Читать книгу Ein Gloria zum Sterben - Susanne Gantner - Страница 8

DREI

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Innerhalb kurzer Zeit hatten Mitarbeiter der Abteilung Leib und Leben der Kantonspolizei Zürich einen Raum im Kirchgemeindehaus eingerichtet. Die Liste des Diakons lag bereits vor. Die Befragungen konnten beginnen. Natürlich waren nicht alle Kirchenchormitglieder so schnell erreichbar, aber wenigstens ein paar davon.

Thomas Truffer, der Kirchenchorpräsident, kam zuerst, ein rundlicher, jovialer Mann mit offenem Gesicht. «Ja, Melanie war sehr unbeliebt. Sie hielt sich für etwas Besseres. Seit sie das Solo für Weihnachten bekommen hatte, war sie kaum mehr auszuhalten. Man soll ja über Tote nichts Negatives sagen, aber sie war ein fürchterliches Tratschweib. Sie war eine Intrigantin und hat über alle hübschen Frauen schlecht geredet.»

«Über jemanden im Speziellen?»

«Ja! Über Carmen Vico, die bisher die Solostellen gesungen hat, seit sie beim Chor war. Carmen ist jung und eine Schönheit. Alle lieben sie. Sie singt auch viel besser, als Melanie es tat.» Thomas Truffer lief dabei rot an. Es war offensichtlich, dass er zu den Bewunderern von Carmen gehörte.

«Hatte Frau Hug denn Feinde?», wollte Heiri Stampfli wissen.

«Niemand vom Chor mochte sie. Von einigen wurde sie regelrecht gemobbt.»

«Gemobbt?»

«Ja. Einer hat einmal einen nassen Schwamm mit farbiger Kreide auf ihren Stuhl gelegt, als sie sich setzen wollte.»

Bonsai lachte. «Das ist eher ein Kinderstreich.»

«Wer hat Frau Hug diesen Streich gespielt?», fragte Stampfli.

«Muss ich das sagen?»

«Ich denke, das müssen Sie.»

«Nun, es war Hansueli Meier. Er ist halt ein bisschen impulsiv, aber in Ordnung.»

Bonsai zückte Notizblock und Bleistift. «Wann haben Sie die Kirche gestern verlassen? Wohin sind Sie gegangen?»

«Wir sind wie immer im Restaurant „Leuen“* eingekehrt. Das Zusammensein nach der Probe ist genauso wichtig wie das Singen selbst. Ich habe nicht auf die Uhr geschaut, aber wir haben etwa zehn vor zehn oder fünf vor zehn die Kirche verlassen.»

«Zwischen 21.50 und 21.55 Uhr», notierte Bonsai gewissenhaft. «Wer war im „Leuen“ dabei?»

«Ziemlich viele. Die lange Probe machte Durst.»

«Wer alles? Hansueli Meier?»

«Nein.» Thomas Truffer wechselte wieder die Farbe, als ihm klar wurde, dass er seinen Freund anschwärzen musste. «Er wollte nach Hause.»

«Okay, Herr Truffer. Machen Sie mir bitte bis Morgen Vormittag eine Liste mit den Kirchenchormitgliedern, die gestern nach der Probe im „Leuen“ eingekehrt sind, und eine zweite mit den Leuten, die bestimmt nicht dabei waren. Geht das?»

«Ja, sicher.» Der Kirchenchorpräsident begann zu schwitzen.

Stampfli hatte noch eine Frage: «Wer blieb auf der Empore zurück, als Sie die Treppe hinunterstiegen?»

«Auf jeden Fall Melanie Hug. Sie war immer die Letzte, weil sie als Archivarin die Noten sortieren und in den Schrank zurücklegen musste. Hansueli Meier und Fritz Zürcher haben die Stühle zusammengestellt. Mehr weiss ich nicht.»

«Der Dirigent und der Organist?»

«Die gingen früh zusammen weg, weil Alex Zumbühl, unser Chorleiter, den Organisten zum Hauptbahnhof fahren musste.»

«Okay. Im Moment ist das alles. Wir kommen auf Sie zurück, wenn wir weitere Fragen haben. Hier ist meine Visitenkarte. Sie rufen mich bitte an, falls Ihnen noch etwas einfällt, egal, ob es Ihnen wichtig oder unwichtig erscheint. Jede Kleinigkeit kann entscheidend sein. Vielen Dank für Ihre Mitarbeit, Herr Truffer.»

Als Nächster war ein schlanker Mann mit Brille und wachem Blick an der Reihe.

«Grüezi*. Wie ist Ihr Name?», fragte Stampfli.

„Ich heisse Gabriel Winiger.“

«Sie sind Gemeindearbeiter?»

