Читать книгу An einem dieser Tage - Susanne Lieder - Страница 9
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ОглавлениеWenige Tage nach meinem Auszug verabredete ich mich mit Martin. Zum ersten Mal würden wir uns vis-à-vis gegenübersitzen.
Er wohnte in Krefeld, hatte aber beruflich in Flensburg zu tun. Mir war es sehr recht, dass wir uns auf neutralem Boden treffen würden.
Während ich im Zug saß, dachte ich darüber nach, wie es mit Christian und mir weitergehen würde. Wie würden wir das Ende unserer Ehe bewältigen, wie damit umgehen? Könnten wir irgendwann Freunde sein?
Wie hatte ich das früher gehasst. Lass uns Freunde bleiben.
Wie absurd. Wie konnte man in Freundschaft verbunden bleiben, wenn man sich vorher geliebt und alles miteinander geteilt hatte? Das war absolut undenkbar. Und jetzt erwartete ich, dass Christian und ich – einst das Vorzeigepaar – Freunde blieben? Waren wir das überhaupt noch, Freunde? Konnte man das behaupten, wenn man sich gegenseitig so tief enttäuscht hatte?
Vielleicht sollten wir erst mal Gras über die Sache wachsen lassen und uns dann auf einen Kaffee zusammensetzen und alles Weitere besprechen.
Die Sache.
Alles Weitere.
Die Sache war das Scheitern unserer Ehe und alles Weitere die Konsequenz daraus. Wir würden unseren Haushalt trennen und versuchen, alles gerecht aufzuteilen. An Feiertagen und zu besonderen Anlässen würden wir mit unseren Kindern zusammensitzen und uns verzweifelt um eine zwanglos-fröhliche Stimmung bemühen. Vielleicht würde Christian kochen, die Kochmütze auf dem Kopf, die ich ihm vor Jahren geschenkt hatte, und wir würden Stadt-Land-Fluss spielen so wie früher. Wir hatten immer unglaublich viel Spaß gehabt, uns lustige Begriffe zugerufen und manchmal gebrüllt vor Lachen.
Das Herz tat mir weh, als ich mich daran erinnerte.
Zwei Stunden später saß ich an einem hübsch gedeckten Tisch in einem gemütlichen Café, meine Handtasche auf den Knien, darin mein Ehering. Gerade noch rechtzeitig hatte ich daran gedacht, ihn abzunehmen. Es hatte sich wie Verrat angefühlt, und mir war ganz seltsam zumute gewesen.
Mir gegenüber saß der Mann, der mir schlaflose Nächte, mächtiges Herzklopfen und Magenschmerzen bereitet hatte.
Martin mit dem dunkelbraunen, welligen Haar, den unzähligen Lachfältchen, den übermütig blitzenden Augen, den sinnlichen Lippen. Martin, der sich selbst als schlank und durchtrainiert bezeichnet und seine Größe mit knapp unter eins neunzig angegeben hatte.
Ich war viel zu früh dagewesen und konnte daher betont unauffällig Ausschau nach ihm halten.
Als er hereingekommen war, hatte ich ihn nicht erkannt. Der Mann, der mit einer roten Rose in der Hand – wie einfallsreich – an meinem Tisch stand, konnte nicht Martin sein. Doch dann hatte er gesagt: „Valerie. Du bist ja in echt noch viel hübscher.“ Er hatte meine Hand genommen und mich vom Stuhl hochziehen wollen. Wahrscheinlich hatte er vorgehabt, mich zu umarmen, womöglich sogar zu küssen.
Ich war so fassungslos gewesen, dass ich einfach sitzen geblieben war. Der Mann, der kaum größer war als ich, sollte Martin sein?
„Du siehst wirklich toll aus.“ Damit hatte er sich mir gegenüber auf den Stuhl fallen lassen.
Seitdem saßen wir uns gegenüber und musterten uns immer wieder. Er ganz unverhohlen und sichtlich angetan.
Das war also Martin.
Schlank? Durchtrainiert?
Der Mann vor mir hatte mindestens zwanzig Kilo zu viel auf den Rippen. Und ein Fitnessstudio hatte er seit Jahren nicht von innen gesehen. Sein angeblich dichtes, welliges Haar war schütter und mehr grau als dunkelbraun. Und war das Haarspray, das so eigenartig glitzerte?
