Читать книгу Angels Fall - Susanne Leuders - Страница 10
ОглавлениеLevel IV
Ich stehe auf dem Dach eines fahrenden Autos und breite die Arme aus. Der Wind weht durch mein Haar, streift mein Gesicht. Während der Wagen immer mehr beschleunigt, schließe ich meine Augen, spüre das Kribbeln im Bauch, das mir sagt, ich lebe, ich bin frei.
Ich lache laut und öffne erneut die Augen.
Die Tannen des Waldes, durch den sich die Straße schlängelt, rasen an mir vorbei, in den Kurven muss ich in die Knie gehen und meinen Körper immer wieder ins Gleichgewicht bringen. So stelle ich mir Surfen vor.
Ich lache nochmals, fühle mich gut.
Plötzlich steht Ben mit blutigem Schädel mitten auf der Straße.
Die Bremsen quietschen, ich kann mich nicht mehr halten, stürze im hohen Bogen in Richtung Asphalt - auf meinen Bruder zu.
Ich schreie …
***
Der erstickte Schrei schnürte ihre Kehle zu und ließ sie mitten in der Nacht aus dem Schlaf hochfahren. Ihre Finger krallten sich ins Laken und sie versuchte, ihre Atmung wieder in den Griff zu bekommen. Eine kaum wahrnehmbare Berührung an der Schulter beruhigte sie auf eine seltsam vertraute Art. Ihr Gehirn schien allerdings noch vom Alkohol vollkommen träge und sie konnte keinen Gedanken konstruieren, der half, ihre Fragen zu beantworten.
Wer berührte sie?
Und warum war ihr Zimmer plötzlich ganz anders eingerichtet?
Ein stechender Schmerz, als bohrte sich ein großer, spitzer Nagel in ihren Schädel, durchfuhr diesen und ihre Umgebung begann sich zu drehen. Keuchend griff sie mit beiden Händen an ihren Kopf, legte sich vorsichtig zurück auf den Rücken und genoss die leichte Linderung, die diese Position mit sich brachte.
„Alles in Ordnung?“, hörte sie aus scheinbar weiter Ferne jemanden fragen. Eigentlich wollte sie eine Antwort flüstern, doch weder ihr Mund noch ihre Zunge oder ihr Gehirn gehorchten und sie rutschte wieder abwärts in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
***
Durch ein Kitzeln am Arm erwachte Amelie ein weiteres Mal, obwohl ihr Gefühl sagte, dass es noch lange nicht Zeit war, aufzustehen. Verärgert schlug sie dorthin. Egal, was es war, es störte und musste verscheucht werden.
Kurze Zeit später war diese lästige Berührung allerdings erneut zu spüren und holte sie nach und nach an die Oberfläche ihres Bewusstseins. Doch das interessierte sie nicht.
Daraufhin packte jemand ihre Schulter und rüttelte zunächst vorsichtig, dann immer heftiger.
„Amelie? Du musst aufwachen. Wir müssen zur Schule“, meinte sie, ihre Mutter sagen zu hören, und wunderte sich darüber, wie sie auf diese Idee kam. Es war Ewigkeiten her, seit Amelie das letzte Mal von ihr persönlich geweckt worden war. Seltsam war nur, dass sich diese Stimme veränderte, je heftiger ihr Körper gerüttelt wurde, und schließlich eindeutig eine männliche Stimmlage einnahm.
Wieso ist Ben denn hier?, fragte sie sich verwirrt. Der ist doch …
Sie riss die Augen auf, versuchte zu verstehen, wo sie sich befand, konnte jedoch keinen Anhaltspunkt, nichts Vertrautes finden.
Es war schon wieder passiert! Verdammt!
Wie unangenehm. Der Typ, mit dem sie offensichtlich die Nacht verbracht hatte, war vor ihr wach geworden und sie würde sich mit ihm auseinandersetzen müssen. Dabei konnte sie sich auch dieses Mal an nichts erinnern.
Sie zögerte diesen peinlichen Augenblick noch einen Moment hinaus, atmete dann tief durch, drehte sich zu ihm und sah ihn an. Sah in ein Lächeln, das man hätte umwerfend nennen können, wenn es nicht das falsche Gesicht verzaubern würde.
Nein! Sie träumte! Einen Albtraum! Hatte sie einen Schlag auf den Kopf bekommen? Das konnte nicht sein!
Mit einem Schrei des Entsetzens saß Amelie senkrecht im Bett und zog die Bettdecke bis ans Kinn.
