Читать книгу Von diesem Sommer bis zum nächsten - Susanne Margarete Rehe - Страница 8

Zweites Kapitel

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Gerdi saß in ihrem Zimmer und hatte die zerpflückten Einzelteile der örtlichen Tagespresse um sich versammelt. Die Morgensonne spielte auf ihrem schulterlangen hennagefärbten Haar. Zwischen einer Mahagoni-Tönung versteckt, verrieten einige orange leuchtende Strähnen überdecktes Silbergrau.

Gerdi wirkte wesentlich jünger, als sie tatsächlich war. Kaum jemand schätzte sie auf ihr wirkliches Alter. Sie war keine schöne Frau im eigentlichen Sinne, aber sehr weiblich, attraktiv und beeindruckend in ihrer Lebendigkeit. Ihre Körpergröße und kraftvoll zupackende Art standen in reizvollem Gegensatz zur Feingliedrigkeit ihrer schlanken Arme, den schmalen Gelenken und dem langen, schön geformten Hals. Die Gegensätzlichkeit, die Gerdis Körper in sich vereinte, schien ein Spiegelbild ihrer Persönlichkeit zu sein.

Träge blätterte sie in der Zeitung, fischte lustlos die Rubrik „Kontaktanzeigen“ heraus und las.

„Er sucht Sie“ – gepaart mit einem kleinen Schuss Hoffnung schien das Lesen der Annoncen fast so gut wie eine Kombi-Packung Filmtabletten gegen freudlose Nächte und entsetzlich einsame Wochenenden.

Langsam tickerten die Anzeigen durch Gerdis Kopf in Richtung Barometer.

Ihr Bauchbarometer war genau an der Stelle angesiedelt, wo empfindliche Schläge die Magengrube treffen konnten. Ein kleines seismographisch genaues Frühwarnsystem hatte sich dort eingenistet, und Gerdi hatte es ausreichend erprobt in einem bewegten Leben.

Die Messskala „Partnersuche“, an der die Kontaktanzeigen vorbei tickerten, reichte dabei von „nichts sagend“ über „vielleicht – mal sehen“ bis hin zu „Volltreffer“.

Nur blieb der Zeiger fast ohne Ausnahme auf der Negativseite hängen. Manchmal schlich er aber doch zögernd weiter. Fast unmutig quälte er sich dann in den grünen Bereich, sodass Gerdi schon beim bloßen Nachspüren die Lust verließ.

Warum suchen eigentlich so viele Männer eine Frau zum Pferdestehlen?

Trauen die sich alleine nicht?

Warum hält keiner ein Pferd bereit, um mit seiner Herzdame übers Land zu reiten?

Aber vielleicht gehört das ja auch zu den Dingen, die ich nicht verstehe … zu wörtlich, zu ernst genommen … eindeutiger Verstoß gegen die Spielregeln!

Es gibt keine Ritter, keine hingebungsvollen Helden, einfach nur: Er sucht Sie!

Ist das so schwer zu kapieren, Gerdi?

Ach nein, danke! Nicht noch mehr Halbheiten!

Sie legte den Anzeigenteil zusammen und versuchte, das Zeitungschaos halbwegs zu ordnen. Es war Sonntagmorgen, Zeit noch ein wenig zu dösen. Vom Stall her drang durch das gekippte Fenster gedämpft der tiefe kehlige Ruf einer Kuh, die vor kurzem als letzte aus der Mutterkuhherde gekalbt hatte und jetzt nach ihrem Nachwuchs rief.

Ausgestreckt auf ihrem Bett fixierte Gerdi die Maserung der Holzdecke über sich. Schläfrig schlüpften ihre Gedanken hinauf zu den alten Balken und Bohlen. Sie verloren sich in den Spalten, verschwanden in den Rissen.

Auf wie viele Bewohner hatte diese alte Decke eigentlich bereits herabgesehen? Wie viele Leben waren unter ihr geboren und gelebt worden? Wie viel Freude, wie viel Leid und Hoffnung sind im Blick der Augen zu ihr hinaufgewandert?

Vielleicht hatte die Last dieser verflossenen Geheimnisse sie mittlerweile müde gemacht, da sich die Decke zur Mitte des Zimmers hin merklich senkte. Vielleicht neigte sie sich aber auch den Menschen zu, tröstend und erstaunt über deren große und kleine Dummheiten, ihre Liebesnächte und verzweifelten Tränen. Und wäre es ihr möglich gewesen, sie hätte sicher ihren schweren, hölzernen Kopf geschüttelt über die Unrast, mit der die Menschen unter ihr lebten. Sie verstand die Menschen nicht. In ihrer jeweils eigenen Art waren sie einander zu fern, obwohl nur ein wenig Luft sie trennte.

