Читать книгу An einem dieser Tage - Susanne Lieder - Страница 10
4.
ОглавлениеDie kleine Pension lag direkt neben dem Rathaus am Marktplatz.
Ich blieb vor dem schmalen roséfarbenen Haus stehen und betrachtete es einen Moment.
Wie eng sich hier ein Haus an das andere schmiegte und wie schmal, fast winzig, die unzähligen Gässchen dieser Stadt waren. Auf dem Marktplatz tummelten sich die Touristen. Sie saßen vor einem der vielen Cafés oder Restaurants in der strahlenden Sonne unter riesigen Schirmen oder bummelten durch die Gassen. Es war laut, für meinen Geschmack etwas zu laut, damit hatte ich nicht gerechnet. Aber vielleicht lag das an der Tageszeit.
Marlens Schwester Gabriele, eine hübsche, quirlige Frau, begrüßte mich freundlich.
Es ging eine enge Treppe zu meinem Zimmer hinauf. Die Wände waren ein wenig schief und die Zimmerdecke so niedrig, dass ich unwillkürlich den Kopf einzog.
„Hier steht fast jedes Haus unter Denkmalschutz“, erklärte Gabriele. „Einen Fahrstuhl einbauen, die Wände einreißen und damit die Räume vergrößern, sind fromme Wünsche.“ Sie legte die Hand auf meine Schulter. „Wenn du irgendwas brauchst, wende dich vertrauensvoll an mich.“
Vertrauensvoll. Ein schönes Wort. Ein Wort, das häufig benutzt wird und doch meistens ohne Bedeutung ist.
Ich stand unter der Dusche, als mir dieser Gedanke durch den Kopf ging. Die Duschkabine war so eng, dass ich mir ein paarmal den Ellbogen anstieß.
Außerdem war es furchtbar heiß im Zimmer. Was sicher daran lag, dass die Fenster ebenfalls winzig waren und kaum für Durchzug sorgen konnten. Jetzt bereute ich zutiefst, dass ich kein einziges Kleid eingepackt hatte. Mit meinen Schlabberhosen und ausgeleierten Shirts mochte ich mich plötzlich nirgendwo mehr blicken lassen. Wenn Marlen wüsste, wie recht sie gehabt hatte.
In ein großes Handtuch eingewickelt, stellte ich mich ans weit geöffnete Fenster und blickte nach draußen. Vom Marktplatz drang lautes Stimmengemurmel und Gelächter. Hoffentlich würde das nicht die ganze Nacht so weitergehen, dann wäre an Schlaf nicht zu denken.
Ich schlüpfte in ein frisches Shirt, setzte meine Sonnenbrille auf und verließ mit meinem Fotoapparat um den Hals die Pension.
Als Erstes würde ich mir ein Sommerkleid kaufen, allzu teuer musste es ja nicht sein, und dann würde ich einen Bummel zum Schloss machen.
Nachdem ich einen weißen Jeansrock und eine ärmellose Bluse gefunden hatte, beschloss ich, die Sachen gleich anzulassen. Ich schlenderte durch die Gässchen und legte am Fuß des Schlossbergs eine Pause in einem Café ein. Ich aß ein Stück Kuchen und trank einen großen Milchkaffee.
Gestärkt und beschwingt spazierte ich zur Pension zurück, machte unzählige Fotos von den kleinen Fachwerkhäuschen und genoss das angenehm luftige Gefühl an Beinen und Armen. Wann hatte ich das letzte Mal einen Rock getragen? Und wann war ich das letzte Mal durch eine Stadt geschlendert, hatte Fotos gemacht und mir vorgestellt, in einem der niedlichen Häuschen zu wohnen?
Vor einem der Häuser blieb ich stehen. Es war so schmal, dass an der Frontseite gerade Platz für zwei winzige Fenster und eine kleine Haustür war. Die Besitzer hatten ihm einen hellblauen Anstrich verpasst und weiße Balkonkästen mit Husarenknöpfchen und leuchtend roten Petunien aufgehängt. Auf dem Klingelschild stand in kindlichen Buchstaben Familie Schneider.
