Читать книгу Angels Fall - Susanne Leuders - Страница 8
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Amelie fokussierte ihr Ziel, konzentrierte ihre gesamte Wut, ihren Schmerz und ihre Trauer auf genau diesen einen Punkt. Sie ballte die Hand zu einer Faust und ließ sie mit allem, was in ihr steckte, nach vorn schnellen. Dabei nutzte sie den Schwung ihres Körpers, um dem Schlag genügend Kraft zu verleihen. Von ihrem linken Bein abgefedert, brachte sie sich sofort zurück ins Gleichgewicht, es folgte eine gekonnt flinke Drehbewegung, bei der sie das rechte Knie an die Brust zog, um kraftvoll zuzutreten.
Im nächsten Augenblick kam sie allerdings durch ein rhythmisches Händeklatschen ins Schwanken, das ihre Aufmerksamkeit unreflektiert auf sich zog, und sie drehte sich verwundert danach um. Keine Sekunde später traf sie der Gegenschlag hart an ihrer gesamten Körperhälfte und warf sie schmerzhaft zu Boden.
Verdammt! Sie hätte eigentlich wissen müssen, dass der Sandsack zurück schwang.
Lachend beugte sich ihr Trainer über sie und reichte ihr seine Hand. Mit Leichtigkeit zog er sie in den Stand.
„Hallo, No.“
Amelie grinste ihn an und freute sich, den alten Mann zu sehen.
„Was machst du denn schon hier? Ich dachte, wir wären erst in einer halben Stunde verabredet“, stellte No mit einem prüfenden Blick fest, zog sie weiter in den Arm und drückte sie ein wenig. Väterlich tätschelte er ihre Schulter.
„Na, wieder Ärger zu Hause gehabt?“
Dabei tippte er unter sein Auge und spielte auf das Veilchen in ihrem Gesicht an. Sie nickte nur stumm und damit war für ihn die Sache geklärt.
Amelie wusste nicht, was No über sie dachte. Doch sie liebte den Pensionär wie ihren eigenen Großvater. Er war so herrlich unkompliziert, hatte in jeder Situation einen entsprechenden Sinnspruch parat, der auf alles passte, und war weder neugierig noch aufdringlich. Er hatte ein unheimlich feines Gespür für Menschen und wusste, wann es angebracht war, nachzuhaken oder aber die Dinge so stehen zu lassen, wie sie waren.
Vor etwa zweieinhalb Jahren war Amelie in einer Therapiegruppe für gewalttätige Mädchen gelandet. Sie hatte einem Jungen in ihrer alten Schule die Nase gebrochen, um zu verhindern, dass ihre Freundin weiterhin von ihm und seinen Freunden gemobbt wurde. Der Therapeut hatte ihr damals geraten, sich ein sportliches Ventil zu suchen. Bei ihrem familiären Hintergrund hatte er vermutlich an Reitstunden oder autogenes Training gedacht. Amelie hatte sich jedoch bereits etwas ganz anderes in den Kopf gesetzt. Sie wollte sich im Ernstfall verteidigen können. Jegliche Art von Kampfsport besaß eine magische Anziehungskraft auf sie. Dass ihre Eltern ausflippen würden, wenn sie davon erfahren sollten, hatte die Sache noch interessanter gemacht. Da sie sich ohnehin nicht im Geringsten dafür interessierten, womit sich ihre Tochter beschäftigte, zog Amelie daraus ihre Vorteile.
Heimlich hatte sie die verruchten Viertel ihrer Heimatstadt durchstreift, in den dort ansässigen Kampfschulen das Probestundenangebot ausgiebig genutzt und war schließlich bei No hängengeblieben, der die übelsten Typen in seiner ehemaligen Lagerhalle trainierte.
In Amelie hatte er ein gewisses Talent entdeckt und die passende Taktik angewandt, um es aus dem zierlichen aber äußerst aggressiven Mädchen herauszukitzeln.
Aus dem räudigen Straßenkätzchen wurde eine berechnende Löwin, die sich nicht scheute, mit erwachsenen Männern zu trainieren, die sie weit überragten und wesentlich kräftiger waren als sie selbst.
