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Kapitel 1
ОглавлениеWorms, im Frühjahr Anno Domini 1066
Mit Einbruch der Nacht kam ein böiger Wind auf, der um die Glockentürme der Kirchen heulte, an Türen und Fensterverschlägen rüttelte und Unrat durch die dunklen Gassen der Stadt wirbelte. Der Wind brachte dichte Wolken mit, die das Mondlicht verbargen, und Kälte – die Abgesandte des Winters. Heimtückisch kroch sie durch jede Ritze in die Häuser, als wolle sie der Menschen spotten, die just an diesem Tag das Frühlingsfest gefeiert hatten.
Gleich einem grauen Schatten huschte Penelope, die Domkatze, am Fuß der Mauer entlang, die das Anwesen des Burggrafen von Worms umgab. In der Nähe des Tors mit der eingelassenen Pforte machte die Katze halt und sprang geschmeidig auf die Mauer. Einen Augenblick lang verharrte sie dort oben, spitzte die Ohren und lauschte. In das Lied des Windes mischte sich ein gedämpftes Stöhnen, das aus dem Abtritt zwischen der Scheune und dem Haupthaus des Burggrafen drang. Das Geräusch schien Penelope jedoch nicht zu beunruhigen. Sie sprang von der Mauer und landete auf weichen Pfoten im Kräutergarten der Burggräfin. Schnurstracks lief sie an den noch winterkahlen Sträuchern vorbei quer über die Beete, dann setzte sie mit einem Sprung über die niedrige Gartenmauer und strebte auf den überdachten Eingang zu, der vom Tor in den Hof führte.
Schwache Rufe von draußen und ein drängendes Klopfen an der Pforte ließen die Katze jäh innehalten. Doch die Geräusche verloren sich im Heulen der heftigen Böen, und niemand außer Penelope schenkte ihnen Beachtung. Mit angelegten Ohren starrte die Katze in die Richtung, aus der die Laute kamen. Kurz darauf verriet das Knarren der Pforte, dass jemand eingetreten war. Schwere, ungleichmäßige Schritte kratzten über den Boden, begleitet von keuchendem Atem. Ein spärlicher Lichtschein tanzte über die gewölbten Wände des Eingangs. Die Hand, die die Lampe hielt, schien zu zittern, denn der Lichtschimmer hüpfte unstet auf und nieder, als würde es dem Träger schwerfallen, ihn auf einen Punkt zu konzentrieren. Hinter der Lampe bewegte sich eine Gestalt, die mit schwankenden Schritten den Hof betrat. Einen Lidschlag lang fiel der Lichtschein auf Penelope, die wie erstarrt flach am Boden kauerte, bevor die Lampe der Hand ihres Trägers entglitt und auf den Boden fiel.
Das Licht erlosch.
Der Eindringling schenkte dem Verlust kaum Beachtung. Keuchend schleppte er sich weiter, dem Haus zu, und hatte die Türschwelle fast erreicht, als ein starker Windstoß seinen Umhang erfasste. Einen Moment lang schwankte er, dann brach er zusammen, und der Wind trug ein letztes Röcheln zu der Katze hinüber.
Eine Weile verharrte Penelope, und nur ihre Ohren, die sich bald hierhin, bald dorthin drehten, verrieten ihre Wachsamkeit. Doch die Gestalt am Boden rührte sich nicht mehr. Schließlich richtete sich die Katze auf und schlich, augenscheinlich so neugierig wie vorsichtig, darauf zu.
Sie hatte das reglose Bündel Mensch noch nicht erreicht, als der Himmel unvermittelt seine Schleusen öffnete. Dicke Regentropfen prasselten auf den Boden und schlugen, vom Wind getrieben, gegen die Mauern. Der plötzliche Schauer trieb Penelope auf das Dach des Eingangs. Von dort aus sprang sie auf das Sims der burggräflichen Schlafkammer, just als Egin, der Torwächter des Burggrafen, fluchend aus dem Abtritt trat und sich hastig im Torgewölbe vor dem Regenguss in Sicherheit brachte.
Ein rhythmisches Klappern drang in Bandolfs Träume und verlangte hartnäckig seine Aufmerksamkeit. Der Burggraf von Worms blinzelte verschlafen. Ein Streifen Mondlicht fiel durch den geöffneten Fensterverschlag, verschwand und erschien wieder, im selben enervierenden Rhythmus, wie der hölzerne Laden hin- und herschwang und gegen den Rahmen schlug. Unmutig brummend wälzte Bandolf sich auf die andere Seite, fest entschlossen, das Klappern zu ignorieren. Doch das penetrante Geräusch hielt an, ärgerte sein Ohr, und der Schlaf wollte sich nicht mehr einstellen.