Es war aber ein leises Ahnen in ihr, – tief drinnen zwischen ihren Holzfasern, dort wo die Langsamkeit der Zeit manchmal noch ein kurzes, trockenes Knacken hervorbrachte –, dass der Menschen Unruhe und Drang nach Veränderung der kurzen Verweildauer entspringen mochten, die ihnen auf dieser Erde gegeben war.

Sie hingegen hatte schon ein ganzes langes Leben gelebt, bevor sie in dieses Haus kam und bevor sie hier zu ihrer neuen Bestimmung fand.

Jetzt war auch das Haus schon alt geworden, sehr alt und noch immer war ihr Ende nicht in Sicht.

Aber ganz allmählich nagte die Zeit auch an ihr. Sie wurde noch ein bisschen dunkler, zerfalteter und geriet ein wenig aus den Fugen.

Das Alter formte sie – zärtlich, aber bestimmt.

„Gerdi!?“

Langsam drängte sich ihr Name ins dämmernde Bewusstsein.

„Gerdi, bisch du in dei’m Zimmer?“

Sie war eingeschlafen gewesen.

Paul stand unten im Hof und rief nach ihr. Er wollte fahren.

Gerdi sprang auf, lief noch etwas benommen vom Schlaf zum Fenster und rief hinunter:

„Ja, bin ich. Warte kurz, ich komme gleich!“

Sie rieb sich einen Rest Schläfrigkeit aus den Augen und zog den dicken grauen Pullover über. Es war ihr Arbeitspullover. Der hatte sie nun schon viele Jahre begleitet. Auf jedem Hof, auf jedem Acker war er dabei gewesen. Gute Wolle, fest gesponnen und doppelt verstrickt, sodass kein Wind durchpfiff, auch wenn er ihr oftmals heftig ins Gesicht blies.

Heute lockte draußen eine verführerische Sonne von einem blau weißen Himmel, aber es war noch recht kühl. Ein frischer Ostwind trieb die letzten Winterfetzen vor sich her, fegte sie spielend übers Land und hielt hier und da vereinzelte Schneewehen lebendig, die sich in schattigen Gräben festgesetzt hatten.

Paul saß bereits im Auto und wartete.

Gerdi zog die Haustüre hinter sich zu, sprang mit einem Satz die drei Stufen hinunter, lief zum Wagen und setzte sich neben Paul.

Die beiden fuhren entlang der Felder, die nahe am Hof lagen und weiter zu den entfernter gelegenen Äckern. Immer wieder hielt Paul an, sie stiegen aus, zogen junge Getreidepflanzen aus dem Boden, begutachteten deren Bestockung und prüften die Bodengare und Durchwurzelung.

Das Wintergetreide stand bereits recht ordentlich da, ein sattes Grün wechselte sich ab mit dem Braun fetter Erde.

Die schüchterne Wärme der Sonne an diesem frühen Apriltag zauberte einen milchig dunstigen Schleier über die Weite der Ebene, auf der die Felder in weitem Umkreis verteilt lagen und überzog die Landschaft mit sanften Pastelltönen. Altrosa, Zartgrün, Blassblau und Schlüsselblumengelb mischten sich zu einem perfekten, großartigen Bild. Aus der Ferne schimmerten silbrig hell die Weiden eines Auenwaldes herüber, den Horizont säumten entfernte Hügelketten.

Beim Anblick der Riedlandschaft, die reizvoll in ihrer Offenheit und Weite vor ihr lag, machte Gerdis Seele einen Sprung und flog hinter einer kleinen Schar früh zurückgekehrter Stare her, die mit ihrem glänzenden Gefieder durch das klare, kalte Blau segelten.

Mit den ersten Zugvögeln war auch ein wenig mehr Leichtigkeit in Gerdis Welt zurückgekehrt. Die schweigende Starre des langen Winters hatte dem lebendigen Treiben und Werben der gefiederten Gesellen Platz gemacht. Ihr aufgeregtes Gezwitscher durchzog die hellblaue Vorfrühlingsluft gleich den bunten Bändern, die bald wieder an den Maibäumen in den Dörfern flattern würden. Das geschäftige Hüpfen und Zirpen in jedem Busch weckte ihre eigene Lust auf Bewegung und die Freude darauf, wieder im Garten und auf dem Feld zu arbeiten.