In etwas weniger als zwei Jahren hartem Training, das Amelie für gewöhnlich drei Abende in der Woche absolvierte, hatte sie eine enorme Entwicklung durchgemacht.
Seither konnte sie ihre Wut besser kontrollieren und es war trotz der ständig drohenden Konflikte in der jetzigen Schule zu keiner weiteren körperlichen Auseinandersetzung gekommen.
Dieses Training war ihr kleines Geheimnis, von dem selbst ihr Bruder nichts gewusst hatte. Ihre Eltern gingen davon aus, dass Amelie die Ballettstunden absolvierte, die sie Monat für Monat zu bezahlen glaubten.
Ein leicht verändertes Logo und ein wenig Fantasie bei der Benennung der Sportart, die Amelie in der Kampfschule angeblich ausübte, hatten es ermöglicht. Eben ein kleiner Deal, den No gerne eingegangen war, nachdem er sie das erste Mal hatte kämpfen sehen. Er wollte unbedingt, dass es diesem außergewöhnlichen Mädchen auf jeden Fall gelang, die Unterschrift ihrer Eltern auf das Anmeldeformular zu bekommen.
Als sie das Training an diesem Abend beendete, zeigte die Uhr bereits nach zehn. No bot ihr an, sie nach Hause zu bringen, doch sie lehnte ab. Amelie wollte keinesfalls, dass er mehr als nur ihren Namen erfuhr, bei dem sie einfach das von unterschlagen hatte. Außerdem liebte sie es, im Dunkeln durch das einsame, unheimliche Industriegebiet zu laufen. Dabei spürte sie aufgeregt diesem Kribbeln auf der Haut nach, das einen, in Momenten wie diesen, vom Nacken her überfällt, um zu signalisieren, dass man in Lebensgefahr ist.
Sie durchstreifte Straßen und Wege, an denen Hafengebäude und Hallen lagen, die nachts oder auch seit Ewigkeiten verlassen waren. Von Weitem hallten Ladegeräusche einer Nachtschicht im Containerhafen über das Gelände. Einzig das Geräusch ihrer eigenen Schritte auf den Pflastersteinen tanzte zwischen den Häuserwänden wie ein Echo hin und her und begleitete den donnernden Herzschlag in ihrer Brust.
Die Luft legte sich diesig und in novemberkalten Atemwölkchen auf ihr Gesicht. Das regennasse Kopfsteinpflaster glänzte im Schein der sporadisch auftauchenden Laternen, um die sich nebliger Dunst gelegt hatte und die die Gegend in einem unwirklichen Licht erscheinen ließen. Aus den Kanälen drang der Geruch nach Hopfen und Malz, der von den zahlreichen Brauereien in der Nähe kam und eines der Dinge war, das ihre Heimatstadt so unverwechselbar machte.
An der nächsten Ecke zog sie mit einer Hand die Kapuze ihres Sweatshirts weiter ins Gesicht. Als sie mit der anderen ihre gefütterte Lederjacke oben am Kragen zusammenraffte, hielt sie vor Schreck inne.
Schritte.
Leise genug, um von ihren eigenen Atemgeräuschen überdeckt zu werden, doch immerhin so laut, dass ihr ein eisiger Schauer über den Rücken rieselte.
Sie näherten sich von hinten. Amelie drehte sich um, konnte jedoch niemanden entdecken. Irritiert versuchte sie, sich im Halbdunkel der restlichen Straße zu orientieren. Während sie den Kopf etwas zur Seite neigte, runzelte sie angestrengt die Stirn und suchte mit ihren Augen die Gegend ab, in der Hoffnung, zu verstehen, woher die Schritte auszumachen waren. Erst nach und nach realisierte sie, dass die Geräusche aus einer verlassenen Einfahrt kamen. Diese lag schräg gegenüber auf der anderen Straßenseite im dunklen Abschnitt des Weges und war für Amelie nicht einsehbar.
Was sollte sie tun?
Stehenbleiben?