Ich spazierte weiter und kam an einer kleinen Boutique vorbei. Wie angewurzelt blieb ich stehen. Im Schaufenster hing ein bildschönes Kleid mit kleinen Mohnblüten darauf.
Ohne nachzudenken, trat ich durch die Tür und zeigte aufs Schaufenster. „Ich würde gern dieses Kleid anprobieren.“
Eine halbe Stunde später stieg ich die knarrende Holztreppe zu meinem Zimmer hinauf, das Kleid in einer hellgrünen Tragetasche. Meine Füße spürte ich kaum noch.
Wie ein Stein fiel ich ins Bett, ich dachte nicht mal mehr daran, das Fenster zu schließen. Aber meine Befürchtung, nicht schlafen zu können, war völlig unbegründet. Ich schlief wie ein Baby und wachte erholt auf, als es zu dämmern begann.
Wenn es in der Nacht auf dem Marktplatz laut gewesen war, so hatte ich zumindest nichts davon mitbekommen.
Ich war eine der Ersten am Frühstücksbüfett, machte ein bisschen Konversation mit Gabriele und entdeckte dann eine sympathisch aussehende ältere Frau mit grauem Pagenkopf, die am Büfett stand und nicht recht zu wissen schien, was sie nehmen sollte.
Irgendetwas an dieser Frau zog mich an. Vielleicht lag es an der Ruhe und Gelassenheit, die sie ausstrahlte.
Ich ging zu ihr und zeigte auf den Obstsalat. „Den sollten Sie probieren. Er ist köstlich.“ Dann deutete ich auf den Ziegenkäse. „Und den kann ich auch empfehlen.“
Sie lächelte. „Ich sehe, Sie haben das eine oder andere schon probiert. Frühstücken Sie gern allein?“
Ich schüttelte den Kopf. „Überhaupt nicht.“
„Dann setzen Sie sich doch zu mir.“ Sie wies nach rechts. „Ich sitze gleich hier vorn.“
Ich nahm meinen Teller, den ich zum zweiten Mal gefüllt hatte, und setzte mich zu ihr.
„Reisen Sie allein?“, fragte ich sie.
„Ja. Und Sie?“
„Ich auch.“
Wir lächelten uns an.
„Ich heiße übrigens Barbara.“
„Valerie“, stellte ich mich vor.
„Was für ein ungewöhnlicher, hübscher Name. Sind Sie gestern angekommen?“
Ich erzählte ihr kurz von meiner Reise und woher ich kam, dann erkundigte ich mich, in welcher Stadt sie lebte.
„Ich bin Berlinerin. Hört man das nicht? So ganz habe ich es nie ablegen können, auch wenn ich schon seit Jahren nicht mehr dort lebe. Ich wohne inzwischen in Dresden.“ Sie kostete von dem Käse und verdrehte die Augen. „Sie haben nicht zu viel versprochen, Valerie. Ich mag Hamburg übrigens sehr. Einmal im Jahr fahre ich für gewöhnlich hin und stehe mir am Hafen die Füße platt. Wenn die großen Schiffe ein- oder auslaufen überkommt mich das Fernweh. Geht Ihnen das auch so?“
„Manchmal schon.“
„Verreisen Sie gern?“
„Ja, aber nicht mit dem Schiff. Ich werde seekrank, sobald ich nur ein Schiff betrete. Ich war mit meinem Mann vor Jahren auf einem, das nur noch als Kulisse dient. Sie haben eine Art Bistro daraus gemacht. Wir haben uns ein Bier bestellt und aufs Wasser geblickt. Selbst da wurde mir schlecht.“ Ich verstummte kurz, als mir bewusst wurde, dass ich gerade von Christian erzählt hatte. „In Dresden war ich aber noch nie.“
„Dann müssen Sie mich besuchen kommen.“
Ich hatte nicht den Eindruck, als sei das eine Floskel. „Das werde ich“, versprach ich.
