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Kapitel 2

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Und was gedenkt Euer Gatte nun wegen dieses unseligen Toten zu unternehmen?«, fragte Eltrudis spitz. Sie nahm das feuchte Tuch von ihrer Stirn und reichte es Matthäa, die neben der Bettstatt kniete. »Wenn ich gewusst hätte, welche Aufregungen mich hier erwarten, wäre ich trotz Eurer Bitten nicht gekommen, dessen könnt Ihr gewiss sein.«

Wer hat dich denn gebeten?, dachte Matthäa mit einem Anflug unchristlichen Zorns.

Eltrudis war die Schwester ihrer verstorbenen Mutter. Im Gegensatz zu Katharina von Eich, die mit einem Scholasticus des Erzbischofs von Köln vermählt worden war, hatte Eltrudis in die Sippschaft derer von Löfenau eingeheiratet, die reiche Ländereien am oberen Rhein besaßen. Vor kurzem war ihr wohlhabender Gatte gestorben, und Eltrudis, die kinderlos geblieben war, hatte beschlossen, ihr beträchtliches Wittum einem Kloster zu übereignen, in dem sie ihren Lebensabend verbringen konnte. Um ein geeignetes Ordenshaus zu finden, in dem man es ihr auch an nichts fehlen lassen würde, beehrte sie nun reihum ihre Verwandten mit ihrem Besuch, in deren Nähe sich ein Nonnenkloster befand. Bisher hatte noch keines Gnade vor ihren Augen gefunden, und Matthäa schloss in ihre täglichen Gebete die innige Bitte mit ein, die Wahl ihrer Tante möge nicht auf das bei Worms gelegene Mariamünster fallen.

Die Nachricht, dass ein junger Edelmann tot vor der Türschwelle lag, hatte Eltrudis umgehend auf ihr Lager geworfen. Matthäas Vorschlag, die Heilerin zu ihr zu schicken, sobald Garsende in der Scheune mit ihrer Arbeit fertig sei, hatte sie empört zurückgewiesen. »Eine dieser Kräuterdruden kommt mir nicht in die Kammer. Wie könnt Ihr mir dergleichen zumuten?« Und mit ersterbender Stimme hatte sie hinzugefügt: »Doch wenn ich Euch zur Last falle, dann sagt es nur.«

Hastig hatte die Burggräfin versichert, die Tante sei keineswegs eine Last, und sie würde schon dafür sorgen, dass es ihr an nichts fehle. Seither thronte Eltrudis in ihrer Kammer wie eine Königin und scheuchte ihre Nichte mit immer neuen Wünschen treppauf und treppab.

Matthäa unterdrückte ein Seufzen und zwang sich zu einem Lächeln. »Wir hatten Glück im Unglück«, sagte sie laut, während sie das Tuch in eine Schüssel mit Lavendelwasser tauchte. »Pater Egidius hat den Toten erkannt und wusste, dass er mit seiner Gattin und seinem Gefolge im St.-Andreas-Stift logierte.«

»Und was wollte er hier mitten in der Nacht?«

Matthäa zuckte mit den Schultern. »Das wird sich sicher noch aufklären«, meinte sie vage. Bandolf hatte ihr berichtet, dass Garsende zu dem Schluss gekommen war, der junge Edelmann sei ermordet worden. Doch das wollte sie der Tante jetzt nicht sagen. Eltrudis würde es noch früh genug erfahren und ihren Verdruss darob über der Burggräfin ausgießen.

Müde strich sich Matthäa eine rotblonde Strähne aus der Stirn. Schon seit Tagen fühlte sie sich ständig erschöpft und niedergeschlagen, als würde ein finsterer Dämon ihre Sinne vernebeln. Im Stillen hoffte sie, ihr Zustand rühre von der Anstrengung, der Tante den gebührenden Respekt zu erweisen, und wäre nicht Vorbote einer schlimmen Krankheit.

Sie wrang das Tuch aus und legte es zurück auf Eltrudis’ Stirn. »Ihr solltet von dem Brei essen, den ich Euch gebracht habe«, empfahl sie.

Eltrudis warf ihr einen entrüsteten Blick zu. »Wie könnt Ihr annehmen, ich würde auch nur einen Bissen bei mir behalten, solange ein ruheloser Geist in diesem Haus herumgeht?«

Matthäa seufzte. »Pater Egidius’ Gehilfen haben den Leichnam zur St.-Magnus-Kirche gebracht, wo er mit allen Ehren aufgebahrt wird.«

Eltrudis reckte ihr rundliches Kinn. »Doch das Haus ist noch nicht gereinigt«, widersprach sie mit fester Stimme, die ihre leidende Miene Lügen strafte.

»Sobald der Pater die nötigen Vorbereitungen getroffen hat, wird er zurückkommen und tun, was nötig ist«, versicherte Matthäa und erhob sich. »Ich werde nachschauen, ob Filiberta mit dem Stärkungstrank für Euch fertig ist.«

»Tut das, meine Liebe. Doch bevor Ihr geht, holt mir meinen Schal aus der Truhe. Mich fröstelt ein wenig.«

Gehorsam ging Matthäa zur Truhe, die vor der Bettstatt stand. »Euer Mantel ist feucht«, bemerkte sie erstaunt, als sie Eltrudis’ Umhang vom Deckel nahm, um die Truhe öffnen zu können. Eltrudis richtete sich hastig auf, und für einen Moment hatte Matthäa das Gefühl, als sei sie erschrocken. Doch musste sie sich wohl getäuscht haben, denn Eltrudis legte sich gleich wieder zurück und meinte nur: »Ein kleiner Schauer hat mich überrascht, als ich gestern zur Messe ging.«

Mit einem Stirnrunzeln legte ihr die Burggräfin den Schal um die Schultern und war im Begriff, die Kammer zu verlassen, als Eltrudis sie noch einmal zurückrief: »Ihr habt mir noch gar nicht gesagt, wer der Tote denn nun war?«, fragte sie.