„Oh, mein Gott! Das ist doch wohl ein schlechter Scherz!“
Die leichte Hysterie in ihrer Stimme entging weder ihr noch ihm.
Er lachte. Ja, er lachte sie sogar aus und grinste sie frech an. „Ich wünsche dir ebenfalls einen schönen Morgen!“
Amelie verschwand komplett unter der Decke. Sie brauchte Ruhe, Zeit zum Nachdenken und vor allem eine neue Strategie. Eine wirklich gute Strategie, mit der sie die Welt umgestalten konnte, damit sie sich bloß nicht eingestehen musste, dass sie sich bezüglich dessen, was sie da gerade gesehen hatte, nicht irrte.
Was war hier los?
Wieso wachte sie im Bett von Lennard Patrick von Heerens auf?
Ja, zu ihrem eigenen Grauen war er es, der neben ihr auf dem Bett saß, sie höchst amüsiert beobachtete und wahrscheinlich so lange nicht verschwinden würde, bis sie wieder aus ihrem Versteck hervorkam.
Und – das war besonders beunruhigend – warum strahlte er sie so an? Sie hatten doch wohl nicht etwa …
Krampfhaft versuchte sie, sich an den gestrigen Abend zu erinnern, konnte jedoch auf kein einziges Bild zurückgreifen - und sei es auch noch so flüchtig -, das diesen Idioten mit der letzten Nacht in Verbindung brachte. Sie hatte bisher nie erstklassigen Geschmack bei ihrer Übernachtungsauswahl bewiesen. Aber das hier übertraf alles an abschreckenden Beispielen, was sie bislang erlebt hatte!
Aber es half nichts. Sie konnte nicht den restlichen Tag nackt unter seiner Decke verbringen. Oh, nein, sie hatte nichts an und dieser … dieser Mr. Beautiful, der in der vergangenen Nacht scheinbar die letzte unangetastete Bastion der Jahrgangsstufe, wenn nicht sogar der gesamten Schule, eingenommen hatte, saß grinsend neben ihr und wusste womöglich ganz genau, was sie dort zu verbergen versuchte. Sie hätte schreien können!
Nun gut, dachte sie sich schließlich, heute ist nicht dein Tag. Mach trotzdem das Beste daraus und …
Ja, was und?
Langsam zog sie die Decke von ihrem Kopf, hoffte darauf, eine völlig andere Person zu erblicken und sah vorsichtig zu ihm hinüber. Lennard blieb jedoch Lennard.
„Was hast du gemacht? Ich meine, warum bin ich hier?“, blaffte sie ihn entsetzt an.
Er lachte nur. „Ich habe mich revanchiert.“
„Wofür? Was habe ich dir denn getan?“, fuhr sie ihn weiter an. Höchstwahrscheinlich versteckte sich irgendeine Gemeinheit hinter seinen Worten!
Amelie wurde nervös. Hoffentlich hatte er keine Fotos geschossen, die bereits im Internet kursierten und zur Belustigung der gesamten Schule auf Facebook gepostet und auf sämtlichen Smartphones abgespeichert waren.
Ich muss verschwinden, auswandern, meine Identität ändern, schoss es ihr durch den Kopf.
Sie sprang hektisch auf, versuchte, sich in die Bettdecke zu wickeln und klaubte ihre Kleidungsstücke zusammen, die ihr auf dem Boden verteilt den Weg zum Ausgang zeigten.
Amüsiert beobachtete Lennard sie vom Bett aus, stand schließlich auf, stellte sich ihr in den Weg und hob beschwichtigend seine Hände.
„Jetzt beruhige dich erst einmal. Es ist nicht so, wie du denkst.“
Aufgebracht blieb sie direkt vor ihm stehen. Während sie mit der Bettdecke und einem Teil ihrer Kleidung kämpfte, versuchte sie, die Beherrschung nicht zu verlieren. „Ach, und was glaubst du, denke ich hierüber?“, zischte sie ihm zu und vollführte eine wütende Geste, bei der ihre gerade aufgelesene Hose wieder zu Boden fiel und sie unbeabsichtigt einen Teil ihres Oberkörpers entblößte. Sofort huschte ein Grinsen über Lennards Gesicht. Schnaubend schob sie ihn beiseite, hob ihre Hose erneut auf und machte sich auf den Weg, das Bad zu suchen.
„Du wolltest mit einem echt miesen Typen verschwinden, da habe ich dir eine filmreife Szene gemacht und dich mit zu mir genommen. Das war alles“, sagte Lennard hinter ihr.