Wegrennen?
Letzteres schien zeitlich kaum machbar, denn die Schritte kamen stetig auf sie zu. Im nächsten Moment wurde ihr klar, dass sie selbst wie auf einem Präsentierteller direkt im Lichtkegel einer Laterne stand. Also musste sie reagieren.
Einem Gewitter unter der Hautoberfläche gleich durchzuckten heiße und kalte Blitze vor Schreck ihre Nervenbahnen. Unschlüssig starrte sie in die immer lauter werdende Dunkelheit. Ihr Herz trommelte gegen die Rippen, als wollte es sie antreiben, endlich eine Entscheidung zu treffen.
Schließlich löste sie den Blick von der Einfahrt, ließ ihn an der unbeleuchteten Häuserwand auf der gegenüberliegenden Straßenseite entlangwandern und entdeckte neben dem Durchgang eine Nische. Nahezu geräuschlos bewegte sie sich dorthin und verschwand im Schatten, noch bevor jemand aus der Dunkelheit auf die Straße trat.
So sehr sie diese leichte Angst als abendlichen Begleiter durch das Hafenviertel auch mochte, ein Fremder, der sich bei Nacht auf einem verlassenen Firmengelände aufhielt, war ihr doch etwas zu unheimlich!
An die Rückwand der Nische gepresst, versuchte Amelie, einen klaren Gedanken zu fassen, aber sämtliche Warnglocken in ihr schrillten los und sabotierten ihr Vorhaben. Sie beugte sich leicht nach vorn und schaute nervös die Straße hinunter. Allerdings änderte das nichts an ihrer Situation. Sie war dort allein!
Vorsichtshalber blieb sie in Deckung und wartete ab.
Ihr Puls rauschte unerträglich laut in ihren Ohren und sie hielt die Luft an, um überhaupt etwas hören zu können. Wie weit die Geräusche noch entfernt waren, konnte sie kaum abschätzen. Die Person kam garantiert jeden Moment um die Ecke.
Amelie wartete weiter.
Sämtliche Muskeln in ihrem Körper spannten sich an. Ihre Lunge begann zu schmerzen. Als sie gerade weiteratmen wollte, hörte sie es.
Was …?
Irgendetwas stimmte da nicht.
Verwundert ließ sie die angehaltene Luft aus dem Mund entweichen und wirbelte hektisch mit den Händen vor ihrem Gesicht herum, um ihre Atemwolke zu zerlegen. Zügig neigte sie den Kopf und atmete in die Jacke hinein. Sie runzelte die Stirn.
Löste sich etwa aus dem regelmäßigen Rhythmus von Turnschuhen auf Kies der einer zweiten Person heraus? Tatsache! Bei genauerem Hinhören erkannte sie darüber hinaus ein gedoppeltes Keuchen. Beide rannten. Zusammen? Oder jagte der eine den anderen?
Amelie presste sich zurück an die Nischenrückwand, traute sich kaum zu atmen, sog die Luft hektisch ein und stieß sie ebenso wieder aus. Aufgeregt lauschte sie den Schritten, die nun in dem Torbogen hallten. Sie schloss die Augen, weil sie damit rechnete, dass die Fremden im nächsten Augenblick an ihr vorbeirannten. Doch stattdessen kamen die beiden plötzlich aus dem Takt und ihre Körper krachten auf den Boden. Sie schlitterten ein Stück weit über den nassen Asphalt und rangen miteinander. Angespannt lauschte Amelie den Kampfgeräuschen und es rumorte in ihr. Der Heftigkeit der Schläge nach zu urteilen schien die Situation überaus ernst zu sein. Sie begann zu zittern.
Nimm verdammt noch mal sofort deine Beine in die Hand und verschwinde von hier!, hallte es in ihr. Sie musste im Grunde nur einige hundert Meter die Straße hinunterlaufen und konnte durch die nächste Seitenstraße unbemerkt nach Hause laufen.
Bist wohl doch nicht so cool, wenn es drauf ankommt, was?, raste auf einmal ein Gedanke durch ihren Kopf, der ihr überhaupt nicht gefiel. Sie zögerte.