Schließlich kapitulierte er. Mit einem leisen Ächzen setzte er sich auf und warf einen Blick auf seine Gattin, die in ihre Felldecke gekuschelt neben ihm schlief. Das unstete Mondlicht fiel auf ihr prachtvolles Haar und auf Penelope, die sich auf einer der langen Strähnen breitgemacht hatte.
»Du solltest dich trollen«, empfahl Bandolf der Katze flüsternd. »Wenn mein Weib dich hier erwischt, zieht sie dir das Fell über die Ohren.« Penelope blinzelte ihn unbeeindruckt an.
»Na schön. Wie du willst. Es ist dein Pelz«, raunte er, schob seine Felldecke zur Seite und hievte sich aus der Bettstatt. Ein kalter Luftzug streifte seine Haut und ließ ihn frösteln, als er sich zum klappernden Verschlag hinübertastete.
Die Bohlen vor dem Fenster waren nass. Offenbar hatte es geregnet, doch jetzt war der Himmel sternenklar. Bandolf warf einen Blick auf die ersten blassen Streifen der Dämmerung, im nachtschwarzen Himmel noch kaum wahrzunehmen, und brummte zufrieden. Er würde seinen unterbrochenen Schlaf noch ein Weilchen fortsetzen können. Dann schaute er flüchtig in seinen Hof hinunter, wo sich das Mondlicht in großen Pfützen spiegelte, bevor er den Verschlag schloss, den Riegel vorschob und mit einem erleichterten Seufzen unter seine Decke kroch.
Kaum hatte Bandolf die Augen geschlossen, als er sich mit einem Ruck wieder auf setzte. Hastig schwang er sich von der Schlafstatt, eilte zum Fenster und entriegelte den Verschlag. Mit zusammengekniffenen Augen starrte er in seinen Hof hinunter.
»Was zum Teufel ...?«
In seiner Eile, zur Truhe und zu seinen Kleidern zu kommen, stieß er sich die Zehen an einer mit Sand gefüllten Schale, in der abgebrannte Kienspäne steckten.
»Verdammnis!«
Sein Fluch entlockte Matthäa ein Seufzen, doch ein rascher Blick auf die Bettstatt zeigte Bandolf, dass sie offenbar nicht aufgewacht war. Während er sich eilig Beinlinge und Hemd überstreifte und sich dann mit seinen Stiefeln abmühte, kreisten seine Gedanken um die Gestalt, die dort unten im Hof lag. Vom Fenster aus hatte er nur die Stiefel eines Mannes und die untere Hälfte seines Umhangs erkennen können. Was zum Henker trieb der Kerl zu nachtschlafender Zeit auf seinem Anwesen?
Hastig griff der Burggraf zu seinem Schwert, stahl sich zur Tür und verließ die Kammer. Im Treppenhaus gab es kein Fenster, und es war stockdunkel. Bandolf verharrte einen Moment und lauschte, doch im Haus war alles ruhig. Mit der linken Hand tastete er sich an der Wand entlang bis zur Treppe. Unter seinen Füßen spürte er die erste Stufe, als hinter ihm eine Tür knarrte und ein Lichtschimmer auf die Stufen fiel. Bandolf fuhr herum, sein Schwert kampfbereit ausgestreckt.
»Eltrudis!«
Matthäas Tante huschte aus ihrer Kammer, die neben seiner Schlafkammer lag. Die kleine Öllampe, die sie in ihrer Hand trug, beleuchtete ihr rundes Gesicht mit der langen, scharfen Nase und dem energischen Kinn. Das schummrige Licht glättete die knittrige Haut oberhalb der Halsborte ihres Gewandes, die bei Tageslicht ihr fortgeschrittenes Alter verriet. Vor dem hochgewachsenen, stämmigen Burggrafen wirkte sie klein und zerbrechlich.
Bandolf ließ flugs das Schwert hinter seinem Rücken verschwinden. Er hatte nicht die Absicht, jemandem von dem Fremden in seinem Hof zu erzählen, bevor er sich selbst ein Bild der Lage gemacht hatte, und schon gar nicht Eltrudis. An einem ihrer hysterischen Anfälle war ihm jetzt keinesfalls gelegen.
»Was schleicht Ihr hier herum?«, fragte er scharf.
