Читать книгу Von diesem Sommer bis zum nächsten - Susanne Margarete Rehe - Страница 10
Viertes Kapitel
ОглавлениеGerdi stand auf Weilersried im Hausflur und telefonierte.
Den Telefonhörer zwischen Kinn und Schulter geklemmt versuchte sie, ihre Schuhe anzuziehen, während sie mit Leon sprach.
Sie hatte es eilig. Es war fast vier Uhr und wieder hatte sie es nicht geschafft, früher mit der Arbeit fertig zu werden. Jetzt lag die ganze lange Fahrt noch vor ihr und Gerdi mochte es nicht, im Dunkeln zu fahren.
„Ja, ja – natürlich bringe ich Kartoffeln und Gemüse mit“, antwortete sie etwas gestresst in den Hörer, „hab schon alles ins Auto gepackt. Ja, auch die Kette, die du das letzte Mal hier hast liegen lassen. Wenn nichts dazwischen kommt, bin ich gegen Abend bei euch. Also, mein Schatz, ich fahr jetzt – bis dann!“
Sie schickte noch einen flüchtigen Kuss durchs Telefon und legte auf.
Gerdi hob ihren roten Rucksack auf, nahm die Handtasche und den dicken Pullover und machte noch einen Abstecher ins Badezimmer.
Zahnbürste, Duschgel, Haarbürste, Deoroller … ach ja, den Kajalstift und Haarfön darf ich nicht vergessen, so was haben die beiden Männer zuhause natürlich nicht.
Okay, ich glaub, das war’s!
Sie stopfte alles in den Kulturbeutel und versuchte mit Nachdruck, diesen auch noch im Rucksack unterzubringen. Wohl bereits zum hundertsten Mal machte sie dabei die Erfahrung, dass es scheinbar keine Tasche gab, die wirklich zur Menge des Gepäcks passte. Egal, wie groß sie war, sie war auf jeden Fall zu klein.
So war es natürlich auch dieses Mal. Ihr Gepäck ließ zwei Wochen Urlaub vermuten, dabei würde sie in genau achtundvierzig Stunden wieder hier sein.
Na ja, es ist noch früh im Jahr. Der Winter hat sich noch nicht endgültig verzogen, da brauche ich eben warme Kleidung, dicke Socken, ein zweites Paar Schuhe … im Sommer wäre es sicher anders.
Im Sommer!
Falls ich im Sommer noch hier bin.
Wo ist Paul überhaupt? Ich will mich von ihm verabschieden. Wenigstens einmal drücken, Kuss und Nase aneinander reiben, noch was Nettes sagen.
Sie ging hinaus und sah Paul in der Halle, in der er Getreide reinigte und schaute ihm einen Moment lang zu. Verwegen hatte sich der feine Staub vorgenommen, jedes nur erreichbare Haar auf Pauls Gesicht zu besetzen und zeichnete eindrucksvolle Strukturen auf Wimpern und Augenbrauen. Ein wenig wild sah er aus, der Bauer, mit seiner gepuderten Auflage.
Gerdi mochte sein Gesicht, wie eigentlich alles an diesem Mann, und am allermeisten gefielen ihr seine Augen und sein spitzbübisches Lachen, wenn es ihm gut ging.
Sie lief zum Auto, verstaute ihr Gepäck und schlug die Tür vom Kofferraum zu.
Paul sah Gerdi entgegen, als sie über den Hof auf ihn zuging.
„Fahrsch’d jetzt?“, fragte er sie.
„Ja, ich will nicht allzu spät bei Leon auftauchen. Er weiß, dass ich eigentlich schon unterwegs bin.“
„Also dann, pfia’di!“
Kleines, verlorenes Küsschen von ihm – Vorhang – und ab.
Ihr Bauchbarometer machte sich bemerkbar. Es rumorte und tendierte gegen rot. In Gerdis Kopf blieben Enttäuschung und Rebellion über Pauls lieblose Art hängen. Sie schluckte die Worte hinunter, die sich in ihrer Kehle verhakt hatten, drehte sich um und ging.
Dann stieg sie ins Auto und fuhr, ohne anzuhalten.
Der Kilometerzähler fraß die Strecke in kleinen Happen.