Amelie blieb im Rahmen der Zimmertür stehen und verharrte dort für einen Moment.
Verdammt, es war wirklich wieder passiert und sie konnte vielleicht von Glück sprechen, dass er sie aus dieser Situation geholt hatte. Er hatte sie vor dem anderen Kerl beschützen wollen? Das durfte nicht wahr sein!
Revanchiert, revanchiert. Was wollte er mit diesem Ausdruck andeuten? Er wusste also doch, dass sie es an dem Abend gewesen war, die ihm geholfen hatte?
Dieser Typ machte Amelie wahnsinnig.
„Dann sind wir also quitt“, murmelte sie zögernd.
„Ja, so könnte man das nennen.“
Er wurde ebenfalls vorsichtiger. Seine Stimme klang plötzlich sanfter. „Man könnte es allerdings auch als kleines Dankeschön ansehen.“
Neugierig drehte sie sich um und runzelte die Stirn.
„Woran hast du mich erkannt?“
Er steckte eine Hand in die Hosentasche und mit der anderen rieb er seine Nase, wich ihrem Blick aus. Aha, er hatte etwas zu verbergen und ihre Frage, oder aber die Antwort darauf, war ihm unangenehm.
Einen kurzen Moment wartete Amelie. Als keine Reaktion mehr kam, wendete sie sich von ihm ab und setzte ihre Suche nach dem Bad schweigend fort. Er folgte ihr.
„Das ist komplizierter, als dass man es in einem einfachen Satz erklären könnte.“
Amelie ließ ihn links liegen, tat so, als hätte sie das Interesse an seinen Spielchen verloren, und schaute sich in seiner Wohnung um.
Das Schlafzimmer, aus dem sie gekommen war, war sehr funktional gehalten und gab kaum etwas über ihn preis. Ein Bett, ein Schrank, eine Kommode und einige Fotos in schlichten Rahmen, die auf eine besondere Art eingefangene Landschaften zeigten. Doch das registrierte sie alles nur nebenbei.
Vom Zimmer aus kam sie in einen kleinen Flur, an dessen Ende vom Boden bis zur Decke ein Fenster aufragte. Am anderen Ende schien er in ein Wohnzimmer zu münden, in dem Amelie die Wohnungstür entdeckte. Na, prima!
„Kann ich schnell duschen?“, fragte sie kurz angebunden und sah ihn wütend an, ohne auf seine Ausflüchte zu reagieren. Er zögerte irritiert, zeigte dann auf die Tür direkt neben ihr und hielt ihr plötzlich ein Handtuch hin, das zuvor auf einem Stuhl bereitgelegen hatte. In einem Schwung warf sie ihre Kleidung in sein Bad, nahm das Handtuch und reichte ihm im Gegenzug die Bettdecke. Sein Gesichtsausdruck verwandelte sich augenblicklich in ein verblüfftes Grinsen.
„Na, du wirst nichts entdecken, was du dir gestern Abend nicht bereits angeschaut hast“, fuhr sie ihn an, um diese für sie völlig absurde und ebenso peinliche Situation zu überspielen.
„Das stimmt nicht“, konterte er und verzog leicht angewidert sein Gesicht. Amelie spürte, wie die Wut auf diesen eingebildeten Kerl in ihr weiter aufkochte.
„Ach, hat dir das, was du gesehen hast, etwa nicht zugesagt?“
Er sah sie überrascht an.
„Das habe ich nicht gesagt.“
„Na ja, dann kann ich nachher sicher deine bescheuerten Freunde nach deiner Meinung ausquetschen. Oder ich bekomme sie auch ohne Nachfrage frisch serviert. Am besten noch vor der ganzen Klasse.“
Dabei war ihre Stimme immer lauter geworden, während Lennard lediglich seine Augenbrauen hochzog. Erst beim Aussprechen und In-Worte-fassen wurden ihr die Dimensionen dieser Katastrophe tatsächlich bewusst. In einem anwachsenden Panikanfall fragte sie sich im selben Moment, wie lange es wohl dauern würde, bis der Spott aufhörte und sie wieder normal zur Schule gehen konnte.
Sie hielt kurz inne und starrte Lennard an, ohne ihn richtig wahrzunehmen.