Hey, da seid ihr ja wieder, ihr kleinen Vaterlandsverräter!

Die härteste Zeit im Jahr habt ihr uns hier selbst überlassen. Keine sehr feine Art, wenn auch verständlich.

Aber wo kommen wir denn hin, wenn jeder gleich die Flucht ergreift?

Sie atmete tief, als könne die Luft nicht nur ihre Lungen, sondern auch ihr Herz mit Zuversicht füllen.

In Momenten wie diesem glaubte sie, dass ihre Entscheidung, hier geblieben zu sein, richtig war. Sie schaute sich nach Paul um, drehte bei und setzte zur Landung an, mitten hinein in die Wirklichkeit und in die dicke Qualmwolke seiner Havanna.

Paul, ein großer Mann mit einem charmeurhaften Lächeln unter dem Dreitagebart, ließ gerade eine Handvoll feinkrümeliger Erde durch seine langen Finger rieseln und sah nachdenklich in den Himmel, nach Westen – dahin, wo für gewöhnlich das Wetter herkam.

„A baar trock’ne Dag no’ ond mer koa zum Hacken raus fahr’n, oder? Was moinsch’d?“, fragte er Gerdi.

„Mir soll’s recht sein. Besser, wir legen los, sobald es geht. Wer weiß, wie lang es noch gut bleibt.“

„Früh dran sin’ mer heuer. So war’s scho’ lang net mehr. ’s koannt’ sei, dass es net ganz schlecht wird …“

„Na ja, wir schauen mal, ob das Wetter mitspielt. Wegen mir kann es losgehen.“

Ja, das Wetter!

Es hatte sie während der gesamten Ernte im vergangenen Herbst nicht im Stich gelassen.

Ein langer goldener Herbst war es gewesen. Kaum ein Regentag hatte sich in die Erntezeit geschoben. Sie hatten das Wurzelgemüse und die Zwiebeln trocken und sauber ins Lager gebracht. Ein glücklicher Umstand war es gewesen, der während der Winterarbeiten im Gemüselager ihre Arbeit enorm erleichterte.

Noch sehr gut erinnerte sich Gerdi an ihr mulmiges Gefühl beim ersten Anblick der riesigen Erntemengen, die mit jeder weiteren Hängerladung Gemüse zu meterhohen langen Halden in der Lagerhalle aufgeschüttet wurden.

Sie konnte sich damals nur schwer vorstellen, dass diese gewaltigen Mengen Gemüse irgendwann einmal gewaschen, sortiert, abgepackt und verkauft sein würden. Nach vielen langen und kalten Wintertagen am Fließband und an der Waschanlage wusste sie es besser.

Die letzte Erntezeit war brechend voll gewesen mit Arbeit. Trotz allem aber waren es für Gerdi bessere Zeiten als heute. Damals gab es noch eine Liebe zwischen Paul und ihr, wenn auch eine ungewöhnliche.

Es war die Zeit, als Gerdi auf Pauls Hof gezogen war.

So wie heute, war es auch früher immer auf ihren Feldrundfahrten.

Die kleinen Gespräche über das Wetter, das Erwägen, wie sich Arbeit und Ernte entwickeln würden und Pauls vertrauter Ausspruch, dass es „net ganz schlecht sei“. Nicht ganz schlecht – das hieß immer: wir haben gemacht, was wir konnten, und wir haben versucht, das Beste daraus zu machen. Es hieß auch, sich kleine Fehler verzeihen zu können, Zugeständnisse an die eigene Unzulänglichkeit zu machen und mit dem Wettergott, dem unzuverlässigen Mitstreiter, seinen Frieden zu schließen.

Nicht ganz schlecht!

In diesen drei Worten steckte auch eine Hoffnung und hinter der Hoffnung verborgen saß die Angst – eine alte menschliche Angst vor Not, vor Armut und Verlust.

Nicht, dass sich Pauls Angst in den Vordergrund gedrängt hätte, nein, sie war vielmehr ein Teil des Motors, um weiterzumachen, um täglich das komplexe Hofgefüge mit all der Arbeit und Verantwortung, die daran hing, zu stemmen und weiter zu entwickeln. Für Paul war die Angst gewissermaßen eine seiner Antriebsfedern, mit deren Zugkraft er den Hof zu dem gemacht hatte, was er heute war.

Ihr gemeinsamer Austausch über den Zustand von Getreide und Gemüse, über die Entwicklung der Kartoffeln, der Zwischenfrucht und Grünbrache, über die Beschaffenheit und Pflege des Bodens war ihnen beiden wichtig.