Was gingen sie diese Fremden an, die sich mitten in der Nacht an einem einsamen Ort prügeln mussten?
Natürlich hatte sie Angst. Sogar verdammt große! Ihr bebender Körper gab ihr dabei recht. Aber nichts tun und wegrennen? Das konnte sie auch nicht.
Wieder schlug eine Faust zu und am Geräusch und dem folgenden Stöhnen erkannte Amelie, dass es ein Schlag ins Gesicht gewesen sein musste. Einer der beiden hatte offenkundig mehr einzustecken als der andere. Immer zügiger folgten heftiger werdende Hiebe, sodass sich der Unterlegene kaum noch wehren konnte.
Amelies Magen krampfte sich zusammen. Ohne zu zögern, fischte sie das Handy aus ihrer Jackentasche, hielt aber doch inne. Wie sollte sie erklären, was sie um diese Zeit an diesem einsamen Ort tat? Anonym konnte sie nicht anrufen. Die Rufnummernunterdrückung zu aktivieren würde sie jetzt auf die Schnelle mit ihren zitternden Händen nicht hinbekommen. Anhand der Handynummer würde man allerdings herauskriegen, wer sie war, und womöglich stand die Polizei danach bei ihr zu Hause vor der Tür, noch bevor sie selbst dort ankam.
„Shit!“, fluchte sie leise vor sich hin und ließ das Handy zurück in ihre Tasche sinken. Sie wagte einen verstohlenen Blick um die Ecke und erkannte im fahlen Licht der Straßenlaternen, dass sich der eine bereits über den anderen beugte. Der Kampf würde in den nächsten Sekunden entschieden werden.
Verdammt. Nur weg hier! Zeugen wollten die bestimmt nicht.
Rasch zog sie sich in die Nische zurück, atmete tief durch, hörte noch, wie der eine „Game over!“ sagte und der andere aufstöhnte. Metall prallte auf Stein. Dieses Geräusch durchzuckte Amelie wie ein Stromschlag und stachelte sie an, endlich zu reagieren. Augenblicklich drückte sie sich von der Wand ab und lief los.
Erst als es zu spät war, bemerkte sie, dass sie sich wie von Sinnen in die falsche Richtung bewegte; auf die beiden zu. Der Liegende wand sich panisch unter seinem Angreifer. Letzterer saß halb mit dem Rücken zu ihr auf dessen Unterleib und hob den Arm, um diesen erneut auf den Unterlegenen hinabsausen zu lassen. Im selben Moment stoppte Amelie, zog ihr Knie seitlich zur Brust und trat verzweifelt zu, in der Hoffnung, das Messer zu treffen, das sie in der Hand des Angreifers vermutete.
Der Schwung, mit dem sie den Tritt ausführte, verbunden mit dem absoluten Überraschungsmoment zeigte ihre Wirkung, denn keiner von ihnen hatte Amelie wahrgenommen. Nicht nur die Waffe flog im hohen Bogen durch die Luft und rutschte klirrend auf dem Boden entlang, sondern auch der Angreifer schnellte nach vorn. Ungebremst prallte er mit seinem Kopf auf das Gesicht des anderen und beide Körper blieben bewegungslos aufeinanderliegen. Stille trat ein.
Eine beängstigende Stille!
Fassungslos presste Amelie die geballten Fäuste an ihre Stirn, ging einige Schritte auf der Stelle hin und her und fluchte leise vor sich hin.
Los, verschwinde von hier. Sofort!, meldete sich ihr Verstand. Allerdings befreite sich der Angegriffene plötzlich von der Last des anderen, noch bevor Amelie reagieren konnte. Unter lautem Stöhnen drückte er dessen Körper weg, rappelte sich auf, beugte sich keuchend und würgend vornüber und stützte sich mit den Händen auf seinen Knien ab.
Oh, Mann! Er war bestimmt zwei Köpfe größer als Amelie. Was hatte sie sich dabei nur gedacht? Warum musste sie sich hier nur einmischen? Wie würde er reagieren, wenn er sie bemerkte?