Er wirkte auf einmal nervös. Das lenkte Amelie von ihren trüben Gedanken ab. Langsam und völlig unverhohlen ließ er seinen Blick über ihren nackten Körper gleiten und begann, unvollständige Sätze von sich zu geben, während er alles mit passenden Bewegungen seiner Hände untermalte. „Sag mal, kannst du dir nicht … ich meine, wenn du da so stehst und mit mir streitest … das irritiert mich jetzt schon … ähm …“
Amelie sah ihn entgeistert an, brauchte einen Moment, um sich zu sammeln. „Hast du einen Kaffee für mich?“, fragte sie unwirsch, um von ihrer Nacktheit abzulenken, die ihr plötzlich doch irgendwie unangenehm war.
„Schon fertig“, kam prompt die Antwort, ohne dass er seinen Blick von ihrem Körper lassen konnte.
Schnell drehte sie sich um, knallte die Tür direkt vor seiner Nase zu und lehnte sich mit geschlossenen Augen dagegen. Sie atmete tief ein und hielt den Atem an.
Das durfte doch nicht wahr sein!
Es war der reinste Albtraum.
Lennard stand noch eine Weile auf der anderen Seite der Tür, dann erst hörte sie seine Schritte, die sich in Richtung Wohnzimmer entfernten.
Unter der Dusche kamen Amelie die Tränen. Diese Situation war eine der schlimmsten, in die sie hätte kommen können. Sie schwor sich, nie wieder Alkohol zu trinken. Ob Lennard sie wirklich nur zu ihrem eigenen Schutz mitgenommen hatte, konnte sie in keiner Weise beurteilen. Belog er sie oder hatte er ihr bezüglich der letzten Nacht die Wahrheit erzählt? Was war tatsächlich zwischen ihnen gelaufen?
Sie konnte nur hoffen, dass sie nichts miteinander getan hatten, was sie jetzt bereuen müsste. Nichts, womit er sich bei seinen Freunden wichtig oder womöglich über sie lustig machen könnte. Ihr Magen krampfte sich bei dieser Vorstellung schmerzhaft zusammen.
Warum war dieser Idiot überhaupt noch einmal in der Katze aufgetaucht? Eigentlich war er doch mit Jonas und Co verschwunden. Irgendwo musste ein Haken sein, irgendetwas Gemeines lauerte auf sie. Sie sollte so zügig wie möglich aus dieser Wohnung verschwinden. Nicht, dass die anderen ebenfalls auftauchten und noch Schlimmeres passierte. Denen traute sie alles zu.
Rasch trocknete sie sich ab, warf sich ihre Kleidung über den Körper, zog schnell Lidstrich und Lippenstift über die entsprechenden Gesichtspartien und steckte sich einen Kaugummi in den Mund. Nachdem sie ihre Sachen zusammengerafft hatte, schwang sie ihren Rucksack über die Schulter, verließ entschlossen das Badezimmer und machte sich geradewegs zur Wohnungstür auf. Sie wollte nichts mehr riskieren.
„Und was ist mit deinem Kaffee?“
Bei Lennards Worten zuckte sie zusammen, blieb halb mit dem Rücken zu ihm stehen und starrte auf die Tür. Würde sie abgeschlossen sein? Ihr Herz raste.
„Mit Milch, oder?“
Herrgott noch mal, woher wusste er, wie sie ihren Kaffee trank? Die Sanftheit in seiner Stimme brachte sie völlig aus dem Konzept und sie drehte sich verwundert zu ihm um.
Da war es wieder, dieses vorsichtige, scheue Lächeln, das seine hübsch geschwungenen Lippen umspielte und etwas in ihr ansprach, was sie nicht wahrhaben wollte.
Mit einer abwehrenden Handbewegung lehnte sie ab. „Ich gehe jetzt lieber. Es ist besser, wenn ich sofort abhaue.“
Dabei öffnete sie die Tür und machte den ersten Schritt hinaus in ihre eigene Welt, in der dieser Typ nichts zu suchen hatte und hoffentlich bald Geschichte war.
Ein Löffel fiel in die Spüle, schnelle Schritte verfolgten sie und im nächsten Moment spürte sie Lennard hinter sich, der die Tür festhielt und damit verhinderte, dass Amelie sie schließen konnte. Erschrocken drehte sie sich zu ihm um und ihr erstaunter Blick traf auf seinen.
Ein winziger Moment der Unsicherheit entstand zwischen ihnen, erfasste sie beide und ließ in Amelie das innere Bild eines einsamen Felsens aufflammen, auf dem sie sich plötzlich gemeinsam befanden, während um sie herum die Brandung tobte.
Es war allerdings nicht das Meer, das in ihren Ohren rauschte, sondern eher ihr Puls. Trotzdem hörte sie nicht wirklich, was er sagte, als er den Mund öffnete und mit seinen Lippen Worte formte, die sie nicht verstehen konnte.