Nicht mal sein Gesicht war mir wirklich vertraut, obwohl ich das Foto, das er mir geschickt hatte, so oft angesehen hatte, dass ich sicher gewesen war, ihn unter Hunderten sofort wiederzuerkennen. Ob er mir das Foto eines Freundes geschickt hatte?
Dennoch hätte ich vielleicht sogar über all das hinwegsehen können. Das waren Äußerlichkeiten. Aber dazu kam, dass sich sein Charme, sein Humor und seine Schlagfertigkeit, die er während unserer unzähligen Begegnungen im Chatroom immer wieder unter Beweis gestellt hatte, praktisch in Luft aufgelöst hatten. Sie waren nicht einmal ansatzweise spürbar.
Was war mit seiner Anziehungskraft, die mich so fasziniert hatte? Wo waren der Zauber, die Magie, all die Schmetterlinge?
Kerzengerade saß ich da und konnte nicht umhin, ihn erschüttert, ja fast schockiert, anzustarren.
Ich versuchte verzweifelt, Konversation zu machen – und wünschte mich an einen anderen Ort.
Mir fielen wieder all seine Nachrichten und Mails ein.
Hin und wieder hatte er mir kurze Gedichte geschickt, keine selbst geschriebenen, das war mir aber auch nicht wichtig gewesen. Atemlos hatte ich ihm zurückgeschrieben, manchmal war es mir sogar vorgekommen, als sei dieser Mann mein Seelenverwandter.
Nun saß er hier vor mir und konnte kaum einen vernünftigen Satz artikulieren.
Ich versuchte, es auf seine Nervosität zu schieben. Ja, natürlich, er war bestimmt schrecklich nervös und brachte deshalb keinen klaren Satz heraus. So was war nicht ungewöhnlich. Bestimmt würden sich gleich sein unwiderstehlicher Charme und sein spitzbübischer Humor entfalten, und wir würden zusammen lachen, uns verliebt ansehen und wünschen, die Zeit würde stehenbleiben.
Wir bestellten eine Flasche Weißwein, und Martin schenkte mir einen sehr eindeutigen Blick. Der bedeutete nichts anderes als: Von mir aus können wir uns gleich ein Hotelzimmer nehmen.
Ich schluckte und fragte mich zum hundertsten Male, wie ich so blöd hatte sein können. So naiv. Wie ein Backfisch hatte ich mich benommen, überzeugt davon, der Mann, der mir gerade mal ein Foto und ein paar Gedichte geschickt hatte, könnte derjenige sein, mit dem ich auf der Stelle durchbrennen würde.
Wir bemühten uns um eine zwanglose Unterhaltung. Es war erbärmlich. Noch vor wenigen Stunden hatten wir heiß miteinander geflirtet. Wenn auch nicht von Angesicht zu Angesicht.
War es das? Mussten wir uns erst aufeinander einstellen?
Oder waren die Erwartungen einfach zu hoch gewesen?
Ich trank drei Gläser Wein und fühlte mich ein wenig betrunken. Ich war drauf und dran, ihm die Wahrheit, meine ganze Enttäuschung ins Gesicht zu schleudern. Ich fühlte mich betrogen, verraten. Er hatte mir absichtlich ein fremdes Foto geschickt, weil er mich beeindrucken wollte. Er wusste, dass er kein George Clooney war, warum aber hatte er versucht, sich als einer auszugeben? Das war lächerlich. Er hätte doch wissen müssen, dass sein Schwindel früher oder später auffliegen würde.
Warum hatte er sich als Mann von Welt, als Charmeur, Gentleman und Liebhaber romantischer Gedichte ausgegeben, wenn er nicht mal im Ansatz weder das eine noch das andere war? Was hatte er sich davon versprochen?
Oder lag es womöglich an mir? Hatte ich diesen Mann in ihm sehen wollen?
Plötzlich kamen mir alle E-Mails von ihm läppisch vor, selbst die, die mich sprachlos gemacht hatten. Er hatte mich getäuscht, mit voller Absicht.
Und ich war blöd genug gewesen, darauf hereinzufallen. Selbst schuld.
Ich sollte nicht hier sein, nicht mit einem Mann in einem Café sitzen, in einer Stadt, die mir in diesem Augenblick fremd und kalt vorkam. Dabei mochte ich Flensburg.
