zum Domstift und wollte mit Euch sprechen.«
»Ihr seht mich in Erfüllung einer lästigen Pflicht, Burggraf, daher kann sie warten.« Achtlos fuhr Bruder Goswin mit den Fingern durch sein borstiges Haar, das daraufhin nach allen Richtungen abstand. »Ich nehme an, Ihr kommt wegen des Toten vor Eurer Türschwelle?«
»Dann wisst Ihr schon Bescheid?«
»Pater Egidius hatte gestern noch keine Kerzen für Ulberts Leichnam in seinem Beinhaus aufgestellt, als unser geschätzter Kämmerer bereits eine Nachricht zu Bischof Adalbero nach Lorsch schickte.«
»Verdammnis!«, knurrte Bandolf. »Das hätte ich mir denken können.«
Während der Kämmerer des Domstifts für Angelegenheiten zuständig war, die den Besitz und die Angehörigen der Wormser Kirche betrafen, war der Burggraf für alle Belange der freien Bürger verantwortlich. Gelegentlich überschnitten sich die Kompetenzen der beiden Männer – ein Umstand, der dem ehrgeizigen Kämmerer ein ständiger Dorn im Auge war. Wenn ihm eine Gelegenheit in den Schoß fiel, den Burggrafen in Misskredit zu bringen, konnte man sich darauf verlassen, dass er sie zu nutzen wusste.
»Ich glaube trotzdem nicht, dass der Bischof stehenden Fußes hierhereilen wird«, meinte Bruder Goswin.
»Der Leibesumfang Seiner Eminenz gestattet ihm nicht, jemals irgendwohin zu eilen«, bemerkte Bandolf trocken. »Das muss er aber auch nicht. Es reicht völlig aus, wenn er vor den Fürsten das eine oder andere Wort fallen lässt. Und Ihr wisst selbst so gut wie ich, dass der Bischof das in jedem Fall tun wird, sobald er von einem Toten in meinem Haus hört.«
»Es geht das Gerücht, Ulbert von Flonheim sei ermordet worden. Ist es wahr?«, wollte Goswin wissen.
»Leider ist es das«, bestätigte der Burggraf. »Der einzige Lichtblick in der Angelegenheit ist, dass er höchstwahrscheinlich nicht in meinem Haus ermordet wurde. Die Heilerin sagt, der Stich hätte ihm gut und gerne geraume Zeit vorher verabreicht werden können, bevor er mein Haus betrat.«
»Die Heilerin?« Bruder Goswin zog die Brauen hoch. »Mir wäre wohler, Ihr hättet Euch den Rat unseres Bruder Apothekers geholt.«
Bandolf zuckte mit den Schultern. »Mag Garsende auch nur ein Weib sein, versteht sie sich doch auf ihr Handwerk. Und Matthäa hat sich an sie gewöhnt«, fühlte er sich bemüßigt, die Heilerin zu verteidigen. Den eigenen leisen Zweifel hinunterschluckend, fügte er hinzu: »Aber um auf mein Anliegen zurückzukommen ...«
»Habt Ihr nicht genügend Schmutz vor Eurer eigenen Tür zu kehren, Burggraf?«, unterbrach ihn Bruder Pothinus’ Stimme. Ein strenger Geruch nach Weihrauch, der dem Habit des Kämmerers zu entströmen pflegte, wehte an Bandolfs Nase.
Er drehte sich um und sah in Bruder Pothinus’ rundes Gesicht. Wie stets, wenn der Kämmerer auf den Burggrafen traf, hatte er die Nase hochgereckt, und seine zusammengekniffenen Äuglein drückten Ärger aus. Bandolfs Blick wanderte weiter zu dem Mönch, der neben Bruder Pothinus stand und den Burggrafen aufmerksam zu mustern schien. Er war von mittlerer Größe und schlanker Gestalt, und in seinen unscheinbaren Zügen schien noch die Unschuld der Jugend beheimatet. Im Gegensatz dazu standen jedoch die gerunzelte Stirn und der altkluge Ausdruck der braunen Augen. Für einen Augenblick hatte Bandolf das Gefühl, als wäre er dem jungen Benediktiner schon einmal begegnet.
»Man sollte wirklich meinen, der Burggraf von Worms hätte mit seinen Angelegenheiten genug zu tun und müsste sich nicht auch noch in die Belange der Kirche einmischen«, sagte Bruder Pothinus spitz, an den Mönch gewandt.