Barbara hob ihre Teetasse. „Auf Dresden und Hamburg, die schönsten Städte der Welt.“
„Und was ist mit Quedlinburg?“
„Das ist die drittschönste.“
„Das lasse ich gelten.“ Ich lachte fröhlich. Wann hatte ich das letzte Mal am frühen Morgen so gelacht?
„Was machen Sie beruflich, Valerie? Ich fürchte, ich werde Sie ständig mit Vornamen ansprechen. Es klingt so schön.“
Ich spürte, wie ich errötete. „Ich war in den letzten Jahren nur Hausfrau und Mutter.“ Ich ärgerte mich sofort über das „nur“.
„Das ,nur‘ können Sie getrost streichen, finde ich. Hausfrau und Mutter ist ein ehrenwerter Beruf, bei dem es weder einen Feierabend noch ein Wochenende gibt.“ Sie strich etwas Ziegenfrischkäse auf ihr Brötchen.
„Und was machen Sie beruflich?“, fragte ich sie.
„Ich bin Meditationslehrerin und Reinkarnationstherapeutin.“ Sie warf mir einen belustigten Blick zu. „Das Gesicht, das Sie gerade machen, habe ich erwartet. Jeder sieht mich erst mal so an.“
Ich errötete erneut. „Ich bin nicht spießig, falls Sie das meinen.“ Weshalb rechtfertigte ich mich eigentlich?
„Von spießig habe ich nicht gesprochen. Aber die meisten Menschen können nicht viel damit anfangen, wenn ich von Reinkarnationstherapie spreche.“
„Ich auch nicht“, musste ich zugeben.
„Wenn Sie mögen, erzähle ich Ihnen davon.“
„Sehr gern. Vielleicht bei einem Spaziergang?“
Sie zupfte an ihrem Hosenbund. „O ja, ich denke, den kann ich gebrauchen.“
Eine gute Stunde später schlenderten wir über den belebten Marktplatz.
„Was machen Sie sonst so, Valerie? Sie sagten, Sie waren in den letzten Jahren Hausfrau und Mutter. Das klingt, als hätten Sie sich inzwischen anderen Dingen zugewendet.“
„Ich bin gerade dabei, herauszufinden, was ich sonst so mache.“ Eine passende, ausgesprochen schlagfertige Antwort. Ich war selbst ganz erstaunt und musste lachen. „Sie müssen mich für ziemlich seltsam halten.“
„Seltsam? Warum?“
„Weil … ach, ich weiß auch nicht.“
Jetzt lachte Barbara. „Sie sind auf der Suche nach sich selbst. Wollen wir uns darauf einigen?“
Ich nickte.
„Man sollte viel öfter lachen und albern sein, finden Sie nicht?“
Wie recht sie hatte. Sie war mir vom ersten Moment an sympathisch gewesen, doch es war mehr als das. Ich hatte das Gefühl, als würde ich einem Menschen gegenüberstehen, der schon bald einen festen Platz in meinem Leben einnehmen würde.
Barbara war mit dem Auto nach Quedlinburg gekommen und so lud sie mich am Nachmittag zu einer Spritztour ein. Wohin es gehen sollte, wollte sie nicht verraten.
Die Beifahrertür klemmte. Ich zog und rüttelte daran, während Barbara sich von innen dagegenstemmte. Wir kicherten und feuerten uns gegenseitig an. Es war unglaublich, wie unbefangen und locker wir miteinander umgingen, wo wir uns doch gerade erst kennengelernt hatten.
Als ich endlich auf dem Sitz saß, schnaufte ich.