»Pater Egidius sagte, der Mann hieße Ulbert von Flonheim.«

Eltrudis stieß einen gurgelnden Laut aus, und Matthäa drehte sich überrascht um. »Kanntet Ihr ihn?«

»Ich kannte seinen Vater«, flüsterte Eltrudis. Die rosige Farbe war plötzlich aus ihren Wangen verschwunden. »Doch das ist lange her.«

»Das müsst Ihr meinem Gatten erzählen. Womöglich hilft ihm das weiter.«

Eltrudis hob den Kopf und funkelte ihre Nichte an. »Ich sagte doch, es ist lange her. Und für Euren Gatten nicht von Belang. Nun lasst mich allein.«

Verwundert schloss Matthäa die Tür hinter sich und eilte die Treppe hinunter. Unten angekommen, blieb sie plötzlich stehen und runzelte die Stirn. Es hatte gestern tagsüber nicht geregnet. Oder doch?

Der Burggraf zog seinen Mantel enger um sich, als er die Münzergasse in Richtung Hachgengasse hinunterstapfte. Obwohl es der Märzsonne gelungen war, die dunklen Wolken gänzlich zu vertreiben, war es ein frostiger Morgen. Eine kühle Brise wehte die vielfältigen Gerüche der Stadt an Bandolfs Nase. Es roch nach den scharfen Beizen der Gerber, Färber und Abdecker, deren Handwerk und deren Hütten bachabwärts an den äußersten Rand der Stadt verbannt worden waren. Der Gestank mischte sich mit dem Geruch nach Trester, Viehdung und anderen Abfällen, die den aufgeweichten Boden zum schlierigen Morast machten. Doch ganz schwach schmeckte der Burggraf auch schon den Duft von Gebrutzeltem aus den Schankstuben auf den Lippen, und seine Stimmung hob sich. Mochten die Pfaffen die Stadt auch als Sündenpfuhl verschreien, und mochten sich die Edelleute über Gestank und lärmendes Klopfen, Hämmern und Schlagen aus den Werkstätten bei ihm beschweren, wenn sie zu Hof- und Festtagen in die Stadt strömten – hier in Worms herrschte das Leben.

Stiftsherren eilten mit hochgeschlagenen Kapuzen ihrer dicht gewobenen Winterroben durch die Gassen, während Tagelöhner und Knechte sich an ihrer Arbeit und der Aussicht auf eine heiße Suppe zur Sext erwärmen mussten. Einige Edeldamen trotzten der Kälte mit pelzverbrämten Umhängen, um nach der Messe müßig durch die Stadt zu schlendern und sich am neuesten Klatsch zu ergötzen. Pilger zogen mit frommen Gesängen auf den Lippen durch die Gassen, den Stiftskirchen zu, um des Segens ihrer kostbaren Reliquien teilhaftig zu werden.

Handkarren und Fuhrwerke der Bauern, Kaufleute, die um einen Preis für ihre Ware schacherten, Streuner und Tagediebe, die sich hastig um die nächste Ecke drückten, wenn sie den Burggrafen sahen, belebten die Gassen ebenso wie spielende Kinder und Schweine, die im Unrat vor den Häusern wühlten.

Im letzten Jahr hatte Bandolf beim Bischof das Verbot für Gerber und Färber durchgesetzt, ihre Beizwässer auf den Plätzen auszuleeren und das Auswaschen von Unrat in den Brunnen zu untersagen. Ebenso hatte er vorgeschlagen, die Unsitte der Leute mit einer Buße zu belegen, Asche, Bauschutt, Tierkadaver und ähnlichen Kehricht einfach auf die Gassen zu werfen, doch war er damit auf taube Ohren gestoßen.

»Was erwartet Ihr, mein Lieber? Kain hat die Städte erfunden. Denkt nur an Babylon. Da lässt sich nichts ändern«, hatte der Bischof gemeint und ihm anstelle eines Bescheids ein süßes Konfekt angeboten, von dem stets etwas in seiner Nähe zu finden war.

Der Gedanke an Seine Eminenz, Adalbero von Rheinfelden, den Bischof von Worms, brachte Bandolf wieder auf sein gegenwärtiges Problem zurück. Sein Gesicht verfinsterte sich. Schlimm genug, dass Ulbert von Flonheim auf seinem Anwesen gestorben war, doch musste sich der Mann auch noch ermorden lassen? Der Bischof hielt sich derzeit im Gefolge des jungen Königs in Lorsch auf. Das Reichskloster zu Lorsch war nur knapp einen Tagesritt von Worms entfernt. Es würde also nicht lange dauern, bis der unglückselige Vorfall auch Adalbero zu Ohren käme. Zweifellos würde sich der fette Bischof auf die günstige Gelegenheit stürzen, seinen unliebsamen Burggrafen loszuwerden. Bandolf biss sich auf die Unterlippe, und für einen Moment schien sich sein Magen umstülpen zu wollen. Wenn es ihm nicht gelänge, Ulberts Mörder zu finden und den Verleumdungen Adalberos zuvorzukommen, konnte er sich ohne weiteres alsbald auf dem Richtplatz wiederfinden.

Wenigstens kenne ich den Namen des Toten, überlegte Bandolf, als er den Marktplatz überquerte. Doch viel mehr als das hatte Pater Egidius ihm nicht berichten können, als er im Haus des Burggrafen eintraf, um den Leichnam ins Beinhaus seiner Kirche schaffen zu lassen. Offenbar hatte der junge Ulbert von Flonheim mit seiner Gattin und einem kleinen Gefolge Quartier im Stift St. Andreas genommen.

»Annalinde, sein Weib, besucht regelmäßig meine Messe in St. Magnus. Ich denke, es wird ihr recht sein, dass der Leichnam ihres Gatten dort aufgebahrt wird«, hatte der Pater gesagt, nachdem er mit leiser Stimme ein Gebet für Ulberts Seele gesprochen und das Gesicht des Toten wieder bedeckt hatte. »Ein Jammer, wenn ein so junger Mensch aus dem Leben scheiden muss. Doch wenigstens hinterlässt er einen Sohn.«

Einen schmerzlichen Moment lang dachte Bandolf an das Kind, das Matthäa vor einigen Jahren verloren hatte, als sie die Treppe im Haus hinuntergestürzt war. Es war das einzige Mal geblieben, dass sie guter Hoffnung gewesen war.

Bandolf seufzte. Dann riss er sich von seinen trüben Gedanken los und wandte sich wieder seinem dringenderen Problem zu. Er dachte an den Münzbeutel, den er bei dem Leichnam gefunden hatte. Niemand, der seinen Verstand beisammen hatte, schleppte nach Einbruch der Dunkelheit so viel Silber mit sich durch die Gassen einer Stadt. War er um ihretwillen getötet worden? Doch wenn der dunkelhäutige Mann, der ihn auf dem Marktplatz einen Dieb und Lügner genannt hatte, Ulbert wegen des Silbers nachts auflauerte und niederstach, warum hatte er ihm den Münzbeutel dann nicht abgenommen? War Ulbert am Ende selbst ein Dieb und hatte die Münzen gestohlen?