Deshalb fragte sie noch einmal verwirrt nach: „Was sagst du da?“
Er biss sich unsicher auf die Unterlippe, sah sie ein wenig ängstlich an und antwortete: „Ich möchte aber nicht, dass du so schnell verschwindest, Angel.“
***
Von Striker
(Donnerstag, 7.Dezember, 20:04)
Rede mit mir!
…
Von Striker
(Donnerstag, 7.Dezember, 23:26)
Sehen wir uns morgen???
…
Von Striker
(Freitag, 8.Dezember, 15:30)
Wo warst du? Du machst doch nicht etwa wegen mir blau, oder? Wenn ja, dann vergiss es. Hätte ich es dir nicht sagen sollen? Hätte ich so tun sollen, als wäre ich jemand anderes? Was hätte dir Striker sagen sollen, warum er nicht zur verabredeten Zeit da war? Hätte ich dich anlügen sollen? Wie wäre es mit: Mir ist etwas dazwischengekommen, sorry? … oder Ich habe es mir doch noch einmal überlegt und will dich gar nicht kennenlernen?
Was erwartest du von mir?
Was soll ich deiner Meinung nach tun?
***
Isolation.
Das Leben um Amelie herum würde einfach weitergehen wie bisher, während sie selbst den Kontakt zur Außenwelt verlor. Der einzige Bezugspunkt, der ihr nach Bens Unfall geblieben war, hatte sich als Katastrophe, Lüge, als etwas herausgestellt, das nicht real war, nichts brachte, zu nichts führte.
Das ganze Wochenende hatte sie sich darüber Gedanken gemacht, wie sie mit dieser Situation umgehen sollte.
Der einzige Mensch, den sie traf, war ihre Mutter, die bei den gemeinsamen Mahlzeiten genauso erstarrt und in sich gekehrt dasaß wie auch den Rest des Tages. Amelie wurde fast von der Schwere des Leidens ihrer verwaisten Mutter und den in dunklem Mahagoni vertäfelten Wänden im weitläufigen Esszimmer erdrückt. Sie kam sich auf ihrem viel zu großen und schweren Stuhl an dem verlassen wirkenden, langen Massivholztisch völlig verloren vor.
Die einzigen Geräusche in diesem Raum waren das gelegentliche, leise Klimpern von Metall auf Porzellan und das drohende Ticken der mit Verzierungen überladenen Standuhr, einem alten Erbstück ihrer Familie väterlicherseits. Amelie hasste sie.
Es war so still, dass die Angst in ihr emporstieg, ihre Gedanken könnten hörbar werden. Doch es war ohnehin niemand anwesend, den das, was in ihr vorging, interessierte.
Wie lange hatte Lennard wohl schon gewusst, dass sie Angel war? Er hatte sich in der Schule niemals etwas anmerken lassen. Oder hatte sie es einfach nur übersehen?
Hätte er nicht irgendetwas sagen können? Oder war es für ihn ebenfalls ein Schock gewesen, als er es herausgefunden hatte? Er war es doch, der sich die ganze Zeit mit ihr treffen wollte, also konnte es für ihn nicht so schlimm gewesen sein.
Ein kalter, entsetzter Schauer lief durch ihren Körper.
Spielte er ihr gerade als Striker vielleicht etwas vor? War dieses Treffen womöglich eine Falle gewesen, um sie damit in der Klasse und vor seinen Freunden lächerlich zu machen?
Wie blöd und naiv sie sich auf diese Geschichte eingelassen hatte! Sie könnte sich dafür ohrfeigen. Hektisch überlegte sie, was sie ihm alles von sich erzählt hatte und spürte dabei die Tränen in sich aufsteigen. Nicht nur vor Wut, sondern auch aus Enttäuschung. Wie konnte das alles nur sein?
Nach dem Abendessen saß sie noch lange vor dem Laptop und betrachtete Strikers letzte Frage.
Sie tippte ihre Antwort.
Von Angel
(Sonntag, 10.Dezember, 22:17)
Was du tun sollst?
… mich in Ruhe lassen!
Dann löschte sie ihren Account auf dieser Seite.
***
Leere.
Tief und gemein bohrte sie sich in Amelies Körpermitte und breitete sich von dort in jeden Winkel ihres Inneren aus. Hinterließ eine Ödnis und Kälte, die alles erstarren ließ, ähnlich dem, was ihre Mutter gerade durchlebte.