Paul war Bauer mit Leib und Seele. Er war immer bestrebt, seinen Betrieb und den Erfolg seiner Arbeit zu optimieren. Es machte ihm Spaß, Neues auszuprobieren. Und umso wichtiger war es, genau hinzuschauen, was sinnvoll war oder was er verändern musste, wie Arbeitszeit eingespart und Arbeitsabläufe erleichtert werden konnten.

Ihre vielen kleinen Gespräche brachten neue Erkenntnisse und warfen Fragen auf.

Die Fragen halfen Paul, seine Erfahrungen zu sortieren und die richtigen Maßnahmen zu ergreifen. Ihre Gespräche waren ein Teil ihrer gemeinsamen Arbeit – der Arbeit, die Gerdi und Paul noch immer miteinander verband.

Paul hatte Gerdi vom ersten Tag ihres Kennenlernens an in seine Arbeit eingebunden.

Ihre Meinung war ihm nicht nur wichtig, mehr noch: es war der Austausch, den er nach Jahren des alleine Wirtschaftens auf seinem Hof gebraucht hatte.

Paul war fast fünfzig Jahre alt. Sein Leben lang war er Bauer gewesen. Als Ältester der fünf Geschwister hatte er den elterlichen Hof und mit ihm auch die Lebensaufgabe, die damit verbunden war, übernommen.

Paul hatte zusammen mit seiner früheren Frau, den drei Söhnen und der inzwischen verstorbenen Mutter auf dem Hof gelebt. Die Söhne waren längst erwachsen. Einer nach dem anderen hatte der Landwirtschaft den Rücken gekehrt. Pauls Ehe war nach endlosen Streitereien endgültig gescheitert und geschieden worden. Seine Frau war weggezogen. Sie hatte nach der Scheidung den Hof ihrer eigenen Eltern übernommen und Paul blieb zurück, allein.

Weilersried war ein Erbhof und gehörte seit vielen Generationen Pauls Familie.

Er lag auf altem fruchtbarem Bauernland und war zu einer Seite umsäumt von bewaldeten, sanft abfallenden Hügelketten. Zur anderen Seite hin öffnete sich das Land in die weite Niederung einer Flusslandschaft. Und über all dem spannte sich ein großartiger Himmel, der mit seinem Licht die Farben der Landschaft ungewöhnlich leuchtend hervorhob und sie an dunstigen Tagen mit einem zarten Schleier überzog und verzauberte.

Für Gerdi war es ein wunderschöner Fleck Erde, in den sie sich vom ersten Blick an verliebt hatte.

Kleine alte Bauernhäuser, einfach und niedrig gebaut, mit angrenzenden Scheunen, Ställen und Gärten säumten die gewundenen weiten Dorfstraßen. Die mit Liebe angelegten bunten Gärten, gepflasterte Innenhöfe, kunstvolle alte Taubenschläge und gepflegte Kirchplätze entwarfen ein fast malerisches Bild.

In Gerdi weckte diese Gegend ein heimeliges Gefühl und zugleich ihren alten Traum von einem Platz, an dem sie geschützt und zuhause sein konnte. Es war ihre insgeheime Sehnsucht nach einem Ort, an dem die Welt noch in Ordnung war.

Paul hatte schon immer auf Weilersried gelebt und gearbeitet. Als Bauer war er tief verwurzelt mit Landschaft und Menschen. Dieses Leben hatte ihn geprägt wie kein anderes. Von Paul ging eine bodenständige Sicherheit und Gelassenheit aus, die Gerdi in einen fast magischen Bann zog. In Paul fand sie, was ihr in ihrem Leben schmerzlich gefehlt hatte.

Sie war wie ein Blatt im Wind und er der Boden, auf den sie fiel.

Mit ihrem unruhigen, bewegten Leben schien Gerdi das schiere Gegenstück von Paul zu sein. Und wäre nicht schon lange das tiefe Bedürfnis nach Beständigkeit, nach Ursprünglichkeit, dem engen Verbundensein mit der Natur und deren Gesetzmäßigkeiten in ihr gereift und hätte sie nicht vor vielen Jahren diesen Weg eingeschlagen und verfolgt, sie wäre nie in die Landwirtschaft gegangen.

Paul und sie wären einander niemals in solch tiefem Einvernehmen begegnet, wie vor fast einem Jahr.

Sie, Gerdi, das Großstadtkind und Paul, der Bauernsohn – zwei Leben, wie sie unterschiedlicher kaum hätten sein können.

Von diesem Sommer bis zum nächsten

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