Bandolfs Ankunft vor der Pforte zum Stift St. Andreas setzte seinen Spekulationen ein Ende.

Eine hohe Mauer, hinter der der Glockenturm der Kirche aufragte, umgab das Stift und verlieh ihm klösterliche Abgeschiedenheit.

Bandolf klopfte an die Pforte.

Er musste sich in Geduld fassen, bis er schlurfende Schritte hinter dem Tor hörte. Der Bruder, der die Pforte nur einen Spalt breit öffnete, schien Mühe mit seinem Gleichgewicht zu haben. Er schwankte, seine Kutte roch nach schalem Wein, und er blinzelte den Burggrafen so schläfrig wie misstrauisch an.

Der Propst sei unabkömmlich, der Kämmerer nicht zu sprechen, und der Dekan befinde sich nicht wohl, informierte er Bandolf, bevor der verdutzte Burggraf noch sein Anliegen Vorbringen konnte. Ob der Herr wohl mit dem Cellerar vorliebnehmen wolle?

»Ich bin nicht gekommen, um mit dem Koch zu plaudern«, brummte Bandolf. Das Stift St. Andreas genoss nicht den besten Ruf in der Stadt, und er fragte sich, ob der betrübliche Zustand des Pförtners wohl sein üblicher war oder nur ein Überbleibsel des gestrigen Frühlingsfestes.

Laut fragte er: »Wie ich hörte, hat der Edelmann Ulbert von Flonheim hier Quartier genommen?«

Der Bruder schien nicht gewillt, den Burggrafen einzulassen. Er verzog das Gesicht und dachte augenscheinlich angestrengt nach. Doch schließlich nickte er. »Ihr habt recht. Ich kann Euch aber nicht sagen, ob er auch im Haus ist.«

»Er ist ganz bestimmt nicht im Haus«, knurrte Bandolf. »Ich will mit seiner Gemahlin sprechen.«

Der Pförtner feixte. Bandolf starrte ihn finster an, und das weinselige Grinsen verschwand.

»Um genau zu sein, kann ich Euch auch nicht sagen, ob seine Gemahlin im Haus ist. Womöglich hat sie die Messe in St. Magnus besucht und ist noch nicht zurückgekehrt?«

»Dann seht doch nach«, empfahl ihm der Burggraf.

»Warum kommt Ihr nicht später wieder?«, schlug der Pförtner vor und wollte die Tür offensichtlich vor Bandolfs Nase schließen. Endgültig erzürnt schob der Burggraf rasch seinen Stiefel in den Spalt und warf sein Gewicht gegen die Pforte.

Bevor der Bruder sein Gleichgewicht wiedergefunden hatte und ihm hinterherprotestierte, eilte der Burggraf bereits über den ummauerten Hof, der zwischen dem Tor und der Stiftskirche lag. Links neben der Kirche fand er einen Torbogen, der am Kräutergarten vorbei zur Pforte ins Kapitelhaus führte. In den mager bestückten Beeten grub ein Laienbruder die nasse Erde um und gab Bandolf bereitwillig Auskunft, wo er das Quartier von Ulbert von Flonheim finden würde.

In der Zelle, die man Ulbert und seiner Gemahlin zugewiesen hatte, herrschte ein heilloses Durcheinander. Leibwäsche, Schleier und Hemden lagen über der Bettstatt verstreut. Becher, Schalen und anderer Hausrat stapelten sich auf einem unordentlichen Haufen neben einer geöffneten Truhe.

Ulberts Gemahlin stand mit einem Arm voller Tücher über die Truhe gebeugt und kehrte Bandolf den Rücken zu. Offenbar war sie den Tafelfreuden zugeneigt, denn das reich bestickte Gewand, das sie trug, spannte um ihre fülligen Hüften.

»Stell den Korb mit dem Kind auf die Bank, und dann geh ins Refektorium und sieh zu, dass du etwas Genießbares für mich auftreibst«, befahl sie, ohne sich umzudrehen. »Ich bin sicher, der Cellerar kredenzt den Stiftsherren Besseres als nur einen trockenen Kanten Brot, den man mir in der Früh zugemutet hat.«

Bandolf lächelte. »Davon bin ich überzeugt.«

Annalinde ließ den Stapel Wäsche fallen und wirbelte herum.

»Bei allen Heiligen!«, keuchte sie. »Wer seid Ihr?«

Ihr rundliches Gesicht war gerötet, und sie schaute ihn gereizt an, doch mochte der Ausdruck auch an den dichten schwarzen Augenbrauen liegen, die über ihrer flachen Nase zusammenstießen.

»Verzeiht, wenn ich Euch erschreckt habe«, sagte Bandolf mit einer angedeuteten Verbeugung. »Ich bin Bandolf von Leyen, der Burggraf der Stadt Worms.«

»Der Burggraf«, wiederholte sie leise und biss sich auf die vollen Lippen. »Pater Egidius sagte mir schon, dass Ihr mich aufsuchen würdet. Ich hatte Euch nur nicht so bald erwartet.« Hastig nahm sie eines der Laken von der Bettstatt und warf es über den Stapel neben der Truhe.

»Wollt Ihr Worms verlassen?«, erkundigte sich der Burggraf.

»Nein ... ich ... nein, warum fragt Ihr?«

Wortlos deutete Bandolf auf die Unordnung im Raum. Annalinde klappte rasch den Deckel der Truhe zu. Einen Moment blieb sie stehen und runzelte die Stirn, als wäre sie unschlüssig, was sie mit dem Burggrafen anfangen sollte. Dann straffte sie sich. »Was führt Euch zu mir?«

»Nun, zunächst möchte ich Euch meines Beileids versichern.«

»Ich danke Euch, Burggraf. Ich weiß Eure Anteilnahme wohl zu schätzen.«

Einen Augenblick zögerte der Burggraf, während die junge Witwe ihn zurückhaltend musterte.

»Hat Pater Egidius Euch auch berichtet, wie Euer Gatte ums Leben kam?«, erkundigte er sich schließlich.