»Ich will ja nicht klagen, mein Lieber, aber dieser kalte Wind fährt mir durch die Knochen und peinigt mich unsäglich. An Schlaf ist da natürlich nicht zu denken. Filiberta muss mir einen Schlummertrunk zubereiten und mein Lager ...«, erklärte sie mit wohldosiert schwacher Stimme.
»Geht zurück in Eure Kammer«, unterbrach er sie barsch und nahm ihr die Lampe aus der Hand. Im Stillen hoffte er, sein rüder Tonfall würde genügen, um sie zum Rückzug zu bewegen. Eltrudis runzelte pikiert die Stirn und schien nicht geneigt, ihr Vorhaben aufzugeben.
»Ich muss schon sagen, Burggraf – wäre ich meiner armen Schwester, Gott hab sie selig, nicht verpflichtet, und würde ich nicht ...«
Bandolf verlor die Geduld. »Herrje, Weib. Hört auf mich und tut, was ich sage«, knurrte er. »Ich werde die Magd hernach zu Euch schicken.«
»Und meine Lampe?«
»Die benötige ich.«
Eltrudis machte ganz den Eindruck, als wolle sie protestieren, doch ein Blick in Bandolfs Gesicht überzeugte sie offenbar davon, dass der Zeitpunkt dafür nicht geeignet war. So reckte sie nur ihre lange Nase in die Luft und machte endlich kehrt, nicht ohne ihm noch einen Blick gekränkter Empörung zugeworfen zu haben. Das Schwert in seiner Hand schien sie glücklicherweise nicht gesehen zu haben. Als er die Tür hinter ihr zufallen hörte, lief er bereits die Treppe hinunter.
Unten angekommen öffnete der Burggraf die Tür zu seiner Halle einen Spalt und leuchtete hinein. Um das nur noch schwach glimmende Herdfeuer lagen seine Hauseigenen in tiefem Schlaf. Filiberta, Matthäas erste Magd, schnarchte mit Herwald, seinem Marschalk, und Werno, dem Hausmeier, um die Wette. Die junge Magd Hildrun brabbelte vor sich hin, und Prosperius, sein Schreiber, hatte sich so fest in seine Decke eingerollt, dass nur sein brauner Haarschopf zu sehen war.
Für einen Moment erwog der Burggraf, seinen Marschalk zu wecken, damit er mit ein paar Knechten das Anwesen nach weiteren Eindringlingen absuchte, entschied sich aber dagegen. Draußen war alles ruhig gewesen, und auch im Haus gab es keinerlei Anzeichen, dass außer dem Fremden noch jemand eingedrungen war. Es war besser, er würde zunächst selbst nachsehen, was es mit dem Mann in seinem Hof auf sich hatte, bevor er den ganzen Haushalt in Aufruhr versetzte. Womöglich war es nur ein Trunkenbold, der die Pforte verwechselt hatte und draußen im Hof seinen Rausch ausschlief, und Gott mochte wissen, wieso Egin ihn nicht aufgehalten hatte. Mit grimmigen Gedanken an seinen saumseligen Torwächter betrat der Burggraf den Hof.
Bandolfs Zorn verflog und machte einem unguten Gefühl im Magen Platz, als er seinen Torwächter neben dem Mann knien sah, der auf dem Boden lag – kaum fünf Schritte von seiner Türschwelle entfernt.
Egin schlotterte am ganzen Leib. Als er seinen Herrn bemerkte, sprang er auf und starrte dem Burggrafen mit einer Mischung aus Schuldbewusstsein und Entsetzen entgegen.
»Also, das ... das ist nicht meine Schuld«, stotterte er. »Das müsst Ihr mir glauben. Herr, ich schwör’s bei meiner Seel’.«
Umstandslos schob Bandolf ihn beiseite und ging neben der reglosen Gestalt auf die Knie, die mit angezogenen Beinen auf der Seite liegend zu schlummern schien.
Offenbar handelte es sich um einen Mann von Stand. Sein dunkler Umhang war aus gutem Tuch, am Saum reich bestickt, und als Schließe diente eine silberne Fibel. Unter dem Mantel lugte der Knauf eines teuren, fränkischen Schwertes hervor.
Bandolf ließ Eltrudis’ Öllampe über das noch jugendliche Gesicht des Fremden gleiten. Er schauderte und schlug ein Kreuz.
Regentropfen nässten die verzerrten Züge des Mannes, und das Haar klebte feucht an seinem Schädel. Die Muskeln am Hals traten dick hervor, sein Mund war aufgerissen, als wäre er mitten im Schrei erstarrt, und helle Augen stierten blicklos an Bandolf vorbei. Unzweifelhaft war er tot.