„Tut mir leid, aber er hat schon ein paar Jahre auf dem Buckel.“ Barbara startete den Motor, der eigenartige, etwas beängstigende Geräusche von sich gab. „Und bevor Sie fragen, ich kann mich einfach nicht von ihm trennen. Er hat mich jetzt schon so viele Jahre begleitet.“ Sie tätschelte das Armaturenbrett. „Er hat übrigens einen Namen.“
„Sie haben Ihrem Auto einen Namen gegeben?“
„Natürlich. Er heißt Walter.“
„Ein sehr passender Name.“
„Finden Sie?“
„Absolut.“ Ich ließ das Seitenfenster herunter. Die schwülwarme Luft, die hereinströmte, sorgte nicht gerade dafür, dass ich mich erfrischt fühlte. „Ich fürchte, wir bekommen heute noch ein Gewitter.“
„Dann sind wir dort, wo wir hinfahren werden, genau richtig.“
Sie machte es sehr spannend. Ich mochte eigentlich keine Überraschungen.
„Ich würde es übrigens schön finden, wenn wir uns duzen.“ Sie streckte mir die rechte Hand entgegen. „Erzähl mir von deiner Familie“, bat sie.
Sofort schlug meine Stimmung um. Vorbei war es mit der heiteren Unbeschwertheit, dem fröhlichen Gekicher. Mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen und der Kloß in meinem Hals war wieder da. Ich musste mich räuspern. „Ich … wir haben uns getrennt, Christian und ich.“ Nein, das war nicht ganz richtig, ich hatte mich getrennt. Wieder räusperte ich mich. „Ich habe ihn verlassen“, sagte ich leise.
„Und jetzt bist du auf der Suche nach dir selbst.“
Ich wünschte, ich könnte gelassen darüber sprechen. Warum konnte ich meine Emotionen nicht beherrschen? So schwer konnte das doch nicht sein.
„Kurz bevor ich vierzig wurde, steckte ich in einer handfesten Midlife-Crisis“, erzählte Barbara. „Ich hatte zu nichts mehr Lust, am allerwenigsten auf das Leben, das ich bis dahin geführt hatte.“
„Was war das für ein Leben?“
„Ich war mit einem Mann verheiratet, den ich aus einer Laune heraus geheiratet hatte, der mir aber schon nach drei Jahren entsetzlich auf die Nerven ging. Wir passten gar nicht zusammen, unsere Ehe war ein einziger Irrtum. Wir waren ziemlich wohlhabend, hatten ein Hotel in Dresden und waren gerade dabei, ein zweites zu eröffnen. Er war zufrieden, er führte das Leben, das er sich immer gewünscht hatte.“
„Du aber nicht.“
„Nein.“ Sie schüttelte den Kopf.
Ich schwieg. Ich ahnte, dass sie eine kleine Pause brauchte, um nachzudenken.
Ich blickte aus dem Fenster und stellte fest, dass wir aus der Stadt hinausgefahren waren. Ziehen Sie bequeme Schuhe an, hatte Barbara mich gebeten.
„Ich begann, quengelig zu werden, etwas, das mich bei anderen Menschen wahnsinnig machen würde. Schlimmer noch, ich war auf dem besten Weg, so zu werden wie meine Mutter.“
Das kam mir bekannt vor.
„Und dann hab ich mir irgendwann gesagt, dass Schluss ist. Wenn ich so weitermachen würde, wäre ich am Ende eine griesgrämige, verbitterte Frau, die keiner mehr um sich haben wollte. Ich habe die Scheidung eingereicht und meinem Mann gesagt, dass er das Hotel verkaufen soll. Das wollte er aber nicht, also habe ich mich auszahlen lassen. Er war so wütend auf mich, dass er mehr als ein Jahr kein einziges Wort mit mir geredet hat.“ Barbara zuckte mit den Schultern.