Annalinde schüttelte den Kopf, sagte jedoch nichts.

»Ulbert von Flonheim wurde niedergestochen«, fiel Bandolf mit der Tür ins Haus und schalt sich gleich darauf einen Tölpel. Annalindes Wangen verloren schlagartig an Farbe. Mit abwehrend vorgestreckten Händen wich sie vor Bandolf zurück und ließ sich matt auf die Bank sinken, die in die Mauer der Zelle eingelassen war.

»Ulbert wurde ermordet?«, hauchte sie.

»Es muss nach der Matutin passiert sein. Euer Gatte konnte sich noch bis vor die Türschwelle meines Hauses schleppen. Dann brach er zusammen und starb.« Er räusperte sich. »Nun stellt sich die Frage: War Euer Gemahl auf dem Weg zu meinem Haus, als man ihn niederstach? Und wenn ja, was wollte er mitten in der Nacht von mir?«

Annalinde, noch immer sehr blass, presste die Lippen aufeinander und sah an ihm vorbei. Ihre Augen bewegten sich unstet, bis ihr Blick irgendwo hinter Bandolf haften blieb. Mit wachsendem Unbehagen folgte er ihrem Mienenspiel.

»Davon weiß ich nichts«, sagte sie endlich.

»Ihr könnt Euch keinen Grund denken, warum Euer Gemahl mich aufsuchen wollte?«, vergewisserte er sich.

Sie schüttelte den Kopf.

»Nun gut. Aber vielleicht könnt Ihr mir sagen, wie Euer Gatte den gestrigen Tag verbracht hat?«

»Warum wollt Ihr das wissen?«

»Es könnte von Belang sein.«

Für einen Augenblick glaubte er, Verärgerung in Annalindes hellen kleinen Augen aufblitzen zu sehen, doch der Eindruck verschwand so schnell, dass er sich auch getäuscht haben konnte.

»Wie Ihr wünscht.« Sie seufzte und schien einen Moment nachzudenken. »Nach der Frühmesse nahmen wir unser Morgenmahl im Refektorium ein. Am Tisch von Propst Crispin«, fügte sie mit Genugtuung hinzu. »Anschließend hatte mein Gatte eine Unterredung mit den Brüdern wegen eines Weinbergs, den das Stift von meinem Gatten zu erwerben wünscht. Wegen dieser Angelegenheit ist mein Gatte nach Worms gekommen.«

»Wurde der Handel gestern abgeschlossen?«, erkundigte sich Bandolf, eingedenk des Münzbeutels in seiner Tasche.

Annalinde schüttelte den Kopf. »Soweit ich weiß, ist noch nichts entschieden.«

»Hat Ulbert kürzlich noch anderweitig Land verkauft?«

»Nein. Warum fragt Ihr?«

Einen Augenblick zögerte Bandolf, dann antwortete er leichthin: »Euer Gatte trug einen neuen Mantel und ein Schwert, das auf mich ebenfalls den Eindruck machte, als wäre es noch ganz neu.«

Ursprünglich hatte er beabsichtigt, die Münzen Ulberts Witwe auszuhändigen. Falls das Silber Ulberts rechtmäßiger Besitz gewesen war, gehörte es jetzt zum Erbe seines Sohnes. Bandolf hatte im Grunde kein Recht, es der Witwe vorzuenthalten. Und doch widerstrebte es ihm, die Münzen aus der Hand zu geben, solange er nicht mehr über ihre Herkunft wusste.

»Oh.« Annalinde errötete. »Das Schwert war gewissermaßen ein Geschenk meines Vaters. Er ermöglichte meinem Gatten den Erwerb.« Mit einem Anflug von Trotz schob sie ihr Kinn vor und fügte hinzu: »Mein Vater ist Kaufmann.«

Ulbert hatte also unter seinem Stand geheiratet, vermerkte Bandolf. Und Annalindes Mitgift war offenbar groß genug gewesen, um den Mangel wettzumachen.

Laut fragte er: »Was tat Euer Gatte, nachdem das Gespräch mit den Stiftsherren beendet war?«

»Er holte seinen Mantel aus unserem Quartier und verließ das Stift.«

»Sagte er Euch, wohin er wollte?«

»Mein Gatte pflegte mir keine Rechenschaft über sein Tun abzulegen«, erklärte Annalinde unwirsch.

Der Burggraf dachte an sein eigenes Weib, und ein Lächeln flog über sein bärtiges Gesicht. »Und doch wissen manche Ehefrauen recht wohl, womit sich der Gatte beschäftigt«, meinte er.

Als Annalinde schwieg, seufzte Bandolf und fragte: »Wann kehrte Ulbert nach St. Andreas zurück?«

Eingehend betrachtete sie ihre Hände, die gefaltet auf dem Schoß lagen. »Zur Sext«, gab sie einsilbig zur Antwort.

»Und dann?«

»Nach dem Mittagsmahl verließ er das Stift wieder, und ich sah meinen Gatten nicht wieder.«

»Hat er Euch denn nicht von dem Streit erzählt, in den er auf dem Marktplatz verwickelt war?«, fragte Bandolf erstaunt.

»Von einem Streit weiß ich nichts.«

Er wartete, ob sie sich nach dem Streit erkundigen würde, doch sie tat nichts dergleichen.

»Wie verhielt er sich, als er zurückkehrte? War er aufgeregt, aufgebracht womöglich?«

Gleichmütig zuckte sie mit den Schultern. »Mir ist nichts dergleichen aufgefallen«, behauptete sie. »Mein Gatte war so wie immer.«

Bandolf sah auf ihren gesenkten Schopf hinunter und rollte ungeduldig die Augen.

»Ulbert wurde beobachtet, wie er mit einem kleinen, dunkelhäutigen Mann in einen Streit geriet. Der Mann nannte ihn einen Dieb und Lügner. Das ist eine beleidigende Anschuldigung, wenn sie nicht wahr ist. Und Ihr wollt behaupten, Euer Gatte hätte gegenüber Euch, seinem Weib, kein Wort davon gesagt, ja nicht einmal Verärgerung gezeigt?«

Annalinde sprang so plötzlich auf, dass Bandolf unwillkürlich einen Schritt zurückwich.