»Ich habe nicht die geringste Ahnung, wovon Ihr sprecht«, erwiderte Bandolf.
»Pah!« Bruder Pothinus sah den Burggrafen ungläubig an. »Wollt Ihr mir etwa weismachen, Ihr hättet Bruder Goswin nicht nach dem Eindringling ausgeforscht?«
»Der Bruder Kämmerer glaubt, ein Dieb wäre heute Nacht in unser Kapitelhaus eingedrungen«, erklärte Bruder Goswin.
»Natürlich ist es ein Dieb gewesen«, fuhr Pothinus seinen Mitbruder an. »Und hätte sich der heilige Antonius ihm nicht entgegengestellt, wer weiß, was dann mit uns geschehen wäre.«
Irritiert hob Bandolf die Brauen.
Bruder Goswin lächelte. »Der Eindringling hat die Statue des heiligen Antonius umgeworfen. Durch den Lärm sind wir aufgewacht und haben seine Anwesenheit bemerkt«, erklärte er.
»Wurde Euch denn etwas entwendet?«
»Dazu kam es nicht. Der heilige Antonius hat verhindert, dass der Dieb sich an den Schätzen unserer Kirche bereichern konnte.« Die Stimme des Kämmerers klang tief befriedigt.
»Gewöhnlich bewahren wir die Schätze unserer Kirche aber nicht im Dormitorium auf.« Bruder Goswin schnipste einen Krümel von seiner Kutte. »Für mich sieht es so aus, als hätten meine Schüler uns einen Streich gespielt.«
Der junge Benediktiner räusperte sich. »Womöglich hat der Bruder Scholasticus recht, und es handelte sich tatsächlich nur um einen Streich«, meinte er, während er sich bemühte, dem ungnädigen Blick des Kämmerers auszuweichen. »Es scheint mir jene Art Unfug gewesen zu sein, wie sie auch die Novizen unseres Ordens auszuhecken pflegen.«
»Wer immer es gewesen ist, ich werde den Eindringling finden. Und Einmischungen dulde ich nicht«, erklärte der Kämmerer hochtrabend.
»Natürlich.« Der junge Mönch neigte den Kopf. »Verzeiht mir meine Neugier, Burggraf, aber ich habe von dem Todesfall in Eurem Haus gehört. Man sagt, ein junger Edelmann sei in der Nacht in Eurem Hof gestorben. Wisst Ihr schon Näheres darüber?«
»Ulbert von Flonheim wurde auf dem Weg zu meinem Haus erstochen. Ob er jedoch zu mir wollte, oder ob er nur Zuflucht im nächstgelegenen Haus suchte, steht noch nicht fest«, erwiderte Bandolf vorsichtig. »Kanntet Ihr den Mann?«
»Bruder Kilian ist erst vor einigen Tagen in Worms eingetroffen. Woher sollte er wohl einen Fremden kennen, der sich in Eurem Haus erstechen lässt?«, mischte sich der Kämmerer ein und warf Bandolf einen verärgerten Blick zu.
Der Mönch errötete. »Nein, ich kannte ihn nicht, Burggraf.«
Ungeduldig wippte der Kämmerer auf seinen kurzen Beinen. »Nun kommt, Bruder Kilian. Wir sollten den Sakristan nicht warten lassen. Er freut sich darauf, Euch unser Gotteshaus zu zeigen.«
Nachdenklich schaute Bandolf den beiden Männern hinterher. »Mir ist, als hätte ich Bruder Kilian schon einmal gesehen«, überlegte er laut.
»Kilian von Quedlinburg ist ein Abgesandter unseres jungen Königs. Wie man hört, steht er hoch in Heinrichs Gunst.« Bruder Goswin kräuselte spöttisch die Lippen. »Bruder Pothinus ist natürlich bemüht, dem Abgesandten des Königs unser Stift im strahlendsten Licht erscheinen zu lassen, da kam ihm der Vorfall heute Nacht im Kapitelhaus überhaupt nicht gelegen.«
»Kilian scheint mir noch recht jung zu sein für einen Abgesandten«, bemerkte Bandolf.