„Und? Was hast du dann gemacht?“
„Ich habe meine Sachen gepackt und bin für ein Jahr nach Indien gegangen. Danach habe ich ein weiteres Jahr in einem Entwicklungshilfe-Projekt in Südamerika mitgearbeitet. Als ich zurück nach Deutschland kam, war ich fast pleite.“ Sie lachte, als wäre das überhaupt kein Problem für sie gewesen. „Dann starb eine Großtante – ich kannte sie kaum, aber sie schien mich sehr gemocht zu haben. Sie hat mir eine hübsche Summe vermacht. Damit habe ich mir eine kleine Eigentumswohnung gekauft und mich zur Reinkarnationstherapeutin und Meditationslehrerin ausbilden lassen.“ Sie drehte den Kopf, um mich ansehen zu können. „Während meiner Zeit in Indien war mir klar geworden, dass mein Weg ein spiritueller sein wird. Ich habe angefangen, jeden Morgen in die aufgehende Sonne zu meditieren, habe Yoga gemacht und mich mit Traumdeutung beschäftigt.“
„Gab es nie einen anderen Mann in deinem Leben?“
Warum fragte ich das? Suchte ich nach einer Parallele zu meinem eigenen Leben?
„Doch, den gab es. Julius. Er war meine große Liebe. Der Mann, nach dem ich mich immer gesehnt hatte. Wir hatten eine unglaublich intensive Zeit miteinander. Und sehr intensive Nächte.“ Sie lächelte vielsagend. „Fünf Jahre waren wir ein Paar. Fünf Jahre, in denen wir tagtäglich zusammen waren. Wir konnten uns nicht vorstellen, ohne einander zu sein. Und dann war es plötzlich vorbei, einfach so.“
„Das muss schrecklich für dich gewesen sein.“
„Nein, überhaupt nicht. Es war, als wäre genau das unser Weg, verstehst du?“
Ich war mir nicht sicher, ob ich es verstand.
„Glaubst du an Schicksal, Valerie?“
„Ich denke schon.“
„Diese fünf wundervollen Jahre waren unser Schicksal. Und wir haben es angenommen. Wir hätten so tun können, als wäre nichts geschehen, aber das wäre ein Fehler gewesen. Es gab nur diese fünf Jahre.“ Sie zeigte nach vorn. „Wir sind gleich da.“
„Was ist das?“
Vor uns war eine dunkle Hügelkette aufgetaucht, nein, es war eher eine Felsformation, eine Art Mauer.
„Das, liebe Valerie, ist die sagenumwobene Teufelsmauer.“ Sie bog rechts ab und fuhr auf einen Parkplatz.
Von einer Teufelsmauer hatte ich noch nie gehört.
Plötzlich hatte ich es eilig, aus dem Wagen zu springen und loszulaufen. Ich liebte solche Orte. Mit Christian hatte ich …
Nein! Schluss damit! Ich wollte nicht darüber nachdenken. Nicht jetzt, nicht heute, nicht an diesem Ort.
Von nun an würde ich nur noch über mein neues Leben nachdenken. Wenn ich keinen Schlussstrich zog, konnte ich nicht neu beginnen und auch nicht nach vorn blicken.
„Alles in Ordnung?“ Barbara hatte die Hand auf meine gelegt. „Du siehst so traurig aus.“
„Traurig? Nein, ich habe nur gerade daran gedacht, dass ich mein altes Leben hinter mir lassen muss.“
„Das klingt so negativ, Valerie. Man lässt immer etwas hinter sich, wenn man etwas Neues beginnt. Das ist der Lauf der Zeit. Das bedeutet aber nicht, dass man im Zorn zurückblickt. Du kannst ein neues Leben beginnen und dich trotzdem an deinem alten erfreuen. Du und dein Mann … ihr werdet gute Zeiten miteinander gehabt haben, die lassen sich nicht auslöschen. Das wäre auch ungerecht, oder nicht? Behalte sie in deinem Herzen, bewahre sie. Und die schlechten Zeiten solltest du reflektieren.“
Diese Worte sollten mich noch lange beschäftigen.
Auf der Rückfahrt erkundigte sie sich nach dem Verhältnis zu meinen Eltern.
Meine Antwort fiel knapp aus. „Es gibt keins.“
„Das bedeutet, ihr steht euch nicht sehr nahe?“
Ich wollte nicht über meine Eltern sprechen, weil es nichts zu sagen gab. Christian hatte die Beziehung zu meinen Eltern als Katastrophe bezeichnet. Das traf es wohl. „Es ist … sagen wir, schwierig.“
„Leidest du darunter?“
„Ach nein, überhaupt nicht.“ Das war nicht ganz richtig. Ich litt nicht mehr darunter. Ich hatte viele Jahre gebraucht, um zu erkennen, dass man, nur weil man blutsverwandt war, kein inniges, warmherziges Verhältnis erzwingen konnte.