Das erste Mal in ihrem Leben sehnte sie sich nach ihrem Vater. Er war praktisch in sein Büro gezogen, weil er es nicht mehr ertragen konnte, nach dem Verlust seines geliebten Sohnes nun auch noch seine Frau Stück für Stück zu verlieren. Anstatt ihr zu helfen, vergrub er sich lieber in seiner Arbeit und hoffte vielleicht auf bessere Zeiten.
Dass diese niemals wieder zurückkehren würden, daran dachte er wahrscheinlich gar nicht.
Auch in der Schule ging in der nächsten Woche alles an Amelie vorbei. Immer häufiger musste sie nach der Stunde noch auf ein Wort beim Lehrer bleiben, um sich anzuhören, wie miserabel ihre Mitarbeit sei und dass sie dadurch ihren Abschluss im Frühjahr gefährden würde.
Niemand wusste, was in Amelies Leben wirklich schieflief und sie offenbarte sich keinem.
Herrn von und zu Heerens ignorierte sie, so gut es ging. Wie eh und je konterte sie mit provokanten Sprüchen oder Gesten, wenn einer vom Dreamteam etwas Gemeines über sie zum Besten gab. Lennard hielt sich dabei zurück, ließ sich nichts anmerken, tat so, als sei das alles nicht passiert. Genauso wie Amelie selbst.
Ab und zu erwischte sie ihn, wie er sie heimlich beobachtete. Dies ließ er jedoch sofort bleiben, sobald er begriff, dass sie es bemerkte.
Immerhin blieb das erwartete Desaster aus und es kursierten keinerlei obszöne Bilder, Filme oder Geschichten über diese gemeinsame Nacht. Dafür braute sich eine andere Katastrophe in Amelies Leben zusammen, die jeder hätte sehen müssen. Doch alle verschlossen ihre Augen, keiner hatte versucht, es zu verhindern, denn sie alle waren zu sehr mit sich selbst beschäftigt und fühlten sich hilflos.
Eigentlich hatte Amelie nur zur Toilette gemusst, war aber durstig geworden und wollte sich aus der Küche eine Flasche Wasser holen.
Es war tatsächlich das Wasser gewesen, das sie geweckt hatte, nicht nur die Sehnsucht ihrer Kehle danach, sondern auch sein Geräusch.
Mit nackten Füßen stand sie plötzlich darin, runzelte die Stirn und folgte dem Plätschern. Es hätte sich angenehm anhören können. Doch das tat es nicht.
Amelie wusste später nicht mehr, wie lange sie regungslos im Badezimmer ihrer Eltern gestanden und den Körper ihrer Mutter angestarrt hatte, während der Inhalt der Wanne wie ein Wasserfall über den Rand lief und sich dunkelrosa gefärbt über ihre Füße ergoss. Die Augen ihrer Mutter waren geschlossen, doch Amelie wartete darauf, dass sie sich öffneten, sie erst erschrocken und im nächsten Moment vorwurfsvoll ansahen. Doch das taten sie nicht.
Nur langsam tröpfelte die Erkenntnis in ihr Bewusstsein, dass ihre Mutter sie niemals wieder ansehen würde. Dem viel zu heißen Wasser an ihren Füßen ähnlich, spürte Amelie, wie sich Wut über sie ergoss und sie aus der Erstarrung löste. „Das hast du extra gemacht, Mama“, zischte sie ihr vorwurfsvoll zu, während sie sich über den leblosen Körper beugte und den Wasserhahn zudrehte. „Du wolltest, dass ich dich so finde, verdammt!“ Amelie stellte sich aufrecht hin und starrte fassungslos ihre Mutter an, ärgerte sich darüber, dass ihre Augen durch die aufsteigenden Tränen brannten, und biss sich wütend auf die Unterlippe. Nein, sie würde jetzt nicht weinen, kein Stück. Das hatte diese Frau nicht verdient. Keine einzige ihrer Tränen.
Das Geräusch schnell stampfender Schritte auf der Steintreppe drang zu ihr durch. Die überraschten Ausrufe des Hausmädchens, das sich über die Wassermassen im Flur wunderte, holten sie endgültig in die Realität zurück. Amelie schluckte den Klumpen in ihrem Hals hinunter, wendete sich von ihrer Mutter vollends ab, ging ins Schlafzimmer und wählte die Büronummer ihres Vaters. Als er sich nach einigen Klingeltönen verschlafen meldete, sagte sie tonlos: „Mama ist tot.“
Gedankenleer und wie in einem Kokon versteckt, ließ sie die aufheulende Hausangestellte und ihre tote Mutter hinter sich, um unter wilden Rufen und hektischen Schritten um sich herum ihr Elternhaus zu verlassen. Sie musste weg. Und zwar so schnell wie möglich! Ganz gleich, wohin!