Bruder Goswin lächelte. »Kilian stand in den Diensten Adalberts von Bremen. Ich vermute, das macht den jungen Mönch für unseren König vertrauenswürdig. Besonders nach den unglückseligen Ereignissen in Tribur.«
Im Januar war es einer Gruppe von Fürsten gelungen, Erzbischof Adalbert von Bremen, den Mentor und Günstling König Heinrichs, zu stürzen. Für den blutjungen König hatte der Verlust seines Ratgebers eine empfindliche Einbuße seiner ohnehin noch nicht gefestigten Macht bedeutet, wogegen die Fürsten, allen voran der Erzbischof von Köln und der Herzog von Schwaben, wieder fest im Sattel saßen. Als Bruder des Schwabenherzogs gehörte auch der Bischof von Worms zum Klüngel jener ehrgeizigen Fürsten, die das Reich in ihrem Sinne zu regieren trachteten. Mit dem Sturz Adalberts von Bremen im Januar waren sie diesem Ziel ein gutes Stück näher gerückt.
»Tribur«, sagte Bandolf gedehnt. »Nach allem, was im letzten Herbst geschehen ist, hätte ich erwartet, dass Adalbert von Bremen mehr auf der Hut ist.«
Bruder Goswin zuckte mit den Schultern. »Ich fürchte, es hätte ihm nichts genutzt. Die Macht der Fürsten ist noch immer größer als der Wille König Heinrichs.«
Einen Moment lang verweilte Bandolf noch bei dem blutjungen König, der sich vergeblich gegen seine Fürsten zu behaupten suchte, seit er im letzten Jahr seine Mündigkeit erreicht hatte. Dann schob er den Gedanken beiseite und kam auf sein ursprüngliches Anliegen zurück.
»Kanntet Ihr Ulbert von Flonheim?«
»Kennen wäre zu viel behauptet«, antwortete Bruder Goswin nachdenklich. »Ich weiß, dass er schon einige Male in Worms gewesen ist, doch kannte ich ihn nicht näher. Aber Ihr solltet meinen Gehilfen nach ihm fragen, wenn er wieder zurück ist.«
»Euren Gehilfen?«
»Bruder Bartholomäus ist mit Ulbert verwandt gewesen. Der junge Mann hat ihn hin und wieder aufgesucht, wenn er in Worms war.« Nachdenklich runzelte der Scholasticus die Stirn. »Wenn ich mich recht entsinne, dann war Ulbert sogar erst vorgestern bei Bruder Bartholomäus.«
Also, das ist der ominöse Vetter, den Annalinde vergaß zu erwähnen, ging es Bandolf durch den Kopf. Laut fragte er: »Was wollte er von Bruder Bartholomäus?«
Goswin lachte: »Das weiß ich nun wirklich nicht. Wir nahmen gerade unser Mittagsmahl im Refektorium, als der Pförtner Bartholomäus Bescheid gab, sein Vetter stehe draußen und wolle ihn sprechen. Bruder Bartholomäus bat den Kämmerer um Erlaubnis, die Tafel verlassen zu dürfen und war noch nicht zurück, als wir unsere Mahlzeit beendeten. Als ich dann aber ins Skriptorium zurückkehrte, fand ich ihn dort schon an seinem Pult stehen.«
»Ihr sagtet, Bartholomäus sei fort?«
»Bruder Pothinus schickte ihn gestern Morgen mit einem Auftrag zu einer unserer Hufen. Er wird frühestens in zwei Tagen wieder hier sein«, antwortete der Scholasticus.
»Verdammnis«, knurrte der Burggraf. »Dann erzählt mir, was Ihr über Ulbert von Flonheim wisst.«
Offenbar hatte der junge Edelmann die meiste Zeit seines Lebens auf dem kleinen Lehen verbracht, das ihm nach dem Tod seines Vaters bestätigt worden war. Weder der Vater noch der Sohn schienen in der Bewirtschaftung des Gutes Geschick bewiesen zu haben, daher hatte Agilbert von Flonheim seinen Sohn mit der Tochter eines wohlhabenden Kaufmanns vermählt. Wie Goswin berichtete, nahm Ulbert es seinem Vater übel, dass er ihn unter Stand vermählt hatte, was ihn jedoch nicht daran hinderte, Annalindes Mitgift in ritterlichem Prunk anzulegen. Offenbar hatte Ulbert von Ruhm und Ehre geträumt. Da er sich jedoch von der Verpflichtung freigekauft hatte, in den Schlachten des Reiches zu kämpfen, war zu vermuten, dass sich sein Streben nach ritterlichem Ruhm auf das Tragen eines teuren Schwertes beschränkt hatte.
»War er verschuldet?«, fragte Bandolf.