«Ja.»

«Okay. Der Diakon, Herr Georg Amstutz, hat uns erzählt, dass Sie gestern Abend bei ihm waren, um etwas zu besprechen. Haben Sie als Letzter die Kirche verlassen?»

«Nein, fast als Erster, kurz nach dem Chorleiter und dem alten Organisten. Ich wollte den Diakon nicht warten lassen.»

«Der Organist ist alt?»

«Ja, Otto Haller ist schon 75. Deshalb muss ihn Alex manchmal fahren, wenn die Tochter keine Zeit hat. Otto wohnt in Bern.»

«Er kommt von Bern, um hier den Orgeldienst zu versehen?»

«Ja. Es gibt nicht genug Organisten.»

«Wann genau haben Sie die Kirche verlassen?» Bonsai hatte wieder Bleistift und Notizblock gezückt.

«Es muss unmittelbar nach dem Probenende gewesen sein: zwischen 21.45 und 21.50 Uhr.»

«Und Sie haben sich direkt zum Diakon begeben?», wollte Stampfli wissen.

«Ja. Allerdings habe ich auf dem Weg dorthin noch eine Zigarette geraucht.»

«Was mussten Sie denn Wichtiges mit dem Mann besprechen? Hätte das nicht bis zum nächsten Tag warten können?»

«Ich bin, wie gesagt, Gemeindearbeiter und dafür zuständig, dass an Weihnachten zwei Weihnachtsbäume in der Kirche stehen. Die sollte ich heute Morgen fällen. Ich musste mich mit dem Diakon über die Grösse einigen.»

«Und - haben Sie die Bäume gefällt?»

«Selbstverständlich.»

«Ist Ihnen auf dem Weg zum Haus von Herrn Amstutz irgendetwas aufgefallen? Eine fremde Person zum Beispiel?»

«Nein, ich war alleine auf dem Weg. Dann kamen wohl die anderen Kirchenchormitglieder, denn ich hörte, wie die Kirchentür aufging und jemand lachte.»

«Vielen Dank, Herr Winiger. Wenn Ihnen noch etwas einfallen sollte, etwas, was Sie beobachtet haben, rufen Sie mich bitte an.»

«Okay, gerne.» Auch Herr Winiger bekam eine Visitenkarte der Kantonspolizei.

Eine kleine alte Frau mit Stock betrat den Vernehmungsraum. Sie hatte ihre grauweissen Haare straff zu einem Dutt hochgesteckt. Hinter der unkleidsamen Brille sahen ihre Augen aus wie Schlitze. Sie marschierte energisch zu ihrem Stuhl und nahm umständlich Platz. Dann zeterte sie los: «Ich habe in meinem ganzen 85-jährigen Leben noch nie mit der Polizei zu tun gehabt. Was wollen Sie? Ich, Magdalena von Blumenthal, habe nichts mit dem Mord an Melanie Hug zu tun, obwohl ich finde, sie hat den Tod tausendmal verdient.»

«Grüezi, Frau Blumenthal. Ich bin Heiri Stampfli von der Kantonspolizei und dies ist mein Mitarbeiter Delafontaine. Wir haben nur ein paar Fragen an Sie.»

«Ich habe keine Lust, Ihre blöden Fragen zu beantworten. Sie stehlen mir nur meine Zeit.»

«Melanie Hug war Ihnen wohl nicht sympathisch?»

«Nicht sympathisch, nicht sympathisch! Melanie war eine eingebildete Gans. Sie meinte, sie sei die Callas von Zürich – mit ihrem fürchterlichen Vibrato*. Gut, dass sie uns nicht mehr auf den Wecker geht.»

«Haben Sie eine Ahnung, wer die Frau ermordet haben könnte?»

«Oh, ihre eigene Bosheit hat sie umgebracht, davon bin ich überzeugt.»

«Okay, Frau von Blumenthal, sind Sie nach der Probe noch zum Umtrunk in den „Leuen“ gegangen?»

«Oh nein, das mache ich nie. Wir vier Frauen vom Alt treffen uns nachher regelmässig zu einem Jass und einem Tee bei Liseli.»

«Bei Liseli?»

«Ja, bei Liseli Fischer. Bernadette Trachsler und Frieda Ermotti sind auch dabei.»

Bonsai schrieb die Namen in sein Notizbuch. «Sie sind gestern alle zusammen zu Liseli Fischer gegangen, um Karten zu spielen?»

«Sicher.»

«Und wann haben Sie die Kirche verlassen.»

«Nach der Probe.»

«Ist Ihnen nichts Aussergewöhnliches aufgefallen?»