»Wer, zum Teufel, ist das? Und wie ist er hier hereingekommen?«
»Ich ... ich weiß doch nicht, Herr«, stammelte Egin. »Ich war bloß einen Lidschlag lang weg. Es war nämlich so, Herr, dass ich ...«
Egins langatmiger Erklärung, in dem viel vom Rumoren seines Gedärmes und dem besorgniserregenden Zustand seiner Körpersäfte die Rede war, entnahm der Burggraf, dass der Torwächter verabsäumt hatte, die eingelassene Pforte im Tor zu verriegeln und einige Zeit auf dem Abtritt verbracht hatte. Während dieser Spanne musste der Fremde das Anwesen betreten haben. Die Pforte hatte wohl offen gestanden, als Egin ans Tor zurückgekehrt war. Doch er hatte geglaubt, er hätte sie zuvor nicht richtig zugemacht, und der Wind hätte sie dann aufgeworfen.
Mit einem ärgerlichen Knurren, das seinem Türhüter galt, wandte Bandolf sich wieder der Leiche zu.
»Was habt Ihr mitten in der Nacht von mir gewollt?«
Nachdenklich strich er sich über den Bart, doch so sehr er sein Gedächtnis auch bemühte, fand sich dort kein Gesicht, das mit den Zügen des Toten übereinstimmte.
Erneut schwenkte Bandolf die Lampe über das verzerrte Gesicht und hielt Ausschau nach Anzeichen, die die Pest, die Cholera, das Fleckfieber und andere der gefürchteten Plagen auf der Haut der Toten zu hinterlassen pflegten. Als er nichts dergleichen fand, packte er ihn entschlossen an der Schulter und drehte ihn auf den Rücken. Der Körper fühlte sich kalt an, doch er war noch nicht steif und ließ sich ohne weiteres bewegen.
»Bist du vor oder nach dem Regen auf dem Abtritt gewesen?«, wollte er von Egin wissen, aber er bekam keine Antwort. Sein Torwächter hatte sich klammheimlich aus dem Staub gemacht.
»Hasenfuß«, brummte Bandolf, während er den Mantel des Toten beiseiteschob. Das Hemd aus hellem Leinen war auf der Brust mit dunklen Flecken beschmutzt, doch Bandolf konnte auf den ersten Blick keine Risse oder Löcher entdecken, die auf eine Verletzung hingewiesen hätten. An seinem Gürtel hingen außer dem Schwert noch ein kurzer Dolch in einer Lederscheide und ein Beutel, ebenfalls aus Leder, der einen zerdrückten Kranz aus Pflanzenstängeln, ein paar Hohlpfennige, ein kleines Säckchen Salz und einen in ein Stückchen Leinen gewickelten Zahn enthielt – offenbar eine Reliquie, die der Tote zu seinem Schutz bei sich getragen hatte. Sorgfältig steckte Bandolf die Dinge zurück an ihren Platz und griff dann in die Innentasche des Umhangs, wo er einen Hornlöffel, einen Zinnbecher und einen Münzbeutel zutage förderte. Das Behältnis war schäbig und abgegriffen und besaß eine lange Schnur, sodass man es auch um den Hals tragen konnte. Überrascht pfiff Bandolf durch die Zähne, als er den Inhalt des Beutels auf seine Hand schüttelte. Fünf Silbermünzen blinkten im Schein seiner Lampe auf. Sie waren beidseitig geprägt und schienen schwerer zu sein als die Münzen, die hierzulande in Umlauf waren. Nachdenklich wog Bandolf die Münzen in seiner Hand und fragte sich, ob sie ihm womöglich helfen konnten, die Identität des Toten festzustellen. Schließlich verwahrte er Beutel und Münzen in seiner Tasche.
Noch einmal betrachtete er die verzerrten Züge des Leichnams und seufzte.
»Woran seid Ihr gestorben? Und wieso ausgerechnet unter meinem Dach?«
Es gab unzählige Krankheiten, die, heimlich wie ein Dieb, den Jungen wie den Alten das Leben stehlen konnten. Vielleicht hatte der Fremde auf seinem Weg – wusste Gott wohin – ein Unwohlsein verspürt und nur im nächstgelegenen Haus, welches zufällig das seine war, nach Hilfe gesucht? Doch Bandolf musste es genau wissen. Ein Mann von Stand, der tot im Hause des Burggrafen gefunden wurde, konnte dem Bischof von Worms jenen Vorwand liefern, den er seit langem suchte, um Bandolf aus seinem Amt zu verdrängen. Und wenn der junge Mann gar durch fremde Hand gestorben war ...