Erstarrt vor Schreck beobachtete sie jede Bewegung des Fremden, der in der Dunkelheit direkt neben ihr stand und von ihrer Anwesenheit keine Ahnung hatte.
Er richtete sich leicht auf und tippte seinen Angreifer mit dem Fuß an. Danach streckte er die Hand aus und legte sie an den Hals des Liegenden. Der andere rührte sich nicht.
Dies war der Moment, in dem Amelie die Nerven verlor. Das Adrenalin schoss durch ihren Körper und sie drückte ihre eiskalten Finger vor Schreck auf ihren Mund.
„Shit, ist er tot?“, entfuhr es ihr.
Beim Erklingen ihrer Stimme fuhr der Typ neben ihr herum und auch sie selbst erschrak. Er wich einen Schritt zurück, beugte sich allerdings sofort wieder taumelnd nach vorn und begann zu keuchen.
„Glaub nicht“, presste er nach einer fassungslosen Schrecksekunde heraus, in der sie sich beide nicht wirklich einzuschätzen wussten. „Schade wäre es ehrlich gesagt nicht um ihn“, knurrte er, richtete sich langsam auf und sah Amelie einen Moment lang in der Dunkelheit schweigend an. Er wirkte ebenfalls verunsichert. Seine Stimme verriet ihr, dass er nicht viel älter sein konnte als sie selbst.
Nervös wippte sie auf ihren Fersen auf und ab. Diese Situation konnte für sie immer noch gefährlich werden. Wenn sie zu viel Zeit verstreichen ließ, gab sie dem Fremden dadurch die Chance, wieder zu Kräften zu kommen.
Wer wusste schon, wobei sie die beiden gestört hatte? Was wäre, wenn er sie nicht einfach so gehen lassen wollte?
„Ich … ich verschwinde dann mal“, murmelte sie und setzte sich rückwärts in Bewegung, um dem Fremden nicht den Rücken zuwenden zu müssen. Der streckte jedoch blitzschnell seine Hand nach ihr aus und griff nur knapp daneben. Vor Schreck sog sie die Luft geräuschvoll ein und begann gedankenlos wegzurennen.
Schließlich landete sie vor einer Mauer und ihr Verfolger war schneller hinter ihr, als sie ihm in seinem Zustand zugetraut hätte. Er packte sie, drückte sie mit seiner Hand kräftig gegen den kalten Stein und ein entsetzter Laut entwich ihrem Mund.
„Hey, warte mal“, presste er hervor, während sich seine Finger in ihre Jacke krallten. Mit beiden Händen umklammerte Amelie seinen Arm, um sich von ihm zu befreien, als er plötzlich den Körper gegen ihren lehnte und seine Stirn auf ihre Schulter senkte.
„Hilf mir! Bitte!“, wisperte er keuchend. Mit diesen Worten verlor er das Gleichgewicht und drohte zur Seite wegzurutschen. Sofort lösten sich Amelies Hände von seinem Gelenk und ihre Arme umschlossen automatisch seinen Körper, um ihn festzuhalten. Diesem Kerl ging es verdammt schlecht!
Hilflos umarmte sie ihn, während tausend Gedanken durch ihren Kopf schwirrten und sie zum Schwitzen brachten. Bis endlich eine halbwegs sinnvolle Idee haltmachte. „Bist du mit dem Auto hier?“ Sie spürte kaum, wie sich sein Kopf auf und ab bewegte, um ihre Frage zu beantworten. Ungeschickt versuchte er, in seine Jackentasche zu greifen, musste sich aber erneut an der Wand festhalten, um nicht umzufallen.
„Warte, ich mach schon. Hier?“
Ein gespürtes Nicken wies ihr den richtigen Weg und im nächsten Moment fischte sie einen Autoschlüssel aus seiner Jacke. Mit aller Kraft drückte sie ihre Hand gegen seinen Brustkorb, um ihn aufrecht hinzustellen. Der Fremde stöhnte bei diesem Versuch heftig auf und presste sich nur noch fester gegen sie. Langsam stieg Panik in Amelie auf. Ihre Augen brannten. Sie hätte heulen können!