»Darüber weiß ich nichts. Das solltet Ihr die Witwe oder Ulberts Hausmeier fragen.«
»Als ich Ulbert fand, trug er einen Beutel mit Silbermünzen bei sich. Wenn er Schulden hatte, dann war er vielleicht unterwegs, um sie zu begleichen«, meinte Bandolf. Dann fragte er, ob Bruder Goswin einen Mann kannte, der Garsendes Beschreibung von dem Fremden auf dem Marktplatz entsprach, doch der Scholasticus schüttelte den Kopf. Aber bei Bandolfs Frage nach Lothar von Kalborn erhellte sich sein Gesicht. »Lothar von Kalborn ist vor einigen Tagen nach Worms gekommen und nahm Quartier in der Bischofspfalz. Soviel ich weiß, ist er ein Lehnsmann des Markgrafen von Braunschweig.«
»Woher wisst Ihr das?«, erkundigte sich Bandolf.
Bruder Goswin lachte: »Eigentlich solltet Ihr das auch wissen. Bei der Messe anlässlich des Frühlingsfestes stand er im Dom direkt hinter Euch. Und während des anschließenden Banketts in der Pfalz saß er Eurer Gattin gegenüber.«
In Bandolfs Kopf formte sich das Bild eines hochgewachsenen Mannes, der Matthäa mit abstrusen Geschichten über seine Reisen für sich eingenommen hatte. »Zum Teufel auch, das war Lothar von Kalborn? Was will er hier in Worms?«
Mit einem erheiterten Lächeln, das dem grimmigen Ausdruck im Gesicht des Burggrafen galt, zuckte Bruder Goswin die Schultern.
»Na schön«, brummte Bandolf. »Ich werde ihn selbst fragen.«
»Glaubt Ihr denn, er hat etwas mit dem Mord an Ulbert zu schaffen?«, fragte Goswin neugierig.
»Ich weiß nicht einmal, ob Lothar Ulbert überhaupt kannte«, gab Bandolf zu und seufzte. »Im Moment greife ich noch nach jedem Strohhalm.«
Erhitzt strich sich Garsende eine vorwitzige Strähne aus der Stirn, die sich aus ihrem langen Zopf gelöst hatte. An ihrer Hand haftete feuchte Erde und hinterließ einen breiten Schmutzstreifen über der Augenbraue. Seit dem Morgengrauen arbeitete sie schon in den Beeten vor ihrer Hütte, lockerte den Boden um die Sträucher, riss Unkraut aus und bereitete die Beete für neue Pflänzchen vor, die bis zum Sommer wachsen und gedeihen sollten.
Fest entschlossen, sich von den Ereignissen der letzen Tage nicht aus dem Gleichgewicht bringen zu lassen, hatte sie sich am Abend niedergelegt, tief und traumlos geschlafen, und war am Morgen erfrischt und mit sich selbst im Reinen erwacht. Die Arbeit im Freien hatte dazu beigetragen, sie ihre Gelassenheit wiederfinden zu lassen.
Nach einem Blick in den Himmel packte Garsende das ausgegrabene Unkraut in einen Weidenkorb, erhob sich und klopfte notdürftig die gröbsten Brocken Erde von ihrer fleckigen Schürze ab. Während sie sich bückte und den Korb aufnahm, sah sie zufrieden über die säuberlichen Furchen in der Erde.
»Mein Herz und meine Leber.«
Die Stimme fuhr wie ein Messer durch ihren Leib.
Garsende erstarrte.
Der Korb schien plötzlich mit Blei gefüllt zu sein. Ihr Herz schlug Kapriolen und flatterte in ihrem Hals. Sie spürte, wie das Blut aus ihrem Gesicht wich. Ein einziger Windhauch jetzt, und ich sinke in meinen Rosmarin, dachte sie. Zugleich erfasste sie heftiger Zorn. Das Blut schoss zurück in ihre Wangen, und mit blitzenden Augen wirbelte sie herum.
»Hattet Ihr mir nicht gesagt, Ihr würdet mir fernbleiben, solange ich das wünsche?«, rief sie.
Sein Blick lag forschend auf ihr, und sie versuchte erst gar nicht, ihm auszuweichen.
Lothar von Kalborn war ein hochgewachsener Mann, noch eine Handbreit größer als der Burggraf, und seine sehnige Gestalt war ihr bereits so nah, dass sein Umhang ihren Ärmel streifte.
Heilige Jungfrau, wieso habe ich sein Kommen nicht bemerkt?, fuhr es Garsende durch den Kopf. Hastig trat sie einen Schritt zurück.