„Erzähl mir von dir“, bat er mich und tätschelte meine eiskalte Hand. „Deine Hand ist ja ganz kalt. Komm, ich wärm sie dir.“
Hastig zog ich die Hand zurück, so als hätte ich mich verbrannt. Meine Fassungslosigkeit schlug in Wut um.
Was bitte sollte ich ihm erzählen? Ich hatte doch schon alles von mir preisgegeben, mein Innerstes nach außen gekehrt, ihn tief in meine Seele blicken lassen, weil ich geglaubt hatte, er wäre es wert. Ich hatte mich vor diesem Mann praktisch entblößt.
Er wusste alles über mich … nur nicht, dass ich verheiratet und Mutter von drei erwachsenen Kindern war.
Meine Hände zitterten, als ich das Weinglas nahm. Bis dahin hatte ich mich bemüht, diese Frage nicht zu stellen, doch jetzt konnte ich nicht anders. „Das Foto, das du mir geschickt hast …“
Er grinste und winkte lässig ab. Offenbar fand er das Ganze amüsant. „Ach das, da war ich noch ein bisschen jünger.“
Jünger? Das sollte das ganze Geheimnis sein?
„Was ist denn, Süße? Du bist ja ganz blass.“
Ich hasste es, so genannt zu werden, und stellte mir vor, wie ich ihm meinen Wein ins Gesicht schüttete.
Wie hatte ich diesen Mann jemals attraktiv und interessant finden können? Er hatte großporige, unreine Haut und eine unmöglich große Nase. Und wulstige Lippen, die ich niemals küssen könnte.
Ich trank das Glas in einem Zug aus und stand auf. Meine Knie wollten einknicken und mich zwingen, mich wieder zu setzen.
Nein, ich würde jetzt gehen, laufen, wegrennen. Vor ihm. Vor mir selbst. Nur weg von hier.
Meine Hand krallte sich um meine Tasche, und ich fühlte mich, als stünde ich nur in Unterwäsche vor ihm. Halbnackt, schutzlos.
Er sah mich irritiert an. „Was ist denn?“
„Ich muss … aufs Klo“, stammelte ich.
Warum log ich ihn an? Warum sagte ich ihm nicht, dass er mich an der Nase herumgeführt hatte? Dass ich außerdem eine notorisch unzufriedene Frau war, die nach jedem Strohhalm greifen würde, nur um nicht darüber nachdenken zu müssen, wie erbärmlich und überflüssig ich mich fühlte?
„Ich warte, Süße.“ Er grinste wieder, und mir wurde übel.
Ohne ein weiteres Wort stürzte ich zu den Toiletten und schloss mich in einer Kabine ein. Ich war nicht fähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Vielleicht träumte ich nur und würde jeden Moment aufwachen.
Ja, womöglich war es wie in einem meiner Autobahn-Träume; ich wusste plötzlich nicht mehr, wo ich war, und würde schweißgebadet aufwachen. Christian würde von meinem leisen Schrei ebenfalls wach werden und mich fest in die Arme nehmen. Ich war in Sicherheit, geborgen und hockte nicht auf einem Klodeckel in einem Café in Flensburg.
Nach einer ganzen Weile verließ ich die Kabine und ließ mir kaltes Wasser über die Handgelenke laufen. Dann spähte ich vorsichtig aus der Tür, um zu sehen, ob Martin immer noch irgendwo auf mich wartete. Ich konnte ihn nirgends entdecken und eilte erleichtert aus dem Café.
Dann eine Stimme hinter mir. „He, was soll das, Valerie? Wo läufst du denn hin?“
Ich drehte mich nicht mal mehr um. Völlig außer Atem kam ich am Bahnhof an.
Ich könnte wieder nach Hause gehen, zu Christian. Ich könnte meine Kartons bei Marlen packen und zu ihm zurückgehen.
Es war blöd von mir, Christian, verzeih mir. Ich bin momentan einfach nicht ich selbst.
Aber wer war ich dann? Wer wollte ich sein?
Was wollte ich vom Leben? Was erwartete, was wünschte ich mir? Wollte ich wirklich wieder zu Christian zurück? In mein altes Leben? Meinen Alltagstrott?
Nein.
Ich musste mein Leben, das mir durch die Finger geglitten, vielleicht sogar entglitten war, endlich neu sortieren, ihm einen neuen Sinn geben.
Doch erst mal musste ich mich selbst finden.
Es war allerhöchste Zeit.
