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Stift Fischbeck im Mai 2015

Als wir angekommen waren, hatte es wie aus Eimern geschüttet. Nass bis auf die Haut, aber glücklich hatten wir vor der Tür gestanden.

An diesem Morgen ging die Sonne gerade verheißungsvoll und leuchtend rot auf, als ich nach unten in den Kräutergarten ging. Eine ganze Weile blieb ich auf dem Kiesweg stehen und schaute in den strahlend blauen Himmel. Keine einzige Wolke war zu sehen, es würde ein herrlicher Frühlingstag werden.

Langsam schlenderte ich weiter, vorbei an den Fünffingersträuchern, die bereits blühten.

Es musste wunderbar sein, hier zu leben. Vorausgesetzt, man eignete sich für ein Leben als Stiftsdame. Und ich war für so ein Leben vermutlich nicht geschaffen. Auf Dauer würde ich mich eingeengt fühlen.

Der Geruch des Kräutergartens vermischte sich mit dem von frischem Kaffee. Zeit fürs Frühstück. Hungrig war ich nicht, aber ich freute mich auf einen Kaffee.

Ob Lisa auch schon auf war?

Wir kannten uns erst wenige Tage, hatten uns aber bereits unser halbes Leben erzählt. Für mich war Lisa, diese warmherzige, geduldige und so lebendige Frau, inzwischen zu einer Freundin geworden.

Ich ging zum Rosmarinstrauch und kniete mich hin. Wie wunderbar er duftete! Schwester Margarethe hatte mir erzählt, dass sein Geruch sehr wirksam bei leichtem Kopfweh sei. Man musste eine der Nadeln abzupfen und zwischen den Fingern zerreiben.

Ich stand wieder auf, hob den Kopf und breitete die Arme aus. Ich war endlich angekommen! Und damit meinte ich nicht meinen derzeitigen Aufenthaltsort, den ich erreicht hatte, nachdem ich ein Stück des Pilgerwegs von Loccum bis Fischbeck gegangen war, nein, ich war bei mir selbst angekommen.

Ich hatte auf diesem Weg, meiner inneren Einkehr, eine Menge über mich erfahren und gelernt.

Das letzte Jahr war ein ganz besonderes gewesen. Was zuerst wie ein Haufen Scherben ausgesehen hatte, unmöglich wieder zusammenzusetzen, hatte sich zu einem der wichtigsten Jahre meines Lebens entwickelt. Stück für Stück hatte ich die einzelnen Puzzleteile meines Lebens wieder neu zusammensetzen können, sodass ich jetzt an einem Punkt war, an dem ich die Geschehnisse von einer ganz anderen Seite betrachten konnte. Und ich sah, dass nur noch ein Puzzleteil fehlte, das noch eingesetzt werden musste: Christian.

Mehr als zwanzig Jahre waren Christian und ich glücklich gewesen, hatten eine harmonische, liebevolle Ehe geführt. Letzten Endes war ich es gewesen, die all dem ein Ende gesetzt hatte: Ich war aus meiner Ehe ausgebrochen, weil ich nicht mehr gewusst hatte, wer ich war.

Irgendwo klopfte jemand an eine Fensterscheibe. Ich schaute mich um und entdeckte Lisa, die, ein weißes Frotteetuch auf dem Kopf, oben am Fenster unseres gemeinsamen Zimmers stand und winkte. Offenbar war sie gerade erst aufgestanden.

Sie hatte mir erzählt, sie habe einen ungewöhnlich tiefen Schlaf, man könne sie wegtragen und an einen anderen Ort bringen, ohne dass sie davon aufwachen würde.

Davon hatte ich mich bereits überzeugen können. Es hatte eine Nacht gegeben, in der ein Gewitter mit einem Hagelsturm über uns hinweggefegt war. Lisa hatte mich am nächsten Morgen erstaunt gefragt, ob es in der Nacht etwa geregnet hätte – der Rasen sei ja ganz nass.

Sie erinnerte mich dabei an Christian. Mir kann man im Schlaf die Haare schneiden, hatte er gemeint. Ich würde mich am nächsten Morgen nur über die neue Frisur wundern.

Ich machte kehrt und ging langsam weiter. Diesen Moment würde ich festhalten, einfrieren, so wie ich Dutzende in den vergangenen Monaten eingefroren hatte. Momente, die voller Glück und tiefer Zufriedenheit gewesen waren. Momente, in denen ich verblüffende Erkenntnisse über mich selbst gewonnen hatte. Und dann schließlich dieser ganz besondere Augenblick, in dem ich mich beinahe erleuchtet gefühlt hatte.

Schwester Marie eilte an mir vorbei, den langen Rock gerafft, die Wangen gerötet. „Guten Morgen, Valerie. Schon wieder so früh auf?“

„Ich hab’s nicht länger im Zimmer ausgehalten. Es ist ein so schöner Tag.“

„Das ist wahr, Valerie, das ist wahr. Ich muss leider weiter. Schwester Helene braucht meine Hilfe. Sie und der Ofen werden wohl keine Freunde mehr werden.“

Ich musste lachen und folgte ihr, wenn auch deutlich langsamer. Lange Zeit hatte ich mich nicht spüren können, mich leer und wie tot gefühlt, so als hätten die letzten Jahre alles Leben aus mir herausgepresst und eine leere Hülle zurückgelassen. Endlich lebte ich wieder.

Die Äbtissin kam den Weg entlang, den Kopf gebeugt, anscheinend in Gedanken versunken. Ich mochte sie, sie war eine offene, freundliche Frau mit einer samtweichen, dunklen Stimme.

Vielleicht hatte sie meine Schritte gehört, denn sie hob den Kopf und lächelte mich an. Sie hatte wasserblaue Augen mit unzähligen Lachfältchen ringsherum. Bei unserer ersten Begegnung war mir durch den Kopf gegangen, dass ich mir eine Äbtissin immer ganz anders vorgestellt hatte. „Ich sehe, auch Sie genießen den frühen Morgen.“

„O ja, es ist herrlich hier um diese Zeit. Ich werde mich an diesem Garten wohl nie sattsehen. Wenn mir vor einem Jahr jemand gesagt hätte, dass ich ein Kloster besuchen würde …“ Ich machte eine ausladende Handbewegung. „Es ist ein so schöner Ort voller Magie. Und voller Poesie.“

„Genau genommen sind wir ein Stift“, verbesserte sie mich.

„Ich weiß. Entschuldigung.“

„Schon gut.“ Die Äbtissin zeigte auf einen Ginkgobaum, der rechts stand. „Er soll über zweihundert Jahre alt sein. Eine Stiftsdame, die leidenschaftliche Gärtnerin war, soll ihn gepflanzt haben. Schwester Margarethe sagte mir, wie sehr Sie den Kräutergarten lieben. Sie könnten sich auch einen zulegen“, schlug sie vor. „Schwester Margarethe gibt Ihnen sicher gern ein paar nützliche Tipps.“

Ich unterdrückte ein Seufzen. „Ich werde darüber nachdenken.“

Ein Kräutergarten, o ja, wie gerne.

Doch dazu müsste ich erst einmal wieder einen Garten haben, ein Haus.

Und all das hatte ich vor einem Jahr aufgegeben …

An einem dieser Tage

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