»Ich verstehe nicht, warum Ihr mich mit solchen Fragen plagt?«, rief sie mit hochroten Wangen. »Mein Gatte ist tot, mein Sohn seines Vaters beraubt. Und Ihr wollt wissen, in welcher Stimmung er gestern gewesen war?«

»Wenn Ihr wollt, dass der Mörder Eures Gatten gefunden und zur Verantwortung gezogen wird, dann solltet Ihr meine Fragen lieber beantworten«, erklärte Bandolf ruhig.

Mit einem leisen Stöhnen griff sie sich an die Stirn, als hätte sie Kopfschmerzen. »Verzeiht mir meine Barschheit.« Ihre Stimme schwankte. »Der plötzliche Tod meines Gatten hat mich mitgenommen. Das versteht Ihr doch sicher?«

»Gewiss«, brummte er so hastig wie unbehaglich, und er hoffte inständig, sie würde nicht in Tränen ausbrechen.

»Ich kann Euch wirklich nicht mehr sagen. Ulbert hielt sich nach der Sext nur kurz in unserem Quartier auf, dann ging er wieder«, fuhr sie leise, doch glücklicherweise wieder mit festerer Stimme fort. »Er sagte, er wolle sich mit Eberold vom Bruch und Winand von Beckenbach beim Wirt am Markt treffen.« Sie zuckte mit den Schultern. »Mein Gatte ist mit den beiden Herren gelegentlich zur Jagd geritten. Eberold vom Bruch besitzt eine Hufe in unserer Nachbarschaft. Er war hin und wieder bei uns zu Gast.«

Eberold vom Bruch kannte Bandolf nicht, dafür war ihm der Name Winand von Beckenbach vertraut. Winands Familie war begütert und besaß ein Stadthaus in Worms. Winand, der einzige männliche Nachkomme, pflegte seine Tollkühnheit durch allerlei Unfug und Protzerei zu beweisen, wobei nächtliches Randalieren in den Gassen von Worms ein Gutteil des Bußgeldes ausmachte, das er regelmäßig vor dem Richtstein zu berappen hatte. Wenn Ulbert sich mit Kumpanen dieses Schlages umgeben hatte, warf das ein bewölktes Licht auf seinen Charakter.

»Gehörte auch Lothar von Kalborn zu Ulberts Kumpanen?«, wollte Bandolf wissen.

»Nicht, dass ich wüsste. Zumindest hat mein Gatte diesen Namen nie erwähnt.«

»Und wie steht es mit einem Mann von kleiner Statur und gebräunter Haut? Er könnte von jenseits der Alpen stammen. Kennt Ihr jemanden, der dieser Beschreibung gleicht?«

»Nein, einem solchen Mann bin ich nie begegnet«, sagte sie – zu heftig, wie es schien. Mit gerunzelter Stirn wartete Bandolf, ob sie noch etwas hinzufügen würde, doch sie biss sich auf die Lippen und senkte den Kopf.

»Hmm. Gab es sonst noch jemanden, in dessen Gesellschaft sich Euer Gatte in Worms gerne aufhielt?«, fragte er nach einer Weile.

Bevor sie antworten konnte, ging die Tür auf, und eine Magd mit einem Weidenkorb auf dem Arm trat ein. Annalindes Gesicht erhellte sich wie durch Zauberhand. Mit einem strahlenden Lächeln lief sie auf die Magd zu und hob ein fest in Leinen eingewickeltes Baby aus dem Korb.

»Mein Sohn«, erklärte sie Bandolf mit offenkundigem Stolz, während sie das Kind sanft in ihren Armen wiegte. »Gestattet, dass ich Euch verabschiede, Burggraf. Ich muss mich um mein Kind kümmern.«

Unzufrieden stapfte Bandolf die spärlich beleuchtete Treppe hinunter, während er über sein Gespräch mit der Witwe nachgrübelte. Er wurde das Gefühl nicht los, dass ihr Mienenspiel etwas anderes verraten wollte, als sie mit Worten gesagt hatte. Hatte sie ihn belogen? Ihm etwas verschwiegen? Doch was könnte sie für sich behalten haben? Und aus welchem Grund? Hatte sie womöglich selbst in irgendeiner Weise mit dem Mord an ihrem Gatten zu tun?

Ein schmaler Lichtschimmer fiel auf die Stufen, als unten die Tür geöffnet wurde und ein Mann, in Umhang und Kapuze, in offensichtlicher Eile eintrat. Er nahm zwei Stufen auf einmal und rempelte den Burggrafen unsanft an, als er an ihm vorbeilief. Ein Grunzlaut, der als Entschuldigung gelten mochte, drang hinter der Kapuze hervor, dann war der Mann schon oben und seine gedrungene Gestalt aus dem Lichtkreis der Fackel verschwunden.

»Tölpel«, brummte Bandolf geistesabwesend und überlegte, wo er wohl den unabkömmlichen Propst finden konnte. Wenn er schon einmal hier war, wollte er die Gelegenheit nutzen, Bruder Crispin nach den Geschäften zu fragen, die Ulbert von Flonheim nach Worms geführt hatten.

Der Burggraf fand Bruder Crispin im Refektorium, wo der Propst zusammen mit dem Bruder Kämmerer und dem Bruder Cellerar ein spätes zweites Frühstück einnahm.

»Rattenfratze«, hatte Prosperius den Propst von St. Andreas genannt. Eine Respektlosigkeit, für die Bandolf seinem jungen Schreiber die Ohren lang gezogen hatte. Doch als Bruder Crispin sich von der Tafel erhob, um den Burggrafen zu begrüßen, dachte Bandolf, dass der Spottname durchaus passte. Bruder Crispin war um gut einen Kopf kleiner als der Burggraf, und sein schmaler Kopf schien halslos an seinen Schultern festgewachsen. Kleine Äuglein funkelten unter buschigen Augenbrauen hervor. Die spitze Nase mit einem Aufwärtsschwung und überraschend gesunde lange Zähne, die unter der hochgezogenen Oberlippe hervorschauten, vervollständigten noch den Eindruck von schnuppernder Aufmerksamkeit.

»Wir hatten Euch schon erwartet, Burggraf. Setzt Euch und nehmt einen Bissen mit uns«, lud er Bandolf ein.

»Ich nehme an, Pater Egidius hat Euch von Ulberts Tod berichtet?«, mutmaßte der Burggraf.