Bandolf seufzte noch einmal. Ja, er brauchte Gewissheit.
»Garsende«, murmelte er. Die Heilerin war ihm in einer ähnlichen Angelegenheit schon einmal von Nutzen gewesen. Für ein Weib war Garsende wohl klug und verständig, und zweifellos beherrschte sie ihr Handwerk, doch zeigte sie auch die missliche Neigung, sich in seine Belange einzumischen. Der Burggraf zog eine Grimasse. Wie auch immer – er musste wissen, wer dieser Mann war, was er in seinem Haus gewollt hatte und woran er gestorben war. Letzteres konnte ihm die Heilerin womöglich sagen.
Bandolf erhob sich und warf einen letzten Blick auf den Leichnam.
»Frostiger Schauder schüttelt die Glieder mir, eisig stockt mir das Blut vor Entsetzen. Wieder geh ich daran, eines anderen biegsame Gerte auszureißen und so das Geheimnis genau zu erforschen«, zitierte er leise seinen Lieblingsdichter Vergil.
Die Nachricht, dass ein Fremder tot im Hof lag, sorgte für Aufregung im Haus des Burggrafen.
Herwald machte ein grimmiges Gesicht und erklärte knapp, er würde sich selbst davon überzeugen, dass keine weiteren Eindringlinge auf dem Anwesen wären. Dann stürzte der Marschalk hinaus, noch bevor Bandolf Einwände machen konnte. Kurze Zeit später sah ihn der Burggraf mit einem Knüppel bewaffnet und mit ein paar Hörigen im Schlepptau im Stall verschwinden. Werno hingegen machte ein düsteres Gesicht und raunte Filiberta zu, man müsse wohl auf einen neuerlichen Ausbruch der Cholera in der Stadt gefasst sein. Seinem Herrn empfahl er, umgehend alle Türen und Verschläge zu verschließen, damit die schlechten Düfte draußen blieben. Ein Priester müsse her, damit er das Haus mit geweihtem Rauch reinige und die Binsen mit Weihwasser besprenge.
Matthäa hatte sich in aller Eile ihr Gewand übergestreift und das dichte, rotblonde Haar zu einem lockeren Zopf geflochten, als Bandolf sie geweckt hatte. Ein paar widerspenstige Strähnchen lösten sich bereits wieder aus dem Gebilde und ringelten sich an ihrem Hals. Ihre großen, rehbraunen Augen verrieten Besorgnis, als sie Bandolf einen raschen Blick zuwarf.
»Werno hat recht«, sagte sie. »Das Haus muss gereinigt werden.«
»Ich habe Prosperius zur Kirche St. Magnus geschickt. Pater Egidius wird bald hier sein und sich des Toten annehmen«, versicherte ihr Gatte. »Und Jacob ist auf dem Weg zur Heilerin.«
»Was will sie noch ausrichten, wenn der Mann doch tot ist?«, wunderte sich Werno und kratzte sich den kahlen Schädel.
»Das braucht dich nicht zu kümmern«, brummte Bandolf. »Geh du derweil nach draußen und lass den Leichnam in die Scheune schaffen. Du hältst Wache bei ihm und sorgst dafür, dass niemand sich dort herumtreibt und Maulaffen feilhält.«
Der Hausmeier machte ein langes Gesicht. »Wäre es nicht besser, man würde ihn lassen, wo er ist?«, wandte er hastig ein. »Der Fremde könnte ansteckend sein und uns allen den Tod bringen. Und selbst, wenn nicht, dann ist seine Seele gewiss in wildem Aufruhr, wo er doch ohne den Beistand eines Priesters gestorben ist. Dann ruft sie womöglich noch andere Geister herbei.«
»Oder finstere Dämonen«, unkte die junge Hildrun mit weit aufgerissenen Augen.