Zeit und Geschwindigkeit spürte Gerdi kaum noch. Die kleinen verschlafenen Dörfer der Alb hatte sie längst hinter sich gelassen.
Entlang der Autobahn flog die Landschaft vorbei. Die Entfernung schien auf wundersame Weise zusammengeschrumpft auf einen harten, aber standhaften Kern, so oft war sie diese Strecke nun schon gefahren. Früher immer „hinunter“ und seit sie auf Pauls Hof lebte, immer „hinauf“.
Aber nicht nur die angestrebte Wunschrichtung mit den dazwischen liegenden Sehnsuchtszeiten hatte sich geändert. So Vieles war anders geworden. Anders als gewünscht und gehofft und geplant.
Gerdi erinnerte sich an ihre Fahrt „hinunter“, als sie Paul das erste Mal traf.
Sie hatten einander über eine Annonce in einem landwirtschaftlichen Blatt kennen gelernt. Paul suchte eine Partnerin. Gerdi hatte ihm geschrieben und Paul hatte geantwortet.
Ein später und recht heißer Frühlingstag war es gewesen, als sie sich das erste Mal trafen.
Gerdi lebte damals noch mit Leon zusammen in einem verschlafenen Taunusdorf. Auf dem Hof befreundeter Bauersleute betrieb Gerdi ihren eigenen Gemüseanbau und unterhielt in der nahe gelegenen Kleinstadt einen Laden.
Es war Samstagnachmittag – endlich!
Nachdem Gerdi die letzten Gemüsekisten im Kühlraum verstaut hatte, ließ sie die Rollläden herunter, knipste das Licht aus und zog die Türe ihres kleinen Ladens hinter sich zu. Der Schweiß stand ihr in glänzenden Perlen auf der Stirn. Sie hatte zügig gearbeitet. Jeder Handgriff saß, kein unnötiger Gang, die gewohnten Arbeitsschritte schachtelten sich ineinander wie ein Baukastensystem.
Gerdi mochte die fließende Dynamik ihrer Arbeit und war wie so oft gottfroh über die äußerst praktische Fähigkeit, wenn es sein musste, unglaublich schnell arbeiten zu können. Sie hatte ein riesiges Energiepotential zur Verfügung. Das war ihr Glück. Ohne dieses Potential hätte sie es nicht geschafft, das Pensum ihrer täglichen Aufgaben und Verpflichtungen zu bewältigen. Und dennoch, wieder war es spät geworden und ihre Arbeitswoche war unendlich lang gewesen. Oder vielleicht erschien es ihr auch nur so, weil sie diesen Samstagnachmittag herbei gesehnt hatte, wie schon lange nichts mehr.
Mist, eigentlich bin ich jetzt total erledigt!
Diese elende Schlepperei, bis ich endlich hier heraus komme! Es kostet mich alles!
Die Kundschaft ist längst schon zuhause und hat sich von meinem Gemüse etwas Gutes gekocht. Soll sie ja auch! Bloß, ich stehe hier immer noch, hungrig und viel zu müde zum Essen und bin ziemlich am Ende.
Na gut, Gerdi, aber komm, gleich hast du’s geschafft! Vergiss den Stress und lass einfach alles hinter dir!
Heute ist ein besonderer Tag. Dein Tag! Und die vierhundert Kilometer, die vor dir liegen, die schaffst du auch noch – irgendwie.
Glücklicherweise gab es aber noch etwas, das Gerdi mindestens so gut vermochte, wie schnell zu arbeiten. Sie konnte sich auch ziemlich schnell wieder erholen. Und das war gut so, denn sie hatte ein kleines Problem, das sich schon lange durch ihr Leben zog.
Eigentlich konnte sie sich gar nicht mehr recht erinnern, wann es anfing. Jedenfalls war es lange her. Die Zeit, die ihr zur Verfügung stand, reichte ihr nämlich nie – weder für die Dinge, die sie machen wollte, noch für die Ruhe, die sie nötig gehabt hätte.