»Ganz recht«, brummte Bruder Urbanus. Die massige Gestalt des Kämmerers nahm sich neben der kleinen des Propstes wie ein grob behauener Baumstamm aus. Mit einem Blick auf reichlich geräucherten Schinken, weißes Brot, nach Lauch duftenden Brei und goldgelben Käse schob Bandolf sich neben dem Kämmerer auf die Bank. »Ihr pflegt eine üppige Tafel, Propst«, bemerkte er und schnalzte in Vorfreude auf die unerwartete Mahlzeit mit der Zunge.

Ein Hauch von Röte überzog Bruder Crispins Rattengesicht. »Nichts als Reste, die vom gestrigen Fest übrig geblieben sind«, beeilte er sich zu erklären.

Da wird für die Armen nicht viel abgefallen sein, dachte Bandolf bei sich. Er zog seinen Becher aus der Tasche seines Umhangs und löste den Dolch vom Gürtel.

»Greift schu, bevor esch schlecht wird«, ermunterte ihn Bruder Alfrad. Im Gegensatz zu Bruder Urbanus war der Cellerar so mager, als würde ihm die eigene Kost nicht munden, doch dafür befand er sich offenbar in demselben betrüblichen Zustand wie der junge Pförtner, dem Bandolf am Tor begegnet war.

»Ist es wahr, dass Ulbert von Flonheim in Eurem Haus ermordet wurde?«, fragte der Propst.

Bandolf, dessen Magen beim Anblick der Speisen verlauten ließ, es ginge auf die Sext zu, und er sei seit dem eiligen Frühstück vernachlässigt worden, warf Bruder Crispin einen scharfen Blick zu.

»Er wurde auf dem Weg zu meinem Haus erstochen«, betonte er und überlegte, wie lange es dauern würde, bis sich das Gerücht, Ulbert wäre im Haus des Burggrafen ermordet worden, in der ganzen Stadt verbreitet hätte. Bis zur Vesper, schätzte er. In spätestens zwei Tagen würde die Nachricht dann weitere Kreise gezogen haben und in Lorsch das Ohr Seiner Eminenz, des Bischofs von Worms, erreichen. Adalbero wird ein Freudenmahl veranstalten und mich anschließend zerpflücken wie eine Gans zu St. Martin, dachte er und verzog das Gesicht.

»Und was wollte der Mann mitten in der Nacht von Euch?«, erkundigte sich Bruder Urbanus, während er Bandolf eine dicke Brotscheibe reichte.

»Um das herauszufinden, bin ich hier.«

Bruder Crispin zog seine borstigen Augenbrauen zusammen. »Wenn Ihr es nicht wisst, woher sollen wir es dann wissen?«

»Ihr hattet Geschäfte mit Ulbert. Womöglich wollte er mit mir darüber sprechen?« Bandolf schob sich ein Stück Käse in den Mund.

Der Propst schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Das glaube ich nicht. Wir standen mitten in der Verhandlung und hatten uns noch nicht geeinigt.«

»Worum ging es bei Euren Geschäften?«

»Ulbert besitzt ... besaß ... einen Weinberg in der Nähe von Trier. Da wir selbst dort das eine oder andere Stück Land besitzen, dachten wir, der Weinberg würde unsere Güter aufs Beste abrunden. Aber, wie gesagt, wir waren uns noch nicht einig.«

»Was verlangte er für sein Land?«, erkundigte sich Bandolf. Er nahm einen Schluck aus seinem Becher, den der Cellerar aus dem Weinschlauch gefüllt und dabei die Hälfte des guten Roten auf den Tisch verschüttet hatte.

Anstelle des Propstes antwortete Bruder Urbanus: »Er wollte eine Leibrente für sich und seine Gemahlin. Eine unverschämte Forderung für den mageren Weinberg, wenn Ihr mich fragt.«

Bandolf runzelte ungläubig die Stirn. Der Boden um Trier galt als sehr fruchtbar. Da war eine Leibrente sicher nicht zu viel verlangt.

»War er ein Mann, der sich auf Geschäfte verstand?«

Bruder Urbanus lachte schallend. »Wir verhandelten die meiste Zeit mit seinem Hausmeier. Der junge Edelmann gefiel sich mehr darin, sich in der Stadt mit seinen Kumpanen zu vergnügen und sich vor den Weibern großzutun.«

»Tatsächlich?«, meinte Bandolf.

»Unsinn«, wies der Propst den Kämmerer ärgerlich zurecht. An Bandolf gewandt sagte er: »Zu Beginn der Verhandlungen bekundete Ulbert wie nur jeder andere rechte Mann seinen Willen. Dass er später den Fortgang lieber dem erfahreneren Hausmeier überließ, kann man ihm kaum anlasten.«

»Hatte er eine Kebse?«, fragte der Burggraf, eingedenk des zerdrückten Kranzes, den er in Ulberts Tasche gefunden hatte. Irgendwie machte Annalinde nicht den Eindruck auf ihn, als wäre sie ein Weib, das für ihren Gatten Kränze flocht.

»Hmm ... eine Kebse?«, wiederholte der Propst. »Nein, ich bezweifle, dass er eine Geliebte hatte. Er tändelte nur und sah sich von den Weibern wohl gerne bewundert.« Er zwinkerte Bandolf zu. »Ich denke, um sein Seelenheil mit Untreue zu gefährden, hätte es mehr Mutes bedurft, als Ulbert besaß.«

»Wollt Ihr damit sagen, Ulbert von Flonheim sei ein Feigling gewesen?«

»Aber keineswegs«, protestierte Bruder Crispin. »Er war nur ... nun, vielleicht eine Spur zu nachgiebig, zu wenig nachdrücklich, nicht so tollkühn wie manch anderer seines Alters und Standes, wenn Ihr versteht, was ich meine.«

Bandolf lächelte.

»Wir hätten hier aber auch kaum davon erfahren, würde er eine Kebse gehabt haben«, warf Bruder Urbanus ein.

Der Propst ignorierte ihn. »In jedem Fall kann man getrost behaupten, dass Ulbert von Flonheim ein guter Christ gewesen ist, der zu keiner Messe fehlte, und einer, dem Barmherzigkeit nicht fremd war«, sagte er an Bandolf gewandt. »Er nahm sich wie ein guter Samariter eines kranken Weibes an.«

»Samariter? Ihr macht mich neugierig, Propst.«

»Nun, ›Samariter‹ ist womöglich eine Spur übertrieben«, versetzte Urbanus. »Als Ulbert auf dem Weg nach Worms war, fand er ein krankes Weib am Wegrand. Er las sie auf und brachte sie zu den Nonnen nach Mariamünster.«

»Und wer war sie?«

»Das weiß niemand. Sie war wohl in zu schlechter Verfassung, um zu sprechen, doch ihrem Gewand nach muss es eine Frau von Stand gewesen sein. Obgleich die Nonnen überall herumfragen ließen, hat sie aber offenbar niemand vermisst«, antwortete Bruder Crispin.