«Was soll mir denn aufgefallen sein?»

«Okay, wir danken für die Auskunft, Frau von Blumenthal. Sie sind hiermit entlassen.»

«Hoffentlich auch. Es war mir kein Vergnügen», brummelte die Alte, bevor sie schnaufend aufstand und mit ihrem Stock zum Abschied an den Stuhl schlug.

«Uff», stöhnte Stampfli, nachdem die Tür hinter Frau von Blumenthal ins Schloss gefallen war. «Jetzt brauche ich etwas in den Magen. Ich bin am Verhungern.» Der Ermittler schätzte im Gegensatz zu Bonsai eine feine Mahlzeit. Er war ein strammer Mann mit muskulösen Oberarmen. Trotz dem sichtbaren Bauchansatz sah er nicht schlecht aus für seine 55 Jahre. Dichte, an den Schläfen bereits ergraute Locken umrahmten ein eher rundes Gesicht mit einer markanten Nase. «Komm Kleiner, wir gehen in die Pizzeria, die ich auf dem Weg hierher gesehen habe. Nachher können wir mit frischer Energie weitermachen. Die nächsten drei Chormitglieder habe ich erst in einer Stunde aufgeboten.»

Heiri packte Bonsai in seinen Opel. Sie fuhren zum Restaurant, das leider ziemlich voll war. Zum Glück bekamen sie noch einen kleinen Tisch neben der Theke. Der Ermittler bestellte eine grosse Pizza con Funghi e Salami con Mozzarella di Bufala*. Bonsai konnte sich nur für Spaghetti mit Tomatensauce erwärmen.

«Du bist schon kein Feinschmecker», meinte Heiri gutmütig und zeigte seine vielen Lachfalten.

«Nein, aber es gefällt mir so.» Bonsai ernährte sich in der Tat fast ausschliesslich von Toblerone*, Spaghetti, Pommes und – Pizza. Aber heute wollte er das nicht bestellen. Er war ein Fan von Fertigpizza. Trotz dieser ungesunden Ernährungsweise hatte der junge Mann kein Gramm zu viel auf den Rippen und war fit wie ein Turnschuh.

«Ein feines Glas Rotwein wäre jetzt der Hammer. Aber das liegt im Dienst nicht drin», meinte Stampfli mit Bedauern. Mit der riesigen Pizza hatte er keine Mühe. Wenn es einen schwierigen Fall zu lösen gab, bekam der Ermittler immer besonders viel Appetit.

Nach dem Essen kehrten die beiden ins Kirchgemeindehaus zurück. Es war noch niemand da.

«Bonsai, ruf doch bitte den Chorleiter, Alex Zumbühl, an und frag ihn, ob es stimmt, dass er gestern den Organisten Otto Haller zum Hauptbahnhof gefahren hat. Dann können wir die beiden von der Liste streichen.»

Bonsai griff zum Handy und konnte kurz darauf den Sachverhalt so bestätigen.

Es klopfte. Eine junge, ausserordentlich hübsche Frau mit langen, schwarzen Haaren und blitzenden, dunklen Augen kam hereingestöckelt.

«Das muss Carmen sein», dachte Bonsai amüsiert. Es war Carmen.

«Hallo. Mein Name ist Carmen Vico». Sie nahm elegant auf dem Stuhl Platz und schlug die Beine übereinander. Dabei stellte Bonsai fest, dass sie sehr schöne und schlanke Beine hatte. Auch ihr Busen war durchaus ansehnlich.

«Womit kann ich Ihnen dienen?» Ihre glockenhelle Stimme klang weich wie Samt.

Stampfli räusperte sich: «Frau Vico. Wir haben gehört, dass Sie in letzter Zeit die Sopransoli des Chores gesungen haben, bis Frau Hug nun an Weihnachten den Anfang des „Gloria“ übernehmen sollte.»

«Das ist richtig.»

«War das für Sie nicht ärgerlich? Sie haben eine schöne Stimme, hat man uns erzählt.»

«Nein, gar nicht. Ich glaube, der Chorleiter hatte Melanie das Solo anvertraut, damit sie auch einmal im Zentrum stehen konnte. Es war ihr so wichtig. Es ist traurig, dass sie Weihnachten nicht erleben durfte.»

«Sie mochten Frau Hug?»

«Sie wurde von allen Chormitgliedern gehasst und gemobbt. Warum? Mir tat Melanie vor allem leid. Sie war nur eine ältere, mollige Frau, die Liebe brauchte. Hinter ihrem abweisenden Wesen versteckten sich vermutlich Unsicherheit und Angst vor Nähe. Jetzt ist sie umgebracht worden. Das ist furchtbar.»