***
Ein innerer Impuls hatte sie zu ihm geführt. Vor seinem Apartmenthaus angekommen, spürte sie ihre Füße nicht mehr. Es war Dezember und Amelie hatte vergessen, ihre Schuhe anzuziehen. Unter ihrer Jacke, die sie sich im Vorbeigehen von der Garderobe gerissen hatte, trug sie lediglich ein Nachthemd und einen Slip.
Es dauerte eine Weile, bis sie nach dem Klingeln seine verschlafene Stimme im Lautsprecher hörte. Sie zögerte. War das wirklich eine gute Idee hierher zu kommen?
Was blieb ihr übrig? Sie kannte sonst niemanden.
„Striker?“, fragte sie leise und seine Gegenfrage kam prompt und verblüfft. „Ja?“
„Ich bin's, Angel. Ich brauche dich.“
Keine zwei Minuten später ging die vom Eingang aus zu sehende Fahrstuhltür auf. In Jeans und zerknittertem T-Shirt durchquerte er mit weiten Schritten den Eingangsbereich und kam direkt auf sie zu. Dabei rief er dem Nachtportier irgendetwas aufgebracht entgegen, ohne Amelie aus seinen besorgten Augen zu lassen.
Im nächsten Moment ging der Summer der Tür und er zog sie in die Wärme, in seine Arme. Leise vor sich hin fluchend schob er sie am Nachtportier vorbei in den Fahrstuhl, fuhr mit ihr zu seinem Apartment und versuchte sie durch seinen eigenen Körper zu wärmen. In der Wohnung angekommen, schob er sie ohne zu zögern ins Badezimmer, zog ihr die Kleidung aus und stellte sie unter die heiße Dusche. Doch auch da ließ er sie nicht los, sondern folgte ihr, so wie er war, mit unter den Wasserstrahl, bis sie aufhörte zu zittern.
Später saß Amelie in eine Decke gehüllt auf seinem Sofa und er reichte ihr mit ernstem Gesicht einen Becher mit heißem Tee. Er hatte ihr einige viel zu große Kleidungsstücke von sich geliehen, die ihr aber irgendwie das Gefühl von Geborgenheit gaben.
„Willst du mir sagen, was passiert ist?“, fragte er vorsichtig, aber sie schüttelte kaum sichtbar ihren Kopf und senkte nachdenklich den Blick auf einen Punkt direkt vor sich.
„Hat dir jemand wehgetan?“, bohrte er weiter und beugte sich ein wenig vor, um ihren Blick einzufangen. Er hatte sich neben sie gesetzt und eine seiner Hände lag nahe ihrer Schulter auf der Rückenlehne. Amelie schüttelte lediglich den Kopf. Sie konnte jetzt mit niemandem darüber sprechen und hätte für das, was sie erlebt hatte und bei der Erinnerung daran noch immer empfand, ohnehin keine Worte finden können. Es war zu weit weg und zu tief in ihr verborgen. Zu abstrakt, als dass sie es hätte beschreiben können.
Striker atmete deutlich hörbar ein und nickte langsam. „Du kannst so lange hierbleiben, wie du willst. Auch morgen. Du bekommst das Bett und schläfst dich erst einmal aus. Ich übernachte auf dem Sofa, damit ich in der Nähe bin und du jederzeit kommen kannst, wenn du etwas brauchst. Dann sehen wir weiter.“
Verblüfft schaute sie zu ihm und ließ ihren Blick nervös über sein Gesicht wandern. Wieso schlug er ihr so etwas vor? Er konnte sie doch gar nicht leiden!
Der Wunsch, augenblicklich aufzuspringen und diese Wohnung zu verlassen, regte sich auf einmal in ihr und füllte sie immer mehr aus. Sie konnte auf keinen Fall bei ihm bleiben. Was hatte sie sich nur dabei gedacht, ausgerechnet zu Lennard von Heerens zu laufen, und sich ihm auf so jämmerliche Art und Weise zu präsentieren?
Er betrachtete sie ebenfalls aufmerksam und sie wollte gerade sagen, dass sie lieber gehen wollte, als er ihr zuvorkam.