„Oh, verdammt!“, fluchte sie. „Es tut mir leid. Kannst du überhaupt gehen?“
„Ja, ich glaube schon“, antwortete er schwach und sie hörte in der Stimme, wie sehr er sich zusammenreißen musste.
„Okay, steht dein Auto in der Nähe?“
„Zwei Straßen weiter in einer Seitenstraße.“
Ein unbestimmtes Gefühl breitete sich in ihr aus und verunsicherte sie. Schafften sie es überhaupt dorthin?
Den Wagen ohne ihn zu holen, war reiner Wahnsinn, denn sie müsste ihn so lange dem anderen Typen überlassen, der sicher jeden Augenblick zu sich kam. Das war zu gefährlich! Immerhin hatte sie ein Messer bei ihm gesehen und er hatte nicht den Eindruck gemacht, dass er es zum ersten Mal benutzte.
Also blieb ihr nichts weiter übrig, als den Verletzten von diesem Ort wegzubringen. Egal wie!
„Na, dann los!“, sagte sie etwas lauter als gewollt, um sich Mut zu machen. Sie zog seine Hand über ihre Schulter, umklammerte das Handgelenk und schob ihren anderen Arm um seine Taille. So schwankte sie mit ihm auf der unbeleuchteten Straßenseite in Richtung seines Autos.
Keine fünfzig Meter weiter knickte der Fremde allerdings ein und riss sie fast mit auf den Boden. Vorsichtig half sie ihm, sich in einem dunklen Hauseingang auf die Treppenstufen zu setzen. Dabei schaute sie sich immer wieder hektisch nach seinem Verfolger um.
Erschöpft lehnte er seinen Kopf an die Mauer, während Amelie nachdenklich seine Konturen beobachtete. Einzig die kleinen Atemwolken, die er angestrengt ausstieß, setzten sich ein wenig von der Dunkelheit ab, wenn sie in Richtung Laternenlicht abdrifteten.
„Okay, du wartetest hier und ich hol den Wagen“, flüsterte sie ihm zu und drehte sich weg, um loszurennen. Allerdings hielt er sie mit der einen Hand am Handgelenk fest, seine andere krallte sich in ihren Kragen und zog sie zurück.
„Was?“, entfuhr es ihr vor Schreck, während sich ihre Finger automatisch zu einer Faust zusammenzogen, mit der sie kräftig gegen seine Schultern schlug. Sie spürte seinen Atem an der Wange, als er schmerzvoll ausatmete. Doch statt sie loszulassen, zog er sie noch näher zu sich, sodass seine Lippen beinahe ihr Ohr berührten, während er seine Worte herauspresste: „Kommst du wieder?“
Sie schluckte. Seine Nähe, die Angst, dass der andere ihnen folgen könnte und die Unsicherheit darüber, ob sie möglicherweise dem Falschen von beiden half, ließen ihre Nerven fast zerbersten. Wütend packte sie ihn ebenfalls am Kragen und zischte: „Wenn du mich noch länger aufhältst, könnte deine Frage überflüssig werden!“
Zu ihrer Überraschung lachte er leise über ihre Reaktion. Sofort ließ er von ihr ab und sein Arm sank schlapp in seinen Schoß.
Amelie entfernte sich etwas verwundert von ihm. Seine Konturen verwischten sich mit der Dunkelheit des Hauseingangs, während sie auf ihre Füße sprang und losrannte.
Als sie mit dem Schlüssel in der Hand auf Verdacht in eine finstere Seitenstraße spähte und die Zentralverriegelung per Knopfdruck öffnete, blinkte zunächst ein orangefarbenes Licht. Kurz darauf flammten helle Scheinwerfer auf und erleuchteten ihren Weg. Erst beim Näherkommen sah Amelie, dass es sich bei dem Auto um einen schwarzen Sportwagen handelte, der recht teuer zu sein schien. Sie zögerte einen Moment, bevor sie sich hinter das Steuer setzte.