„Hast du Geschwister?“
„Leider nicht.“
„Aber du hast Kontakt zu deinen Eltern?“
„Nur sporadisch.“
„Du bist verletzt, deshalb kommen deine Antworten so schnell. Es tut weh, wenn man sich nicht geliebt fühlt.“
„Du bist mir unheimlich, Barbara.“
Sie lachte.
„Das höre ich nicht zum ersten Mal. Soll ich dir eine Geschichte erzählen?“
Schon als kleines Mädchen hatte Barbara das Gefühl gehabt, sie sehe mehr als andere Menschen. Sie träumte auch ausgesprochen intensiv und konnte sich hinterher gut daran erinnern. Sie sprach viel davon, weil sie sich Antworten erhoffte. Die konnte ihr aber niemand geben. Ihr Vater war früh verstorben, und ihre Mutter hatte alle Hände voll zu tun, sie und ihre zwei Brüder durchzubringen.
Als Barbara fünfzehn war, lud ihre Tante sie zu einer Reise nach Italien ein. Bis dahin war sie noch nie verreist. Sie war so aufgeregt, dass sie die ganze Nacht kein Auge zumachte. Sie war aufgekratzt und todmüde gleichermaßen, ein Zustand, der ihr zu einem erstaunlich klaren Geist verhalf.
Ihre Tante lud sie in ein kleines Café ein. Am Nachbartisch saßen zwei ältere Herren beim Würfelspiel. Der eine bestellte sich einen Mokka, und als er ausgetrunken hatte, stülpte er die Tasse umgekehrt auf die Untertasse und legte die flache Hand darauf. Nach einer Weile nahm er die Tasse auf und sah lange hinein.
Barbara, die das alles sehr aufmerksam und gespannt verfolgt hatte, stand auf und stellte sich neben ihn. Seine leere Mokkatasse hatte sie magisch angezogen. Sie streckte die Hand danach aus, und der Mann war so überrascht, dass er sie ihr einfach überließ. Eine ganze Weile blickte sie in den Kaffeesatz. Der Mann hatte ganz offenbar nur noch ein gesundes Bein, das linke war anders, irgendwie tot, das zeigte ihr das Bild ganz rechts am unteren rechten Tassenboden. Links daneben glaubte sie, ein Mädchen zu sehen, das traurig aussah. Der Mann war der Großvater dieses Mädchens, das wusste Barbara mit einem Mal. Und er war genauso traurig, weil er seine Enkelin nicht sehen durfte.
Ruhig stellte sie die Tasse ab und wollte zu ihrem Platz zurückgehen, doch der Mann hielt sie zurück. Er sagte etwas auf Italienisch, das sie nicht verstand.
Ihre Tante übersetzte es. Er wollte wissen, was sie im Kaffeesatz gesehen hatte. Sie erzählte es ihm. Mit halb offenem Mund hörte er zu, und als sie geendet hatte, war er leichenblass geworden. Woher sie das alles wissen würde, er habe sein Holzbein doch gut unter der langen Hose versteckt. Und das mit seiner Enkelin sei eine tragische Geschichte.
Schuld sei ganz allein seine Schwiegertochter, die könne ihn nicht leiden.
Im Café war es totenstill geworden. Alle Leute hatten sich um den kleinen Tisch versammelt und das junge Mädchen mit dem hellblonden Haar angesehen, das ganz offensichtlich erstaunliche Dinge sah. Ob sie eine Hellsichtige sei, wurde sie gefragt, und darauf wusste sie nichts zu sagen. Von Hellsichtigkeit hatte sie nie zuvor gehört.