Bandolf kniff die Augen zusammen. Vage erinnerte er sich, dass Schwester Margarete, die Äbtissin des Klosters, vor einiger Zeit auch bei ihm hatte nachfragen lassen, ob er etwas über eine vermisste Frau wüsste. Er hatte ihr jedoch nicht weiterhelfen können.

»Ist diese Frau denn noch im Kloster?«

»Wahrscheinlisch ischt schie tot un hinüber«, nuschelte der Cellerar und gab sich augenscheinlich alle Mühe, die Augen offen zu halten. Mit vor Zorn gerötetem Gesicht funkelte der Propst ihn an. »Wolltet Ihr nicht nachsehen, ob die Vorräte durch den Regen heute Nacht gelitten haben?«

Bruder Alfrad hievte sich gehorsam von der Bank, schenkte der Runde am Tisch ein verschwommenes Lächeln und verließ das Refektorium mit nicht ganz sicheren Schritten.

»Ihr müsst unseren Cellerar entschuldigen«, wandte sich Bruder Crispin an den Burggrafen, der das Pantomimenstück des Cellerars interessiert verfolgt hatte. »Er befindet sich derzeit nicht ganz wohl. Seine Körpersäfte machen ihm zu schaffen.« Urbanus verschluckte sich und hustete in den Ärmel seiner Kutte.

»Wenn Ihr das sagt.« Bandolf lächelte kühl.

Nachdem der Cellerar das Refektorium verlassen hatte, erkundigte sich der Burggraf nach Ulberts Tun am gestrigen Tag, doch weder Bruder Urbanus noch der Propst konnten ihm mehr als Annalinde sagen, und auch der Name Lothar von Kalborn war ihnen offenbar nicht vertraut. Doch als er nach einem klein gewachsenen Mann mit dunkler Hautfarbe fragte, kniff der Propst seine Äuglein zusammen.

»Hmm, jetzt, da Ihr es erwähnt, fällt es mir ein: Tatsächlich verlangte ein solcher Mann gestern Einlass, um Ulbert zu sprechen. Es war noch vor der Sext. Ich erinnere mich, weil ich just ans Tor kam, als er unseren Pförtner rüde beschimpfte. Dabei hatte der Bruder Pförtner ihm nur gesagt, dass Ulbert nicht in seinem Quartier wäre. Ich habe ihm ...«

»Hat er seinen Namen genannt?«, unterbrach ihn Bandolf.

»Nein.« Crispin verzog das Gesicht. »Ein unangenehmer Zeitgenosse. Er verlangte doch tatsächlich von mir, ich müsse Ulberts Aufenthaltsort umgehend ausfindig machen. Ich sagte ihm, dass die Gäste des Stifts nicht verpflichtet seien, mir oder meinen Brüdern Rechenschaft über ihr Tun und Lassen abzulegen, und ihm nichts anders übrig bleiben würde, als ein anderes Mal erneut nach dem Herrn von Flonheim zu fragen.«

»Gab er sich damit zufrieden?«

»Burggraf, ich bin Propst dieses Stiftes. Was blieb ihm anderes übrig?«

»Natürlich.« Bandolf seufzte. »Hat sonst noch jemand nach Ulbert gefragt? Gestern, oder auch früher?«

»Nein, aber wie Bruder Urbanus schon angedeutet hat, war Ulbert oft in der Stadt unterwegs.«

Bruder Urbanus runzelte die Stirn. »Hat Ulbert von Flonheim nicht auch einmal erwähnt, dass er seinen Vetter in der Stadt aufsuchen wollte?«, fragte er seinen Propst.

Bruder Crispin zuckte mit den Schultern.

»Ihr solltet die Witwe nach dem Vetter fragen«, empfahl Urbanus dem Burggrafen. »Sie wird wissen, wen Ulbert gemeint hat.«

Und ob sie das weiß, dachte Bandolf grimmig und fragte sich, warum Annalinde ihm diesen Vetter vorenthalten hatte.

Ein Mann, eingehüllt in einen braunen Umhang, drückte sich rasch in den Schatten des Torpfostens, als Bandolf durch die Pforte stürmte. Für einen Moment erwog er, dem Burggrafen zu folgen, doch dann entschied er sich anders. Es war unwahrscheinlich, dass Bandolf besaß, was er, der Falke, wollte.

Die Anwesenheit des Burggrafen im Stift hatte ihn überrascht. Dabei hätte er sich denken müssen, dass Bandolf von Leyen mit Ulberts Witwe sprechen würde, sobald er den Namen des Toten kannte. Im Stillen schalt er sich einen Narren. Er hatte genug über den Burggrafen von Worms gehört, um zu wissen, dass man mit seiner Einmischung rechnen musste. Das hatte er verabsäumt. Eine Nachlässigkeit, die er sich bei seinem Vorhaben nicht leisten konnte.

Entschlossen schüttelte der Falke sein Unbehagen ab. Bandolf von Leyens Ausdruck war besorgt gewesen, als er das Stift verließ. Das war nicht die Miene eines Mannes, der sich auf der richtigen Spur wähnt. Und würde sich das ändern, war immer noch Zeit genug, dass er sich um den hartnäckigen Burggrafen kümmerte.

Zudem war im Moment der Kalabrier sein vordringliches Ziel. Ihm war er auf den Fersen, seit der Mann in Worms eingetroffen war. Als er heute Morgen von Ulberts Tod gehört hatte, war er sofort zum Quartier des Kalabriers geeilt und hatte vor der Herberge darauf gewartet, dass er herauskäme. Der Falke war sich sicher gewesen, der Mann würde umgehend die Stadt verlassen. Stattdessen hatte der Kalabrier ihn hierhergeführt.