»Und wenn sich Geister und Dämonen vereinen, besudeln sie im Handumdrehen das ganze Haus«, bekräftigte Werno. Er schauderte und schlug ein Kreuz über seiner wohlgenährten Brust. »Als der alte Hufschmied Enolf gestorben ist, folgte ihm eine Heerschar von üblen Dämonen durch seine Schmiede. Sein Weib musste den Priester dreimal um den Segen bitten und hat einen ganzen Herbst lang in St. Rupert um Vergebung seiner Sünden gebetet, bis sie die Heerschar los war. Und hernach war das Haar der Witwe schlohweiß.«
»Wen wundert’s«, mischte sich Filiberta ein. Die stämmige Magd kniete vor dem Herdfeuer, legte Holzscheite nach und schürte behutsam die kleine Flamme. »Enolf war ein bösartiger Mensch, und ein alter Geizhals obendrein. Das wusste doch jeder.«
Werno nickte eifrig. »Wer weiß, ob der Fremde da draußen nicht noch schlimmere Sünden begangen hat, und was dann passieren mag.«
»Um so mehr Grund, den Toten mit Respekt zu behandeln«, erklärte Matthäa. »Und wenn bei dem Fremden keine der bösen Anzeichen zu sehen waren ...?« Sie warf ihrem Gatten einen fragenden Blick zu, und Bandolf schüttelte den Kopf.
»... dann tu, was der Herr dir aufträgt«, beendete die Burggräfin ihren Satz. Doch ganz wohl schien ihr auch nicht bei dem Gedanken zu sein, der Fremde könne den Tod in ihr Heim bringen, oder seine Seele würde verärgert im Haus umhergeistern. Ihre sonst so rosigen Wangen waren blass, und sie hatte dunkle Ringe unter ihren Augen. Im Stillen hoffte Bandolf, Pater Egidius möge sich beeilen.
Kaum hatte der Hausmeier mit saurer Miene die Halle verlassen, kam Eltrudis die Treppe heruntergerauscht und verlangte gebieterisch zu wissen, was es mit dem ungebührlichen Lärm auf sich habe, der zu so früher Stunde im Haus herrschte.
Die Ankunft der Heilerin enthob Bandolf einer Erklärung, und mit einem deutlichen Gefühl der Erleichterung verließ er seine Halle.
Die Glocken von Worms läuteten zur Laudes, und das graue Licht der Dämmerung war noch nicht gänzlich verschwunden, als der Burggraf Garsende über den Hof zur Scheune führte. In knappen Worten erklärte er ihr, was vorgefallen war. »Sieh dir den Mann an und sag mir, woran er gestorben ist.«
Schweigend hatte die Heilerin ihm zugehört, doch jetzt schaute sie ihn ungehalten an. »Und deswegen habt Ihr mich gerufen? Herrje, Burggraf, ich kümmere mich um die Lebenden. Nicht um die Toten. Ich weiß wirklich nicht, wie ich Euch behilflich sein kann.«
Ein wenig irritiert musterte Bandolf sein Gegenüber. Es war sonst nicht Garsendes Art, ihm so unwirsch zu begegnen.
Wie stets erstaunte ihn die hochgewachsene Erscheinung der Heilerin. Er war selbst ein großer Mann, dennoch musste sie nicht zu ihm aufschauen. Im Gegensatz zu Matthäa, die ihm gerade zur Brust reichte und ihn mit ihren liebreizenden Rundungen noch immer bestrickte, waren Garsendes Züge schmal und streng. Nur wenn sie lächelte, gewann ihr herbes Gesicht eine gewisse Anmut.
Im Moment jedoch lächelte sie nicht. Ihre Stirn war gerunzelt, und sie hatte wie sein Weib Ringe unter ihren großen, dunklen Augen.
Der Leichnam lag auf ein paar Ballen Stroh gebettet, so weit abseits der Vorratssäcke wie nur möglich. Werno, der sich auf einen Wink des Burggrafen erleichtert davonmachte, hatte ihn mit einem groben Leinentuch zugedeckt.
»Ich weiß wirklich nicht, wie ich Euch hierbei helfen soll«, wiederholte Garsende.
»Tu, was du kannst.«
Seufzend ließ sich die Heilerin neben den Strohballen nieder. »Es gibt viele Krankheiten, die sich in ihren Auswirkungen ähneln«, erklärte sie, schlug ein Kreuz und lüpfte dann das Sackleinen. »Da er tot ist, kann er mir ja nicht sagen, woran er leidet, und ... Allmächtiger!«
Bestürzt schlug sie sich die Hand vor den Mund und starrte den Toten an.
»Was hast du denn?«, fragte Bandolf erstaunt. Das Angesicht des Todes und die Spuren, die der Sensenmann zeichnete, konnten der Heilerin ja nicht fremd sein.
Sie warf ihm einen schnellen Blick zu. »Wer ist dieser Mann?«
Bandolf zuckte mit den Schultern. »Wenn ich das wüsste, wäre mir wohler. Wieso fragst du?«
»Ich habe ihn schon einmal gesehen«, sagte Garsende so leise, dass er sie kaum verstand.