Also kaufte sie sich an der Tankstelle ein Eis für eine Fünf-Minuten-Pause und lutschte die sahnige Kühle und Schokolade in sich hinein. Dann fuhr sie los – das erste Mal „hinunter“. Zusammen mit dem abgeleckten Eisstäbchen warf sie das Drückende ihres Alltags aus dem Fenster des alten VW-Busses, schob die Filmmusik von „Amelie“ in den CD-Spieler und fuhr Paul entgegen. Paul, den sie bisher nur von seinen Briefen, einem Foto und den Gesprächen am Telefon kannte.
Als nur noch wenige Kilometer sie vom Weilersrieder Hof trennten, fuhr sie aus einem Waldstück heraus, das zwar noch auf der Albhöhe lag, ihr aber die Sicht auf das unter ihr liegende Ried versperrte.
Sowie sie den Wald hinter sich gelassen hatte, öffnete sich im selben Moment vor ihren Augen eine ebene Flusslandschaft und breitete sich wie ein unregelmäßiges buntes Schachbrettmuster in fruchtbarer Weite vor ihr aus.
Vereinzelte schlanke Pappeln und mächtige Weiden hoben sich eindrucksvoll vor dem Hintergrund üppiger Maisfelder und Getreideäcker ab. Die schräg einfallenden Strahlen der tief im Westen stehenden Sonne überzogen das weite Land mit einem goldfarbenen Weichzeichner und hoben gleichzeitig die Konturen einzelner Baumgruppen fast surrealistisch scharf in den Vordergrund.
Gerdi sog den Blick auf die liebliche Landschaft wie einen befreienden Atemzug nach bedrängender Enge tief in sich hinein.
Es schien ihr, als müssten sich irgendwann auf diesem Teil der Erde Magritte, van Gogh und Monet wohl allesamt getroffen haben, um sich Anregungen für ihre Bilder zu holen. Nur um anschließend wieder in unterschiedliche Richtungen auseinander zu streben, der Eine den Anderen in Sichtweise, Ausdruck und Farbenspiel überbietend, um die Schönheit dieser Gegend auf ihren Leinwänden festzuhalten.
Fasziniert tauchte sie ein in das Bild einer toskanisch anmutenden Landschaft, die sich mit dem unwiderstehlich lockenden Charme und der runden Fülle einer italienischen Signora in ihr Herz schlich.
In der Weite der fruchtbaren Ebene fühlte sie sich mit einem Mal frei und leicht, ganz leicht, wie ein vom lauen Wind geschaukeltes Blatt und war bereit, an dem Ort zu landen, an den der Wind sie entlassen würde.
Als Gerdi schließlich auf Pauls Hof fuhr, glitt sie auf einem zarten Windhauch sanft zu Boden.
Sie stieg aus ihrem Bus und ging auf das Haus zu.
Es war ein gediegenes altes Bauernhaus, weiß gestrichen und mit vielen Fenstern, die sie durch die geöffneten grünen Läden anzublicken schienen.
Sie nahm all ihren Mut zusammen, lief zur Türe und drückte auf die Klingel.
Es öffnete ihr aber niemand.
Keiner da? Na, so was aber auch!
Schau ich mich halt mal ein wenig um. Irgendwo werde ich Paul schon finden.
Er hatte mir ja geschrieben, dass er zwar „eigentlich“ keine Zeit hat, mich aber „eigentlich“ trotzdem ganz unbedingt sehen will.
Na gut, schau’n wir mal!
Wenn der Bauer gar zu stoffelig und ungehobelt ist, fahr ich einfach wieder heim.
Wär schad drum, aber dann war es halt nur ein netter Ausflug, eine kurze Bekanntschaft, eine flüchtige Hoffnung.
Es gibt nichts, was sein muss, aber alles, was sein kann!
Sie drehte sich um und ging den Weg entlang, der vom Hof aus zu den Feldern führte, ein wenig unsicher, ob sie Paul wohl erkennen würde. Bisher kannte sie sein Aussehen nur von einem Foto, das er ihr in seinem ersten Brief geschickt hatte.
Aus einiger Entfernung kam ihr jetzt ein Traktor entgegen und Gerdi wurde peinlich bewusst, dass sie ihre Brille nicht aufgesetzt hatte. Wenn sie Paul überhaupt erkennen konnte, dann sicher auch nur, wenn er schon direkt vor ihr stand.