Mit Bedacht verlagerte der Falke sein Gewicht von einem Bein aufs andere, und während er sich die Kapuze seines Umhangs tiefer in die Stirn zog, ließ er den Blick wachsam über die Gassen gleiten. Gegenüber dem Tor zu St. Andreas zankten sich zwei Knechte; Kinder sammelten auf der Sterzergasse Kuhfladen und Pferdeäpfel, die ihren Familien als Dünger und Brennmaterial dienen würden, und vor der Tür zur Kirche St. Magnus stand ein Grüppchen alter Weiber beisammen und tratschte. Niemand schien auf den Mann im braunen Umhang zu achten, der im Schatten des Torpfostens wartete.

Plötzlich merkte er auf. Hinter der Mauer von St. Andreas hörte er eilige Schritte. Gleich darauf wurde die Pforte geöffnet, und der Kalabrier kam mit übellaunigem Gesicht herausgestürmt. Ohne sich auch nur einmal umzusehen, ging er eilig die Lange Gasse in Richtung Dom hinauf.

Einen Lidschlag lang stutzte der Falke und fragte sich, wohin der Mann wollte, dann zuckte er mit den Schultern, glitt aus dem Schatten heraus und folgte ihm. So oder so, die Stunden des Kalabriers waren gezählt.

Magda ächzte und warf Garsende einen zornigen Blick über ihre Schulter zu.

»Ich weiß, das war schmerzhaft«, sagte die Heilerin mitfühlend, während sie das Gewand über dem Gesäß der Bäuerin glatt zog. »Aber nun bist du das böse Geschwulst los, und in ein, zwei Tagen kannst du auch wieder sitzen.«

»Wenn du mir überhaupt noch Fleisch zum Sitzen übrig gelassen hast«, presste Magda zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

Garsende dachte, dass da noch genügend Platz für ein halbes Dutzend Furunkel gewesen wäre. Laut sagte sie:

»Ich habe eine Salbe aus altem Schmalz mit Calendula aufgetragen. Lass den Verband drei Tage lang aufgelegt. Doch wenn es in der Wunde anfängt zu klopfen, dann komm damit gleich zu mir.«

Magda versprach zu tun, was immer die Heilerin sagte, und wenig später verabschiedete sie sich.

Erleichtert schloss Garsende die Tür hinter der Bäuerin und schaute dann deprimiert auf die drei kleinen, braun gesprenkelten Hühnereier, die sie als Lohn von der Bäuerin bekommen hatte. Magda war das Weib eines der wenigen freien Bauern in der Umgebung, deren Hof noch nicht von einem der großen Lehnsherren vereinnahmt worden war. Sie hätte ohne weiteres das Doppelte geben können.

Mit einem Kopfschütteln legte Garsende die Eier in eine Holzschale und trug sie hinüber zu ihrem Herdfeuer. Einer der unzähligen Kräuterstängel, die neben Zwiebelgirlanden, Wurzeln und ganzen Pflanzenbüscheln von der niedrigen Decke baumelten, verfing sich in ihrem Haar.

»Heilige Jungfrau!«, zischte sie ärgerlich und schlug dann rasch ein Kreuz, weil die Worte in ihren eigenen Ohren geklungen hatten wie ein Fluch. Ich muss zufrieden sein, dachte sie, während sie den trockenen Stängel vorsichtig aus ihrem Zopf löste. Gerade auf die Fürsprache von Frauen wie Magda war sie angewiesen. Die Zeiten, in denen das Handwerk einer Heilerin noch hochgeschätzt wurde, schienen vorbei zu sein. Die Kirche beanspruchte die Kunst des Heilens für sich, und Kräuterfrauen, die außerhalb des geheiligten Nimbus eines Ordens standen, gerieten immer mehr in den Geruch, dem Allmächtigen mit ketzerischer Zauberei ins Handwerk pfuschen zu wollen. Und weil Garsende überdies ohne den Schutz eines männlichen Verwandten oder Ehemanns lebte, war sie noch mehr als andere von einem guten Leumund abhängig.

Ein kantiges Gesicht, Zorn, gepaart mit Sehnsucht in den dunklen Augen, schlich sich unversehens in Garsendes Gedanken. So hatte Lothar von Kalborn sie angesehen, als er zum letzten Mal bei ihr gewesen war.

Ein Jahr war seither vergangen. Zeit genug, um sich diese unselige Neigung zu einem Mann aus dem Herzen zu reißen, der eine Frau wie sie niemals sein Weib würde nennen können. Jedenfalls hatte sie geglaubt, dass sie sich von diesen Empfindungen befreit hätte. Nach dem gestrigen Tag jedoch war sie sich dessen nicht mehr so sicher.

Seit sie Lothar zum ersten Mal begegnet war, hatte Garsende stets geschwankt zwischen den Gefühlen, die er in ihr geweckt hatte, und ihrem Verstand, der ihr gebot, das, was sie besaß, nicht um einer Leidenschaft willen aufs Spiel zu setzen. Lothar von Kalborn war ein Mann von Stand mit einer einflussreichen Sippschaft im Rücken; sie hingegen war im falschen Bett geboren.

Es war das einzig Richtige gewesen, ihm damals für immer die Tür zu weisen.

Garsende seufzte. Jetzt hielt er sich wieder in der Stadt auf, nur einen Katzensprung von ihr entfernt. Und ihr Gleichmut schien dahin. Was hatte ihn nach Worms geführt? Seit wann war er hier? Hatte er den Mann, der nun tot in der Scheune des Burggrafen lag, gekannt, oder war er nur durch Zufall in den Streit auf dem Marktplatz geraten? Und würde er hierher ...?

»Nein!«, rief sie so laut, als könne sie nur durch ihre Stimme dem Wort auch Geltung verschaffen. »Ich bringe meine Seele seinetwegen nicht wieder in Bedrängnis.«

Mit wütendem Eifer begann sie, die mit Blut und Eiter beschmutzten Tücher vom Tisch zu räumen und Schalen, Mörser und Stößel zu säubern, während ihre Gedanken zwischen ihrem einstigen Geliebten und dem Toten vor der Türschwelle des Burggrafen hin und her sprangen.

Der Krug mit der Calendulatinktur, die sie für Magdas Verband gebraucht hatte, entglitt ihren fahrigen Händen, fiel zu Boden und ging zu Bruch. Garsende stand wie erstarrt und betrachtete die Scherben, ohne sie wirklich zu sehen. Ein dumpfer Geruch verbreitete sich in ihrer kleinen Hütte, doch sie rührte sich nicht.

»Warum seid Ihr zurückgekommen?«, flüsterte sie.

Das zerbrochene Siegel

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