»Ich hatte auch nicht vor zu kommen«, sagte er. Das vertraute spöttische Lächeln nistete in seinen Mundwinkeln und spiegelte sich in seinen dunklen Augen. »Doch nachdem ich dich auf dem Marktplatz wiedergesehen hatte ...«
»Ihr habt mich gesehen?«, entfuhr es Garsende.
Er zuckte mit den Schultern. »Du hast mich doch auch gesehen.«
»Ja ... das schon ... Aber ich wusste nicht ...« Sie stockte. Dann riss sie sich zusammen. »Es tut nichts zur Sache. Ihr hättet nicht hierherkommen sollen.«
»Vielleicht nicht. Doch du magst es leugnen oder nicht, im Grunde deines Herzens hast du mich erwartet.«
In seinen Worten steckte so viel Wahrheit, dass ihr keine passende Erwiderung einfiel. Stumm starrte sie ihn an.
Eine braune Haarsträhne hing Lothar verwegen in die Stirn. Sein Gesicht war schmaler geworden, seit er zum letzten Mal vor ihrer Hütte gestanden hatte. Die Wangenknochen traten deutlich hervor, und das Kinn war noch kantiger, als sie es in Erinnerung hatte. Über dem breiten Mund mit den geschwungenen Lippen dominierte eine große Nase, gebogen wie der Schnabel eines Adlers. Er war kein schöner Mann, doch seine Züge waren von der anziehenden Art, wie man sie nicht vergaß.
Garsende ertappte sich bei dem Bedürfnis, ihm die Strähne aus der Stirn zu streifen, wie sie es früher oft getan hatte.
»Zur Hölle mit Euch«, murmelte sie.
»Aber da bin ich schon gewesen.« Das Lächeln war aus seinem Gesicht verschwunden. »Seit dem Tag, da du mich vor die Tür gesetzt hast. Du bist mein Herzblut, und wie es scheint, lässt sich daran auch nichts mehr ändern.«
»Mein Herzblut ist aber noch immer kein edles, und auch daran lässt sich nichts ändern.« Sie merkte selbst, wie bitter das klang, und senkte den Kopf.
Lothar hob die Schultern. »Nein«, gab er zu. »Und nichts lag mir ferner als hierherzukommen, das kannst du mir glauben. Aber als ich dich dort auf dem Marktplatz stehen sah, konnte ich dir einfach nicht fernbleiben.«
Jetzt, spätestens jetzt war der Zeitpunkt, ihm zu sagen, dass sein Kommen zwecklos war. Dass er gehen müsste. Dass sie nicht wieder in seine Arme sinken würde, um sich das Herz zerreißen zu lassen. Dass sie ihn nicht mehr liebte.
»Warum seid Ihr überhaupt nach Worms gekommen?«, hörte sie sich mit spröder Stimme fragen.
»Das zu erzählen, würde ein Weilchen dauern«, sagte er. Garsende hob den Kopf und sah ihm in die Augen, doch konnte sie nicht darin lesen, und alles, was sie fand, war ein Blick, der sie zu liebkosen schien.
In verzweifeltem Ringen mit sich selbst biss sie sich auf die Lippen und wusste doch, dass sie den Kampf schon wieder verloren hatte. Das Weidengeflecht schnitt ihr in die Hände, so fest umklammerte Garsende den Korb, als sie ihren Zopf in den Nacken warf und an Lothar vorbei zur Hütte eilte. An den leichten Schritten hinter sich hörte sie, dass er ihr folgte.
Nach seinem Gespräch mit Bruder Goswin hatte der Burggraf die Bischofspfalz aufgesucht, um mit Lothar von Kalborn zu sprechen. Doch dort erfuhr er, dass der Edelmann die Pfalz nach einem Frühstück mit dem Vogt des Bischofs verlassen hatte und noch nicht zurückgekehrt sei.
Die Erwähnung eines Frühstücks erinnerte Bandolf daran, dass auch er seit seinem Morgenmahl nichts mehr zu sich genommen hatte. Er beschloss, das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden und sich beim Wirt am Markt nach Ulberts beiden Kumpanen zu erkundigen.
Kaum hatte der Burggraf die Pforte passiert und war auf den Domplatz getreten, fand er sich von einem Fremden angerempelt, der es offenkundig eilig hatte, die Bischofspfalz zu betreten.
»Passt doch auf, wo Ihr hintretet!«, knurrte der Mann und starrte Bandolf ungehalten an.