In was hatte sie sich da nur eingemischt? Hoffentlich war der Kerl, dem sie half, kein Drogendealer oder Zuhälter. Ihre Eltern würden ausflippen, wenn so jemand bei ihr zu Hause auftauchen würde – und das ausnahmsweise einmal zu Recht. Sie musste unbedingt vermeiden, dass er ihr Gesicht sah. Und anders herum sollte sie ihn sich auch nicht genauer ansehen. So könnte sie ihn nicht identifizieren, falls sie je bei der Polizei gezwungen wäre, bücherweise Fahndungsfotos durchzuschauen. Ein bisschen Vorsicht und schon brauchte sie nicht einmal lügen. Was für ein Plan!
Innerlich verdrehte sie die Augen und startete den Wagen, der die ersten Meter wie ein Kaninchen durch die Nacht hoppelte. Immerhin musste sie zunächst ein Gefühl für das Gaspedal und den Kupplungspunkt bekommen. Deshalb fuhr sie langsam zu dem Hauseingang, um den Verletzten endlich von dort wegzubringen.
Bei laufendem Motor half sie ihm auf den Beifahrersitz seines Autos und schnallte ihn vornübergebeugt an. Dabei achtete sie penibel darauf, dass sie bloß nicht in sein Gesicht sah. Allerdings wollte das Verschließen des Gurtes einfach nicht klappen, denn sie musste die ganze Zeit an den anderen Kerl denken, der immer noch in der Einfahrt lag. Ihre Nackenhaare stellten sich auf, als sich das Wörtchen hoffentlich in ihre panischen Gedanken hineinschlich. Sie richtete den Blick auf die neblige Straße. Erkennen konnte sie zwar nichts, aber jede Faser ihres Körpers rief, dass es höchste Zeit wurde, von diesem Ort zu verschwinden.
Nervös begann sie leise vor sich hin zu fluchen, fummelte immer hektischer an dem Verschluss herum, bis sie schließlich seine Hand an ihrer spürte und den Fremden flüstern hörte: „Ich mach schon. Lass uns losfahren!“ Amelie widerstand der Versuchung, ihn anzusehen, wich eher erschrocken zurück und rannte zügig um das Auto herum. Schwungvoll warf sie sich auf den Fahrersitz und ließ beim Anfahren den Motor absaufen.
„Hast du überhaupt einen Führerschein?“
Die Frage kam prompt, aber äußerst erschöpft. Amelie schluckte.
„Ja, klar“, log sie einfach.
Was sollte sie anderes tun? Immerhin wusste sie theoretisch, was sie machen musste und hatte auch bereits ein wenig Fahrpraxis. Nachdem ihr Bruder seine Führerscheinprüfung hinter sich gebracht hatte, hatte er Amelie mit seinem Auto ab und zu auf dem großflächigen Grundstück der Familie fahren lassen.
„Okay“, flüsterte er und beließ es dabei.
Im nächsten Moment sackte sein Kopf zur Seite und Amelie starrte ihn verwundert an. Vorsichtig stupste sie mit den Fingerspitzen gegen seine Schulter. Nichts.
„Na, klasse! Und wohin, bitte schön, soll ich dich bringen?“, fragte sie genervt, rechnete aber nicht wirklich mit einer Antwort. Also startete sie erneut den Wagen, schnallte sich an und überlegte dabei krampfhaft, wie sie seine Adresse herausbekam. Sollte sie in seinen Jackentaschen nach einem Ausweis suchen?
Ihr Blick fiel auf das Navigationssystem. Amelie war sich sicher, dass dieser Typ seine Adresse unter Nach Hause eingespeichert hatte. Sofort griff sie nach dem Controller, hielt jedoch inne und betrachtete verdutzt ihre Hand. Womit hatte sie sich die denn so vollgeschmiert?