Die Hände um das Lenkrad gekrallt, den Blick starr auf die Fahrbahn gerichtet, fuhr ich über die mehrspurige Autobahn.
Rechts von mir LKW, auf der linken Spur dunkle Limousinen.
Mein Herz schlug bis zum Hals und mein Magen krampfte sich zusammen. Wo war die verdammte Ausfahrt? Hatte ich sie übersehen, war ich längst daran vorbeigefahren? War ich überhaupt auf der richtigen Autobahn?
Was nun? Was sollte ich tun? Versuchen, eine Lücke zwischen den LKW zu finden und auf den rechten Standstreifen zu fahren?
Ich umklammerte das Lenkrad so fest, dass meine Handknöchel weiß hervortraten. Gott, wenn ich doch endlich von dieser verfluchten Autobahn runter wäre!
Vor mir tauchte ein Autobahnkreuz auf, das unüberschaubar und geradezu furchterregend wirkte. Mir wurde schlecht, kalter Schweiß stand mir auf der Stirn. Wo musste ich abfahren? War die richtige Ausfahrt dabei?
Ich setzte den Blinker, schwitzte.
Ein rascher Blick in den Rückspiegel, dann in den rechten Außenspiegel.
Wag es …
Mit einem Schlenker zog ich den Wagen rechts rüber.
Gleich darauf war mir klar, dass ich einen Fehler gemacht hatte. Eingekeilt zwischen zwei riesigen LKW musste ich weiterfahren, und mit einem Schlag waren sämtliche Ausfahrten verschwunden …
Ein Traum.
Ich hatte nur geträumt. Wieder ich allein in einem Wagen auf einer mehrspurigen Autobahn. Immer endete der Traum damit, dass ich entweder nicht mehr wusste, wohin ich unterwegs war, oder dass ich auf der rechten Spur zwischen all den LKW festsaß. Manchmal verfuhr ich mich auch hoffnungslos und hielt irgendwann einfach an, den Kopf auf dem Lenkrad, die Augen geschlossen, bebend vor Angst und Panik.
Immer wieder derselbe Traum mit kleinen Abweichungen. Nur eins war immer gleich: meine Verzweiflung, und dass ich nie an meinem Ziel ankam.
Mein Handy piepste, ich hatte eine SMS bekommen. Von Martin.
Ich löschte sie gleich wieder, ohne sie zu lesen.
Das hier war kein Traum, leider. Ich hatte mich wirklich auf diesen Mann eingelassen, ihm vertraut und viel zu viel von mir preisgegeben.
Wenig später kam eine weitere SMS, und fast hätte ich auch die gelöscht, doch sie war von Amelie.
– Bist du vollkommen übergeschnappt? Ziehst aus und sagst mir nichts?!
Ich fühlte mich hundeelend. Ich hatte es nicht mal fertiggebracht, meiner Tochter die Wahrheit zu sagen. Stattdessen hatte ich das getan, was ich in den letzten Jahren ständig getan hatte: gekniffen und den Kopf in den Sand gesteckt, Vogel Strauß gespielt.
Auf dem Bahnhof in Flensburg hatte ich mir eingestehen müssen, dass mein Leben komplett aus den Fugen geraten war.
Worauf also wartete ich noch? Dass das Schicksal ein Einsehen hatte und mich mit Läuterung und Weitsicht bedenken würde? Einfach so, ohne dass ich etwas dafür tun müsste?
Vorher war ich leer gewesen, jetzt war ich voller Groll und Bitterkeit. Immerhin fühlte ich mich lebendig.
Aber war es das wert?
Wenige Wochen später war mein achtundvierzigster Geburtstag, und passenderweise regnete es in Strömen.
Missmutig stand ich auf und verweilte einen Moment am Fenster, als wollte ich mich noch mieser fühlen, indem ich dem plätschernden Regen zusah.
Ich musste an meinen vierzigsten Geburtstag denken.
Jona, ein begnadeter Zeichner, hatte mir eine Karte geschenkt: ich als alte Frau mit schlohweißem Haar und zwei fehlenden Vorderzähnen, die auf einem Skateboard die Straße entlangflitzt. Mit seiner für ihn so typischen liebenswert-ironischen Art hatte er versucht, mir zu zeigen, wie unsinnig meine Angst vor dem Älterwerden war.
Und nun war ich nur noch zwei Jahre von meinem Fünfzigsten entfernt.