Der Fremde war um gut einen Kopf kleiner als der Burggraf, doch der reich bestickte Mantel, der über der rechten Schulter mit einer aufwendig verzierten Fibel geschlossen war, vermochte seinen muskulösen Körper nicht zu verbergen.
»Die Entschuldigung liegt bei Euch, würde ich meinen«, gab Bandolf kühl zurück.
Der Fremde hob eine Augenbraue, und sein Blick glitt abschätzend vom bärtigen Gesicht des Burggrafen über seine breite Brust und das Schwert, das an seinem Gürtel hing, bis zu den stiefelbewehrten, kräftigen Beinen.
»Und wer fordert sie ein?«, fragte er schließlich.
»Bandolf von Leyen, der Burggraf von Worms.«
Die hellen Augen über der breiten Stirn nahmen plötzlich einen wachsamen Ausdruck an.
»Ihr seid der Burggraf von Worms?«
»Ganz recht. Und mit wem habe ich das Vergnügen?«
»Raoul de Saint Rémy, Graf in Burgund.«
Ein Welscher, fuhr es Bandolf durch den Kopf. Er kniff die Augen zusammen. War es der feindselige Ton? Oder der wachsame Blick? Irgendetwas an diesem Mann erregte seinen Argwohn. »Und was führt Euch in die Stadt?«, fragte er.
»Was geht Euch das an?«, blaffte Raoul.
Bandolf zuckte mit den Schultern. »Jemand hat gestern Nacht das Gesetz des Königs gebrochen und einen jungen Edelmann ermordet. Wollt Ihr Euch verdächtig machen, indem Ihr mir Auskünfte verweigert?«
»Damit habe ich nichts zu schaffen.«
»Wenn dem so ist, wird es Euch auch keine Mühe machen, mir zu sagen, wann Ihr in Worms eingetroffen seid und wo Ihr Euch gestern Nacht aufgehalten habt«, meinte Bandolf.
Der Burgunder warf seinen Kopf in den Nacken und lachte schallend, doch wenig erheitert. »Den Teufel werde ich tun, mich vor einem wie Euch zu rechtfertigen«, rief er und schickte sich an, an dem Burggrafen vorbei durch die Pforte der Pfalz zu treten.
Rasch trat ihm Bandolf in den Weg.
»Mein Stand mag dem Euren nicht ebenbürtig sein, doch als Burggraf dieser Stadt habe ich den Blutbann inne«, erklärte er kalt. »Das berechtigt mich, Euch Fragen zu stellen, wenn es mir angebracht erscheint.«
»Untersteht Ihr Euch, mir zu drohen?« Raouls Hand fuhr an das Schwert, das an seinem Gürtel hing, und für einen Augenblick sah es so aus, als wolle er dem Burggrafen mit der Klinge antworten. Ruhig hielt Bandolf seinem drohenden Blick stand, und langsam entfernte der Edelmann die Hand wieder von seinem Schwert.
»Na schön, Burggraf«, lenkte er ein. »Worms liegt auf meinem Weg in den Norden. Ich traf am Tag der Vierzig Märtyrer in der Stadt ein und beabsichtige, noch einige Tage hier zu verweilen. Meine Leute werden sich in der Stadt nach Proviant für meine Weiterreise umtun. Derweil gedenke ich, einige meiner Freunde aufzusuchen.« Seine Lippen kräuselten sich. »Mit Eurer gütigen Erlaubnis«, fügte er hinzu.
»Zählt Ihr Ulbert von Flonheim zu Euren Freunden?«, erkundigte sich Bandolf, den Spott geflissentlich ignorierend.
»Nie gehört. Und jetzt tretet beiseite.«
Der Burggraf rührte sich nicht. »Eine letzte Frage noch: Wo befandet Ihr Euch in der Nacht des Frühlingsfestes?«
»In meiner Bettstatt, wo denn sonst.«
Als Bandolf einen Schritt zurücktrat, um Raoul de Saint Rémy passieren zu lassen, unterdrückte er ein erleichtertes Seufzen. Männer von Raouls hochfahrender Art, die glaubten, ihr Stand berechtige sie, sich über das Amt des Burggrafen hinwegzusetzen, waren ihm schon einige begegnet, und nicht immer war eine solche Begegnung glimpflich verlaufen. Nachdenklich sah er ihm hinterher. Stolz und Standesdünkel waren keine ausreichenden Gründe, jemanden des Mordes zu verdächtigen. Der Frage nachzugehen, warum ein burgundischer Graf seine Reise in Worms unterbrach und nicht im nahe gelegenen Lorsch, um dem König seine Aufwartung zu machen, mochte sich jedoch lohnen.