«Sie haben Frau Hug nicht gehasst?»

«Nein.»

«Ist Ihnen in letzter Zeit etwas an Frau Hug aufgefallen? War sie irgendwie anders, ängstlich?»

«Mir ist nichts aufgefallen.»

«Waren Sie nach der Probe auch im „Leuen“?», fragte Bonsai, nachdem er einen Blick auf seinen Notizblock geworfen hatte.

«Nein. Ich musste noch aufs Klo. Als ich herauskam, waren die anderen bereits verschwunden. Ich hatte leichte Kopfschmerzen und bin nach Hause gegangen.»

«Befanden sich Hansueli Meier und Fritz Zürcher noch in der Kirche, als sie zur Toilette gingen? Sie ist ja draussen beim Friedhof.»

«Ich habe nicht darauf geachtet.»

«Haben Sie jemanden auf dem Weg zum WC gesehen oder nachher, als Sie rauskamen?»

«N-nein.» Carmen presste die Lippen zusammen.

«Sicher nicht?»

«Nein.»

«Sind Sie zu Fuss nach Hause gegangen?»

«Nein, mit dem Fahrrad.» Carmen fuhr sich mit der linken Hand durch die Haare.

«Hat Sie jemand gesehen?»

«Ich glaube nicht, warum fragen Sie?»

«Nur so. Hat Sie jemand zu Hause erwartet?»

«Nein, ich lebe alleine!»

«Wann sind Sie dort angekommen?»

«Ich habe nicht darauf geachtet.»

«Danke, Frau Vico. Wenn wir noch Fragen haben, melden wir uns wieder. Bitte halten Sie sich auf alle Fälle zu unserer Verfügung.»

«Okay, guten Abend». Und weg war die Schöne.

«Sie ist verdächtig», stammelte Bonsai, kaum war die Tür zu.

«Ja», meinte Stampfli lakonisch. «Auf jeden Fall sagt sie nicht die Wahrheit. Möglicherweise deckt sie den Mörder oder sie war es selbst. Dieses Gesäusel von wegen Mitleid mit Melanie glaube ich ihr auch nicht. Sie muss doch wahnsinnig eifersüchtig auf die Frau gewesen sein, die ihr die Solopartie wegnahm.»

«Wir werden sehen», stimmte Bonsai zu.

Es klopfte. «Ja!», rief Heiri.

Wieder ertönte ein leises Klopfzeichen. «Kommen Sie doch herein.»

Nichts. Bonsai stand auf und öffnete die Tür.

Ein buckliger Mann mit weissem Flaum auf dem spiegelglatten Schädel trat schlurfend ein.

«Wie ist Ihr Name?»

«Hä?»

«Wie heissen Sie? Ich bin Heiri Stampfli von der Kantonspolizei und das ist mein Mitarbeiter Delafontaine.»

«Hä?»

Nach endloser Fragerei stellte sich heraus, dass der Mann im Bass sang und Hans Winter hiess. Er trug zwar in beiden Ohren ein Hörgerät, aber die Unterhaltung war mehr als mühsam. Er hatte nichts gesehen und nach der Probe mit den anderen den „Leuen“ besucht.

Entnervt schickte ihn Stampfli nach Hause. Der Mann hatte mit Sicherheit nichts mit dem Mord zu tun.

«Mein Gott, was tut so einer in einem Kirchenchor? Er hört ja kaum etwas», beschwerte sich Bonsai.

«Wahrscheinlich ist er im Quartier beliebt und deshalb wollte ihn niemand zurückweisen», meinte Stampfli. «Seine Stimme ist so leise, da hört man es nicht, wenn er falsch singt.»

Die Nächste, Marili Schneeberger vom Sopran, war jung und fad. Man musste jeden Satz aus ihr herausklauben. Sie hatte weder Beobachtungen gemacht noch eine Meinung zum Geschehen und sie war im „Leuen“ dabei gewesen. Ihre Stimme ähnelte einem Vogelgezwitscher.

«Ist nicht leicht, einen Kirchenchor zu leiten», meinte der Ermittler, nachdem die Frau den Raum verlassen hatte. «Wir hören auf für heute. Morgen führen Heinz und Sonja die Befragungen durch. Wir beide haben um 9 Uhr eine Sitzung in der Kripoleitstelle. Hoffentlich hat der Rechtsmediziner bis dann erste Erkenntnisse. Ich kann dich nicht in meinem Auto mitnehmen. Du bist ja mit deiner Vespa gekommen.»

«Egal. Ich fahre gerne ein bisschen durch die Nacht. Schlaf gut, Heiri.»

«Du auch, Bonsai.»

Ein Gloria zum Sterben

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