„Oder soll ich dich nach Hause fahren?“, fragte er und strich ihr eine nasse Haarsträhne hinter das Ohr, die ihr bei ihrer ruckartigen Kopfbewegung ins Gesicht gefallen war. Sie könnte gar nicht sagen, ob er sie wirklich dabei berührt hatte, doch die vorsichtige Geste allein löste in ihr ein unbestimmtes Gefühl aus, das sie zögern ließ. Verunsichert wich sie seinem Blick aus, schluckte und schüttelte leicht ihren Kopf. Warum sie ihre Meinung plötzlich geändert, der Wunsch zu gehen sich prompt in Luft aufgelöst hatte, wusste sie selbst nicht.
Hatte sie nicht sogar gehofft, seine Hilfe und Bedingungslosigkeit hier zu finden?
***
Wieder lag Amelie in diesem Bett, in diesem Zimmer.
Ihre Gedanken waren bestimmt von den Bildern ihrer Mutter, die sich nicht mehr aus ihrem Kopf verscheuchen ließen. Erst, als die nach einer Weile aufsteigenden Tränen begannen, über ihr Gesicht zu laufen, schlief sie darüber ein.
Eine seltsame Kälte, die sie ergriff und ihr Angst machte, ließ sie etwas später wieder erwachen. Wovor sie sich so plötzlich fürchtete, wusste sie nicht genau. Vielleicht vor dem Leben.
Dieses seltsame Gefühl ließ Amelie aufstehen und ins Wohnzimmer schleichen. Überall in der Wohnung war es dunkel und still. Tastend suchte sie sich ihren Weg zu dem freien Sofa, das Strikers Schlafplatz gegenüberstand, und kuschelte sich in die Decke, die sie vom Bett mitgenommen hatte.
Striker schien tief zu schlafen, denn sie hörte ein leises Schnarchen aus seiner Richtung. Eine Weile beobachtete sie seine Konturen in der Dunkelheit, bis ihr die Augen zufielen und sie mit dem Geräusch seines regelmäßigen Atmens einschlief.
***
Ein Klingeln ließ sie auffahren und im ersten Moment wusste Amelie nicht einzuordnen, wo sie war und woher dieses Geräusch kam. Schließlich erkannte sie nach und nach das Zimmer, in dem sie abends eingeschlafen war und das sie in der Nacht eigentlich verlassen hatte. Hatte Striker sie zurückgelegt?
Sie schaute sich verwirrt um und hörte plötzlich seine Stimme, die ihren Namen rief. Verschlafen lief sie ins Wohnzimmer und war sich sicher, dass er dort sein müsste, fand jedoch stattdessen einen leeren Raum vor.
Erst nach einer Weile verstand Amelie, dass er auf seinen eigenen Anrufbeantworter sprach und sie bat, ans Telefon zu gehen.
Sobald sie das Gerät aus der Station genommen hatte, verstummte seine Stimme im Raum. Sie legte es an ihr Ohr und gab sich zu erkennen. Striker hielt inne und atmete hörbar durch.
„Hi, wie geht es dir?“, fragte er.
„Ich weiß noch nicht genau.“
Eine Pause entstand, in der sie nur das Atmen des anderen hörten. An den vertrauten Hintergrundgeräuschen erkannte Amelie, dass er in der Schule war.
„Ich weiß nicht, was letzte Nacht bei euch zu Hause passiert ist, aber die Polizei war in unserem Kurs und hat nach dir gesucht.“
Er machte erneut eine kleine Pause, um ihr vermutlich eine Gelegenheit zu geben, etwas darauf zu sagen. Doch sie ließ diese Chance, ihm alles zu erzählen, verstreichen.
„Du solltest dich vielleicht bei deinen Eltern melden, um ihnen zu sagen, dass es dir gut geht.“
Sie nickte.
„Okay, mache ich. Danke.“
Wieder entstand eine Pause, in der keiner von ihnen etwas sagte. Es war seltsam, diese Nähe zu spüren, die sie plötzlich zueinander hatten und sich gleichzeitig doch so fremd zu sein.
„Bist du noch da, wenn ich nach Hause komme?“, fragte Striker unerwartet, als im Hintergrund zu hören war, wie Jonas seinen Namen rief.
Amelie hielt den Atem an. Sie wusste ehrlich gesagt noch gar nicht, wie lange sie in seiner Wohnung bleiben würde. Sie wusste nichts. Kein Gedanke wollte sich festhalten lassen. Deshalb antwortete sie verunsichert: „Wenn es für dich in Ordnung ist.“
Strikers leises Lachen tat gut.
„Bis später“, meinte er, dann hörte sie Jonas' Stimme im Hintergrund näherkommen und Striker beendete das Gespräch.