Abwechselnd wurde ihr heiß und kalt, als sie Blut an ihren Fingern erkannte. Ein hoher, lang gezogener Pfeifton in ihrem rechten Ohr drängte sich plötzlich in ihr Bewusstsein. Oh, Mist! Sie war nur von Prellungen, schlimmstenfalls gebrochenen Rippen ausgegangen. Offenbar hatte ihn aber der Angreifer bereits beim ersten Zustechen mit dem Messer verletzt.
Nervös schaute sie zum Display, fand tatsächlich eine Adresse unter dem entsprechenden Menüpunkt und ließ sich dorthin navigieren.
Keine zwanzig Minuten später stoppte sie den Wagen erleichtert vor einem exklusiven Apartmenthaus mit Nachtportier. Dort durchwühlte sie schließlich doch die Taschen ihres bewusstlosen Beifahrers und wurde im Handschuhfach fündig.
Auf der Fahrt hatte Amelie nachgedacht und sie war zu dem Schluss gekommen, dass sie jemandem Bescheid geben musste, damit man ihn fand und er nicht auch noch verblutete.
Aus seiner Brieftasche zog sie einen Ausweis, der ihr beinahe vor Schreck aus der Hand fiel, während sie fassungslos auf das Foto starrte. Augenblicklich erkannte sie den Kerl und ihr Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen. Ihr Blick löste sich von dem Bild und schweifte zu dem Gesicht, das halb versteckt unter der Kapuze zum Vorschein kam. Sie hatte ihn nie besonders lange und intensiv betrachtet, doch das waren in der Tat sein Kinn und auch seine Mundpartie. Ganz sicher!
Nervös streckte sie ihre Hand nach ihm aus, drehte vorsichtig seinen Kopf in ihre Richtung und schob die Kapuze an die Seite. Die Straße vor seinem Haus war hell erleuchtet und sie starrte sein Gesicht an.
„Shit!“, entfuhr es ihr entsetzt.
Lennard Patrick von Heerens, einer von denen, die ständig mit Jonas und Co herumhingen.
Augenblicklich zog sie sich wieder von ihm zurück und warf ihm den Ausweis auf die Brust.
Was, verdammt noch mal, hatte so ein Typ im verlassenen Hafenviertel zu suchen?
Ihre Gedanken überschlugen sich.
Er durfte auf keinen Fall wissen, dass sie ihm geholfen hatte. Das wäre die Hölle! So schnell konnte sie sich gar kein Bild von dem machen, was das für sie tagtäglich in der Schule bedeutete. Sie wusste nur, es würde schlimm werden.
Verschwinden. Und zwar sofort. Das war das Beste.
Sie fand seine Brieftasche auf ihrem Schoß, warf sie schnell in das Handschuhfach zurück, öffnete hektisch die Fahrertür, stieg aus und rannte los. Wohin? Egal!
Irgendjemand würde ihn garantiert finden. Er wohnte in einer guten Wohngegend. Da gab es immer noch Leute, die sich über geöffnete Autotüren wunderten.
Und wenn nicht?
Wie?
Na, wenn man ihn nicht früh genug findet?
Na, und? Ist das mein Problem? Es ist Lennard von
Heerens, ein Idiot!
Er blutet.
Shit!
Amelie blieb unschlüssig stehen.
Was geht mich dieser Mistkerl an?
Er blutet.
Verdammt!
Fluchend drehte sie sich um, rannte zurück, zog den Zündschlüssel ab, den sie extra hatte stecken lassen, klopfte an die Glastür des Apartmenthauses und winkte dem Portier zu.
„Ja, bitte?“
Beim Ertönen seiner Stimme aus der seitlich angebrachten Sprechanlage schreckte Amelie nervös zusammen und ließ die Schlüssel fallen. Sie blickte ihnen nach, schaute erneut zum Nachtportier, der sie prüfend ansah und auf eine Erklärung wartete.
Na los doch!, trieb ihr Verstand sie an.
Endlich fand sie ihre Worte wieder.
„Lennard von Heerens sitzt bewusstlos in seinem Auto vor der Tür. Ich lass den Zündschlüssel hier vor dem Eingang liegen. Was Sie daraus machen, ist Ihnen überlassen.“
Damit drehte sie sich rasch um und rannte weg.