Früher hatte ich die Welt verbessern und sämtliche Mauern einreißen wollen. Ich hatte mir nicht mal vorstellen können, mehr als ein paar Jahre am selben Ort zu wohnen. Alles Unbekannte war eine Herausforderung für mich gewesen.
Heute bekam ich es schon mit der Angst zu tun, wenn mein Lieblingsbäcker geschlossen hatte und ich woanders einkaufen musste. Ich war eine jämmerliche Gestalt.
Immerhin gestand ich es mir selbst ein.
Ich gab mir einen Ruck und ging in die Küche.
Marlen hatte bereits den Tisch gedeckt, sie hatte sogar eine Kerze angezündet und frische Blumen besorgt.
„Da ist ja das Geburtstagskind.“ Sie küsste mich auf beide Wangen und gab mir einen dunkelgrünen Umschlag. „Mach auf, ich bin so gespannt, was du sagst.“
Erst mal sagte ich gar nichts.
Sie hatte mir einen Gutschein für ein verlängertes Wochenende in Quedlinburg geschenkt. Dort besaß ihre Schwester Gabriele eine kleine Pension.
Quedlinburg. Ich wusste nicht mal, wo das lag, und ich hatte überhaupt keine Lust, allein zu verreisen.
Ich wollte Marlen sagen, dass es wirklich lieb gemeint war, ich aber lieber hierbleiben würde. Ich will meine Wunden lecken …
Als mir dieser Gedanke durch den Kopf ging, legte sich gleichzeitig ein Schalter um. Nein, ich würde nicht meine Wunden lecken. Ich würde nach Quedlinburg fahren. Allein.
Ich wollte endlich tätig werden und von meinem Beobachtungsposten steigen.
Es würde der Anfang eines Neubeginns werden, meines ganz persönlichen Neubeginns.
Vor meiner Abreise ging ich zum Friseur und ließ mein langes Haar abschneiden. Es war auch Zeit für eine äußerliche Veränderung.
Am Tag darauf packte ich meine Reisetasche.
Marlen lehnte im Türrahmen. „Du bist ein ganz neuer Mensch.“
„Nur äußerlich.“
„Wenn eine Frau ihr langes Haar abschneiden lässt, will sie sich verändern.“
„Vielen Dank, Frau Doktor. Das wusste ich bereits.“ Ich zog den Reißverschluss meiner Tasche zu. „Tut mir leid. Ich weiß, ich bin unausstehlich.“
„Schon gut. Ein paar Tage Ruhe werden dir guttun.“
„Ich wünsche mir noch mehr.“
„Ach ja? Und was?“
„Dass ich mich …“ Wie sollte ich es erklären? Ich wusste ja selbst nicht genau, was ich mir wünschte. Es war nur ein vages Gefühl. „Dass ich mich selbst finde.“
„Verstehe.“ Sie zeigte auf meine Reisetasche. „Deshalb packst du deine ältesten Sachen ein? Jogginghose und Shirt? Wo sind deine Kleider? Hochhackige Pumps?“
„Ich werde viel nachdenken. Wozu brauche ich da Kleider und Pumps?“
„Vielleicht möchtest du mal ausgehen?“
„Das glaube ich kaum.“
„Du willst die ganze Zeit meditieren?“
Zum ersten Mal ging mir durch den Kopf, dass sie keine Ahnung hatte, was wirklich in mir vorging. Sie hatte keine Probleme mit dem Älterwerden, noch nicht mal mit den Wechseljahren. Sie schluckte dreimal täglich ihre homöopathische Globuli-Mischung und fertig. Was ahnte sie wirklich von meinen Empfindungen, meiner Zerrissenheit, meiner stillen ohnmächtigen Wut auf mich selbst?
Als ich kurz darauf im Zug saß und aus dem Fenster blickte, fragte ich mich, ob Marlen wirklich die richtige Person für mich in diesem Stadium meines Lebens war. War sie nicht viel zu phlegmatisch, zu oberflächlich?
Oder waren diese Gedanken auch wieder ein Zeichen meiner ständigen Stimmungslabilität?
Ich blicke jetzt nach vorn und zwar konsequent.
Diesen Satz betete ich während der Fahrt immer und immer wieder herunter. Mein Mantra.
Dann machte ich die Augen zu.
Mit einem Mal freute ich mich unbändig auf die kommenden Tage.