Sie war noch immer dabei, ihre Unsicherheit und wirren Gedanken zu sortieren, als ihr bereits zwei blaue Augen und ein breites gewinnendes Lachen entgegen strahlten.
„Griaß di, guat dass’d do bisch! Gang scho vor an Hof, i komm glei’!“
Sie drehte um.
Gerdi lief und Paul fuhr nach einem kurzen Abstecher übers Feld, ebenfalls dem Hof entgegen.
Als er dort angekommen vom Traktor stieg, groß und kräftig, kariertes Hemd, kurze Hose und noch kürzere kupferrote Haare auf dem Kopf, eine Pfeife lässig im Mundwinkel und barfuß, blickte er direkt in Gerdis lachende Augen.
Und Gerdi sah auch ohne Brille, dass dieser Mann ihr gefiel.
Paul streckte ihr zum Willkommen herzlich beide Hände entgegen und nahm sie mit sich in die Küche, um für sie beide Kaffee zu kochen.
Der erste Blick, den Gerdi in die alte Küche auf Weilersried warf, sollte sich ihr unauslöschlich ins Gedächtnis brennen und schlüpfte noch im Moment der ersten Begegnung mitten hinein in ihr Herz.
Die dämmrige Geborgenheit, die von den dunklen Holzwänden und alten Schränken ausging und sich mit dem gedämpften Licht vermischte, das beharrlich durch dichtes Blattwerk umgebender Bäume sickerte und verstohlen durch die Küchenfenster schlüpfte, umfing Gerdi mit einer heimeligen Behaglichkeit. Die Küche nahm sie auf und war ihr erstaunlich vertraut, so als hätte sie diesen Raum schon immer gekannt.
Die von unzähligen Schritten ausgetretenen Stellen der dunkel gestrichenen Dielen, an denen das bloße Holz zum Vorschein kam, schienen ihr alte Ahnengeschichten zuzuflüstern.
Vom Spülstein zum Herd, vom Herd zum Tisch, zur Tür und zurück zum Spülstein, zum Herd und wieder zur Tür … spannen sich die Erinnerungen.
Einen Moment lang schloss Gerdi die Augen.
Wie in einer plötzlich auftauchenden Vision sah sie vor ihrem inneren Auge alte Frauen in langen Gewändern und fleißige Hände, die zugriffen. Sie lauschte flinken Schritten und vernahm das leise Tappen nackter Kinderfüße auf den Holzbohlen. Sie roch den dampfenden Kartoffelgeruch und Fettgebackenes, heiße Milch und beißenden Tabakqualm alter Männer, der von der langen Sitzbank unter dem Fenster zu ihr herüber quoll.
Die Küchengeschichten, die dieser Raum ihr erzählte, überschlugen sich und umwoben sie. Geschichten und Bilder vergangener Zeiten kullerten ihr zu Füßen und baten sie schmeichelnd, den leeren Platz in dieser Stube zu füllen. Sie forderten sie auf, das Feuer im großen Kochofen wieder anzuzünden, die Fenster weit zu öffnen, zu backen und zu kochen, damit ein neuer und doch uralter Geruch von Wohnlichkeit und Wärme wieder durch das Haus wehen könne.
Dieser alten Küche, dem Herzstück des Hauses, war Gerdi ohne Vorwarnung schutzlos ausgeliefert.
Und vor ihr stand Paul. Ein Mann, der ihr zunehmend gefiel mit seiner ruhigen Gelassenheit und einem vertrauensvollen Lächeln, und hielt sie mit seinen Augen fest. Passend zur Haarfarbe sprenkelten unzählige Sommersprossen sein Gesicht.
Er reichte ihr eine dampfende Tasse Kaffee und fragte mit bübisch gespieltem Unschuldslächeln, ob er ihr vielleicht ein „Busserl“ auf die Backe geben dürfe.
Das war schon harter Tobak, den Paul da ins Gefecht führte und Gerdi, die auf plumpe Anmache, auf „Busserln“ jeglicher Art von fremden Männern und vorschnelles Jagdverhalten grundsätzlich schroff oder brüskiert reagierte, erkannte sich selbst kaum wieder. Sie lachte Paul an, fiel ihm um den Hals und küsste ihn selbst.