Gerüche nach abgehangenem Fleisch, Fisch und Geflügel, vermischt mit dem Duft nach Kräutern und Gewürzen und dem Gestank der Abfälle und Fäkalien, begleiteten Bandolfs Weg die Hohlgasse hinunter zum Marktplatz. Obwohl kein Markttag war, hatte der lange vermisste Sonnenschein die Menschen auf die Gassen gelockt, und sie erfüllten die Stadt mit Leben. Die Hütten der Handwerker, Eigenleute des Bischofs, säumten den Marktplatz, und aus den geöffneten Verschlägen drang der Lärm ihrer Stimmen und ihres Tagewerks.
Der Schankraum des Marktwirts war um diese Zeit noch fast leer. Nur ein Grüppchen eifrig debattierender Pilger saß am Tisch beisammen, die von Bandolf kaum Notiz nahmen, als er sich an der langen Tafel niederließ. Über der Herdstelle hing ein Kessel, dem der Duft nach kräftig gewürzten Linsen und Speck entströmte, was dem Burggrafen ein erfreutes Lächeln entlockte. Kaum hatte er es sich bequem gemacht, stellte Oswin, der Wirt, auch schon unaufgefordert eine Schüssel mit Linsen und einen großzügig bemessenen Kanten Brot auf den Tisch.
»Lasst’s Euch schmecken, Burggraf.«
»Sobald du dein vierschrötiges Gesicht aus meiner Schüssel nimmst.«
Der Wirt lachte und ging.
Nach seiner Mahlzeit hatte sich Bandolfs Laune beträchtlich gehoben, und als Oswin seinen Becher ein zweites Mal mit verdünntem Bier füllte, erkundigte sich der Burggraf nach Ulberts Kumpanen.
»Da müsst Ihr zur Non’ wiederkommen«, meinte der Wirt. »Um diese Zeit pflegen die Bürschchen noch ihren Rausch auszuschlafen.«
»Soll das heißen, sie haben bei dir Quartier genommen?«
Der Wirt nickte. »Winand ist auf dem Weg zum väterlichen Gut, doch hat er es offenbar nicht eilig damit. Und Eberold vom Bruch wollte nach Lorsch. Er behauptet, er werde dort erwartet. Doch fragt mich nicht, wann er das in die Tat umsetzen will.« Skeptisch verzog er das Gesicht. »Ich will nur hoffen, sie werden ihre Zeche am Ende begleichen.«
»Wenn du Schwierigkeiten damit bekommst, dann sag es mir«, brummte Bandolf. Er stand auf und schüttelte die letzten Tropfen aus seinem Becher auf den strohbedeckten Boden, bevor er ihn in der Tasche seines Umhangs verstaute. »Und jetzt zeig mir den Weg nach oben.«
Oswin protestierte halbherzig und gab zu bedenken, dass es sich immerhin um zwei Herren von Stand handle, die verärgert sein könnten, wenn man sie störte. Doch Bandolf verspürte nicht die geringste Lust darauf zu warten, dass die beiden Burschen wach und nüchtern genug wären, um seine Fragen zu beantworten.
Wie erwartet, fand er Winand und Eberold friedlich schnarchend in der Kammer des Wirts, in der Strohlager für etwa ein Dutzend Gäste aufgeschüttet waren.
»Die Slawen stürmen die Stadt!«, brüllte der Burggraf.
Winands brauner Schopf verschwand unter der Decke, während Eberold mit offenem Mund hochfuhr. Er blinzelte den Burggrafen verschlafen an.
»Was ... was ... soll der Lärm?«, stammelte er und tastete nach seinem Nachbarn. Die Mündigkeit des jungen Burschen lag sicher noch keine drei Jahre zurück, dennoch zeigten sich schon erste Spuren von Verlebtheit in seinem Gesicht. Auch Winand, der nun ebenfalls hinter seiner Decke auftauchte, machte kaum einen frischeren Eindruck. »Der Burggraf«, murmelte er.
»Wie könnt Ihr es wagen, hier einfach einzudringen?«, fauchte Eberold.