Eine ältere Frau trat hervor und bat sie, auch in ihrem Kaffeesatz zu lesen. Sie drückte Barbara ihre Tasse in die Hand und blickte sie so treuherzig an, dass Barbara gar nicht anders konnte. Danach bedrängten sie auch die anderen Gäste, sodass ihre Tante kurzerhand nach ihrer Hand gegriffen und sie aus dem Café gebracht hatte.
Barbara begriff, dass sie nicht nur mehr sah als andere, sie hatte auch eine andere Wahrnehmung. Trotzdem versuchte sie danach viele Jahre, es nicht nur zu verbergen, sondern auch zu ignorieren. Sie wollte normal sein, so wie alle anderen Menschen. Sie machte eine kaufmännische Ausbildung und heiratete.
Den Rest kannte ich bereits.
Wie sterbenslangweilig war dagegen mein eigenes Leben verlaufen.
An diesem Abend konnte ich nicht einschlafen.
Es war heiß und stickig im Zimmer, und ich musste die ganze Zeit daran denken, was Barbara gesagt hatte. Auch von einer Familienaufstellung hatte sie gesprochen. „Vielleicht entschließt du dich ja irgendwann dazu“, hatte sie gemeint.
Eine Familienaufstellung? Was sollte das bringen?
Die Beziehung zu meinen Eltern war zerrüttet. Sie war von Anfang an lieblos und kühl gewesen. Als kleines Mädchen hatte ich mich geschämt, dass es mich überhaupt gab. Warum sonst benahmen sich meine Eltern, als wäre ich ein einziger Irrtum?
Ich drehte mich auf die andere Seite und knüllte mein Kopfkissen zusammen. Ich wünschte, Christian wäre da. So gern würde ich ihm erzählen, was mich gerade beschäftigte.
Du fängst ja schon wieder an. Findest du nicht, dass es langsam reicht?
Ich döste ein, schreckte aber nach kurzer Zeit wieder hoch. Ich stand auf, öffnete das Fenster und stellte mich davor. Unten auf dem Marktplatz wurde gesungen und geklatscht.
Mir kam eine Idee: Vielleicht sollte ich aufschreiben, was mir durch den Kopf ging. Als kleines Mädchen hatte ich Tagebuch geführt.
Ich kramte in meiner Handtasche. Schade, ich hatte keinen Block eingesteckt. Ich durchsuchte das kleine Zimmer, doch es gab nichts, was sich auch nur halbwegs als Zettel eignete.
Schließlich klopfte ich leise an Barbaras Zimmertür, nachdem ich gesehen hatte, dass bei ihr noch Licht brannte. „Tut mir leid, dass ich dich störe …“
„Komm ruhig rein, Valerie. Ich schlafe nicht.“
Ich schob die Tür auf und sah sie im Bett sitzen, ein dickes Kissen im Rücken. „Bist du krank?“
„Nein, mir geht’s wunderbar. Ich brauche nicht viel Schlaf.“ Sie tippte auf das Buch, das aufgeschlagen vor ihr lag. „Ein spannender Krimi. Fehlt dir was?“
„Ja, ein Block. Du hast nicht zufällig einen dabei?“
Sie klopfte neben sich auf die Matratze. „Nicht zufällig, sondern ganz bewusst. Setz dich.“ Sie zog ihre Reisetasche unterm Bett hervor und durchsuchte sie. Dann reichte sie mir ein kleines Büchlein mit einem Ginkgoblatt darauf.
Ich klappte es auf. „Das ist ja unbenutzt.“
„Natürlich. Glaubst du, ich gebe dir ein vollgeschriebenes Buch? Ich habe immer mindestens zwei solche Büchlein bei mir. Ich neige dazu, alles aufzuschreiben, was mir durch den Kopf geht. Lass mich raten: Du hast dasselbe vor.“
Ich nickte. „Früher habe ich Tagebuch geschrieben. Dann hab ich mich nicht mehr ganz so verloren und allein gefühlt.“ Ich sah sie nachdenklich an. „Weißt du was? Ich glaube, ich möchte doch eine Familienaufstellung machen.“