»Was sagst du da? Du kennst den Mann?«
Garsende schüttelte den Kopf. »Ich habe ihn nur einmal gesehen. Gestern. Auf dem Marktplatz.«
Argwöhnisch beugte Bandolf sich vor. »Und weiter?«
Mit gerunzelter Stirn ließ die Heilerin den Blick über die Wände der Scheune gleiten und schien sie einer Musterung zu unterziehen. Bandolf wippte ungeduldig auf den Füßen.
Endlich sagte sie: »Er war in einen Streit verwickelt. Ein Mann packte ihn am Kragen und schrie, er sei ein schamloser Lügner und Dieb, und er würde ihm die Wahrheit schon aus dem Hals pressen. Mehr konnte ich nicht verstehen, dazu war ich nicht nah genug. Aber seine Worte schienen den Mann hier zu erschrecken.«
Sie verstummte.
»Herrgott, Weib«, rief Bandolf ungehalten. »Und was geschah weiter?«
Garsende holte tief Luft, bevor sie Antwort gab: »Lothar von Kalborn mischte sich ein, und während er den Angreifer zu beschwichtigen suchte, machte er«, sie wies auf den Toten, »sich davon.«
»Lothar von Kalborn?« Bandolf überlegte, doch der Name sagte ihm nichts.
»Er ist ein Gefolgsmann des Grafen von Braunschweig. Vor geraumer Zeit benötigte er meine Dienste, daher erkannte ich ihn«, sagte sie so schnell, dass Bandolf sie überrascht anschaute. Errötend wich sie seinem Blick aus und schien ihre Hände zu betrachten. Einen Augenblick lang stutzte Bandolf, aber sie sagte nichts weiter, und er war ungeduldig, mehr über den Streit zu erfahren.
»Und der Angreifer?«
Endlich wandte sie ihm wieder ihr Gesicht zu. »Ich weiß es nicht. Er war klein gewachsen und hatte eine dunkle Hautfarbe, ähnlich den Händlern aus Tuskien, Kalabrien oder Rom, die man zuweilen auf dem Markt sieht.«
»Hmm. – Und Lothar von Kalborn? Weißt du, wo er sich aufhält? Ist er noch in der Stadt?«
»Woher soll ich das wissen? Und jetzt lasst mich in Ruhe tun, worum Ihr mich gebeten habt.«
Der Burggraf zog sich ein paar Schritte zurück, um der Heilerin Platz zu machen, und während sich Garsende über den Leichnam des jungen Mannes beugte, um behutsam die Fibel von seinem Umhang zu lösen, richtete Bandolf seinen Blick angelegentlich auf die Spitzen seiner Stiefel.
Er musste herausfinden, wer dieser Mann war, überlegte er. Am besten fragte er in der Bischofspfalz oder im Domstift nach. Ein Mann von Stand, der Worms besuchte, würde zwangsläufig früher oder später dort vorstellig werden. Und sei es nur, um des Segens der kostbaren Reliquien, die im Dom gehütet wurden, teilhaftig zu werden. Falls er nicht durch puren Zufall in Bandolfs Haus gekommen war, musste er ein sehr dringliches Anliegen gehabt haben, sonst wäre er nicht mitten in der Nacht gekommen.
Eine Weile grübelte Bandolf darüber nach, welcher Art ein solches Anliegen sein könnte, dann unterbrach Garsende seine Gedanken.
»Süßer Jesus.«
Die Heilerin hatte den Umhang des Toten beiseitegeschoben, seinen Gürtel gelöst und das Hemd hochgezogen.
»Was hast du entdeckt?«
Garsende hob die Lampe und deutete auf den Leib des Toten etwa in Höhe des Bauchnabels. »Seht Ihr? Hier auf der rechten Seite ist eine Wunde.«
Bandolf kniff die Augen zusammen und sah eine kleine, rotgeränderte Verletzung, schmal und nicht größer als der Nagel von Garsendes kleinem Finger.
»Hmm, ein Stich«, brummte er. »Aber er scheint mir viel zu klein, um daran zu sterben.«
»Groß genug, meine ich, wenn er tief in seinen Leib reicht und auch die Eingeweide betroffen hat«, antwortete Garsende. »Und das tut er, glaubt mir das.«
Bandolf warf ihr einen argwöhnischen Blick zu, versagte sich aber zu fragen, wie sie das festgestellt hatte.