»Ich habe Fragen an Euch, die keinen Aufschub dulden«, erklärte Bandolf und starrte mit grimmigem Gesicht auf die beiden hinunter. Winand zog fröstelnd die Decke über seinen nackten Oberkörper und machte ein mürrisches Gesicht. »Was für Fragen?«
»Ihr wart Freunde von Ulbert von Flonheim und habt Euch auch am Tag seines Todes mit ihm getroffen. Ich will wissen, was Ihr an diesem Tag bis zum nächsten Morgen gemacht habt, wann Ihr Euch mit Ulbert getroffen habt und wo Ihr gewesen seid.«
»Hätte das nicht Zeit bis später?«, brauste Winand auf, der seinen Mut offenbar wiedergefunden hatte.
Der Burggraf machte es sich auf einer wurmstichigen Truhe bequem. »Je eher Ihr mir sagt, was ich wissen will, umso schneller könnt Ihr Eure Nachtruhe wieder aufnehmen«, erklärte er freundlich.
Nachdenklich verließ Bandolf das Wirtshaus. Was Eberold und Winand ihm erzählt hatten, ergab für ihn keinen Sinn.
Die beiden hatten sich am Tag des Frühlingsfestes mit Ulbert zur Sext beim Wirt am Markt verabredet, doch Ulbert verspätete sich beträchtlich. Den Grund konnte sich Bandolf denken, denn Ulbert hatte vor dem Treffen beim Wirt am Markt noch seinen Vetter aufgesucht.
Die drei Herren beschlossen, sich auf der kleinen Hahnwiese vor der Stadt unters Volk zu mischen, wo an diesem Tag das Frühlingsfest gefeiert wurde, und verloren sich dort über kurz oder lang im Getümmel aus den Augen. Eberold sah Ulbert später noch einmal, als es bereits dämmerte und er mit einem jungen Weib an seiner Seite das Fest Richtung Fluss verließ.
Die beiden schworen Stein und Bein, dass sie Ulbert hernach nicht mehr begegnet wären und das Fest zu sehr später Stunde gemeinsam verlassen hätten.
Während der ganzen Zeit, die Eberold und Winand mit Ulbert zusammen gewesen waren, hatte er kein Wort über den Streit auf dem Marktplatz verloren. Besorgt hatte er nicht gewirkt – ganz im Gegenteil, er war offenbar in bester Stimmung gewesen.
Die Herkunft des Kränzchens in Ulberts Tasche schien nun geklärt. Das mochte ihm das junge Weib geflochten haben, mit dem Ulbert im Wald verschwunden war.
Aber warum tauchte er nach seinem Stelldichein mitten in der Nacht in der Münzergasse auf, anstatt sein Quartier aufzusuchen?, grübelte Bandolf.
Die kleine Hahnwiese befand sich in der Nähe der Pfauenpforte, und der kürzeste Weg zurück zum Stift St. Andreas wäre durch die kleine Wollgasse über den Steinweg zur Sterzergasse gewesen. Was, zum Henker, hatte Ulbert dann zu nachtschlafender Zeit in eine ganz andere Richtung getrieben? War Bandolfs Haus tatsächlich sein Ziel gewesen? Was konnte Ulbert nur von ihm gewollt haben? Und wer hatte ihm aufgelauert, um ihn niederzustechen? Wer konnte überhaupt davon gewusst haben, dass er dort um diese Stunde sein würde? War ihm jemand von der Hahnwiese aus gefolgt?
Wie Bandolf es auch drehte und wendete, das alles ergab keinen Sinn!
Abgesehen von den Umständen seines Todes, schien sich Ulbert in nichts von anderen jungen Männern seines Standes unterschieden zu haben. Vielleicht nicht übermäßig klug, tat er für sein Lehen doch, was er konnte, hatte sich nach dem Willen des Vaters vermählt und vergnügte sich mit seinen Kumpanen und willigen Weibern, sobald er in der Stadt war. Außer dem Streit auf dem Marktplatz schien sich in Ulberts Leben nichts Außergewöhnliches abgespielt zu haben. Und auch dieser Vorfall konnte einen durchaus banalen Hintergrund gehabt haben. Wenn sein Angreifer aus dem Italienischen stammte, mochte es ein verärgerter Kaufmann gewesen sein, den Ulbert übervorteilt hatte oder dem er etwas schuldete. Aber Kaufleute pflegten ihre Schuldner nicht umzubringen, sondern die Schulden einzuklagen.
Unversehens hatte Bandolf sein Haus erreicht, doch vor dem Tor zögerte er. Da hatte es doch etwas auf Ulberts Weg gegeben, das als ungewöhnlich gelten mochte.
Seufzend machte der Burggraf kehrt.
Noch so ein Strohhalm, dachte er fatalistisch, als er die Stadt durch die Pfauenpforte verließ.