Sie schien sein Misstrauen zu spüren. Mit ärgerlich zusammengezogenen Brauen strich sie das Hemd glatt, zeigte ihm das kleine Loch, das mit der Wunde übereinstimmte, und auf die dunklen Flecken, die das helle Leinen über Halsborte und Brust aufwies.
»Das Blut wird schwarzgallig, wenn die Eingeweide verletzt sind«, erklärte die Heilerin, während sie begann, die Gewänder des Toten wieder in Ordnung zu bringen. »Der arme Mann hat schwarzgalliges Blut ausgespuckt. Das könnt Ihr an seinem Hemd und Umhang sehen, und an seinem Mund noch riechen.«
Darauf wollte Bandolf lieber verzichten. Nachdenklich strich er über seinen Bart.
»Müsste es nicht eine außergewöhnlich schmale Dolchklinge gewesen sein, die eine so kleine Wunde verursacht?«, überlegte er laut. »Solche schmalen Klingen brechen leicht.«
Unerwartet widersprach die Heilerin. »Nicht, wenn sie sorgsam geschmiedet sind. Ich besitze selbst ein Werkzeug mit einer so schmalen Klinge.«
Bandolf warf ihr einen scharfen Blick zu. »Wozu braucht eine Heilerin eine solche Waffe? Woher hast du sie?«
»Es ist keine Waffe, Burggraf«, erklärte sie ärgerlich, während sie die Fibel des Toten wieder an seinem Umhang feststeckte. »Es ist ein Werkzeug und gehörte einst meiner Großmutter. Ich brauche es, um Eiterbeulen, Furunkel und dergleichen aufzustechen.«
»Aber du könntest damit jemanden töten, und die Klinge würde nicht brechen«, beharrte er.
Garsende erhob sich. »Und wenn ich Euch diese morsche Bohle dort drüben über Euren Dickschädel ziehe, und Ihr sterbt an dem Schlag, dann ist diese unschuldige Bohle ebenfalls eine Waffe«, stieß sie hervor.
»Kein Grund, gleich das Gefieder zu sträuben.« Bandolf lächelte, wurde aber gleich wieder ernst.
»Du bist dir also sicher, dass der Mann an diesem Stich gestorben ist?«
»Ja doch. Soweit man in derlei Dingen überhaupt sicher sein kann.«
»Verdammnis!«, knurrte Bandolf. In Gedanken sah er bereits das feiste Gesicht Bischof Adalberos vor sich, der scheinheilig vor König Heinrich fragte, ob man denn einen Burggrafen im Amt belassen dürfe, in dessen Haus ein Mord geschehen war. Denn womöglich – nun, es sei ja nicht auszuschließen – habe der Burggraf, aus welchen Gründen auch immer, mit Hand angelegt, einen jungen Edelmann zu töten. Bandolfs Gesicht verdüsterte sich.
»Verdammnis!« wiederholte er. »Das bedeutet, dass der Fremde in meinem Haus ermordet wurde.«
»Ich wurde einmal zu einem jungen Fischer gerufen, der bei einem Streit in den Leib gestochen wurde«, sagte Garsende. Ihre Stimme klang nachdenklich. »Die Wunde war größer als die Eures Fremden, aber die Stelle, wo er getroffen wurde, war ähnlich. Sein Weib erzählte mir, der Streit sei zur Mittagsstunde, kurz vor der Sext, gewesen, und ihr Gatte wäre noch den ganzen Weg von St. Martin bis zu seinem Haus in der Cappelgasse gegangen. Er konnte sogar noch stehen, als ich eintraf, und die Glocke von St. Martin läutete zur Non’, als er starb. Und meine Mutter erzählte mir einst von einem Bauern, der in seine Heugabel gefallen war und sich den Wanst dabei aufgerissen hatte. Er schaffte es, von seinem Feld bis zu seinem Haus zu wanken, und starb erst, nachdem er sich niedergelegt und ein Priester ihm die Absolution erteilt hatte.« Ein Lächeln zuckte in ihren Mundwinkeln. »Demzufolge ist es sehr wohl möglich, dass der Fremde auf dem Weg zu Euch erstochen wurde.«
Bandolf verzog das Gesicht, als hätte er Schmerzen in einem fauligen Zahn, doch schließlich nickte er. »Ich hoffe, du hast recht.«
Er zog das Sackleinen wieder über das verzerrte junge Gesicht des Toten. Garsende bekreuzigte sich und stieß einen erleichterten Seufzer aus, als sie die Scheune verließen.