Читать книгу Von diesem Sommer bis zum nächsten - Susanne Margarete Rehe - Страница 7
Erstes Kapitel
ОглавлениеDer frisch aufgeschüttete weiße Kiesweg zog in einer geraden Flucht zwischen Maisfeldern hindurch, deren Pflanzen einen stattlich gewachsenen Mann bei weitem überragt hätten.
Wie in jedem Jahr geriet Gerdi auch diesmal wieder ins Staunen über die gewaltigen Stauden, die der Riedboden hervorbrachte. Wie die Wurzeln kleiner Mangroven hob ein vielgliedriges Wurzelwerk die kräftigen Stängel der Pflanzen über die Oberfläche des feinen Lößbodens hinaus und gab ihnen Halt.
Gerdi löste sich von Hannas Arm und ging über die höher stehende Grasnarbe am Wegrand hinweg einige Reihen weit ins Feld hinein. Sie schaute nach oben und sah die braunen Fahnen der reifen Maispflanzen leise über ihrem Kopf im Wind wogen.
Aufs Neue begeistert über den kräftigen Wuchs der Pflanzen rief sie ihrer Enkeltochter zu:
„Schau her, Hanna, es ist unglaublich! Die größten Pflanzen sind fast drei Meter hoch! Man fühlt sich hier drinnen ein wenig wie ein Zwerg im Urwald. Komm, lass uns zusammen ein bisschen zwischen den Maispflanzen hindurch gehen!“
„Nein, warte noch einen Moment! Lauf nicht gleich so weit hinein! Ich will erst noch ein Foto von dir machen – ein Bild von meiner Zwergen-Oma im Maisfeld.“
Gerdi blieb stehen, wandte sich Hanna zu und zog zwei Stauden vor ihrer Brust zusammen. Dann steckte sie lachend ihr Gesicht hindurch. Mit dem silbrig schimmernden Haar in der grünen Blattumrandung sah sie tatsächlich gnomenhaft aus. Sie streckte Hanna in dem Moment, als sie auf den Auslöser drückte, die Zunge und eine lange Nase entgegen.
Hanna verstaute ihre Kamera und lief mit gespielter Empörung auf ihre Großmutter zu.
„Na warte, ich kriege dich!“
„Kriegst mich eben nicht!“, kam es übermütig aus dem Maisfeld zurück.
Gerdi hatte Hannas Spiel aufgegriffen und war bereits davon gelaufen. Ein wenig unbeholfen sprang sie zwischen den Reihen der Maispflanzen hin und her und war bemüht, der jungen Frau zu entkommen. Während sie versuchte, stets einige Pflanzen zwischen sich und Hanna zu bekommen, damit diese sie nicht packen konnte, lag Gerdis Blick mit Genugtuung und Freude auf ihrer Enkeltochter. Hanna lief leichtfüßig, mit einem erhitzten Gesicht unter den langen dunkelblonden und leicht gewellten Haaren hinter ihr her. Die Sommerbräune ließ ihre blauen Augen noch heller erscheinen, als sie es ohnehin schon waren.
Hanna war eine junge Frau Anfang zwanzig. Sie hatte sich eine anmutige und kindhafte Art bewahrt, die ungezwungen und in einer natürlichen Weise zum Ausdruck kam.
Mit einem langen Satz und einem triumphierenden „Ha, ich hab dich!“ bekam Hanna ihre Großmutter schließlich am Arm zu packen und umtanzte sie mit gespieltem Indianergeheul bis Gerdi, vor Lachen und Anstrengung gänzlich außer Puste, nach „Gnade!“ rief.
In ausgelassener Stimmung traten die beiden Frauen wieder auf den Feldweg hinaus und setzten ihre Wanderung durchs Ried fort.
Die Sonne des späten Sommertages wärmte ihnen den Rücken und Hannas Haar wurde vom auffrischenden Wind in alle Richtungen geweht. Gerdi schlug sich ein leichtes Wolltuch aus orangefarbenen, gelben und roten Farbtönen um die Schultern, um ihren erhitzten Körper zu schützen. Dabei ruhte nun Hannas Blick auf ihr.
„Oma, es steht dir gut, das Tuch. Sehr gut schaust du aus damit!“
„Vielen Dank, dein Kompliment weiß ich zu schätzen! Und ich kann es auch gleich an dich zurückgeben. Allerdings mit dem kleinen Unterschied, dass du für dein Aussehen noch nicht einmal ein schönes Tuch brauchst. Du wärst sozusagen auch in Sack und Asche noch überaus hübsch.“
Hanna strahlte ihre Großmutter an.
„Na also, so gefällst du mir schon besser!“, lächelte Gerdi sie an, „ich bin froh, dass du dein Lachen doch nicht ganz verloren hast. Ich hatte mir schon Sorgen gemacht um dich.“
„Ja, ich weiß. Das tut mir auch leid“, sagte Hanna etwas verlegen.
Sie warf einen kurzen Seitenblick auf ihre Großmutter, bevor sie weiter sprach.
„Und – eigentlich weiß ich auch gar nicht wirklich, was in mir drin passiert ist … nur, dass ich in meinem ganzen Leben noch nie einen solchen Schmerz erlebt habe. Ich wusste einfach nicht, wie weh es tun kann, wenn eine tiefe Beziehung zerbricht. So etwas hatte ich noch nie zuvor erfahren.
Weißt du, es gab natürlich auch früher Freundschaften, die nicht gehalten haben. Das war aber mehr ein Ausprobieren gewesen, als ein wirkliches aufeinander Einlassen.
Das, was jetzt passiert ist, war etwas anderes. Die Trennung hat eine Wunde in mir hinterlassen, die noch lange wehtun wird. Ich glaube, um den Schmerz überwinden zu können, brauche ich noch Zeit … viel Zeit.“
„Ja, Hanna, du brauchst Zeit. Zeit braucht es immer, um wieder heil zu werden.
Aber ob es dafür viel oder wenig Zeit braucht, ist relativ. Es hat vielmehr damit zu tun, was in der Zeit, die vergeht, geschieht und ob du verstehen und auch annehmen kannst, was das Leben in jedem Moment dieser Zeit dir zeigt.
Auch die Tage, die wir beide hier im Ried noch miteinander verbringen werden, sind ein Teil dieser Zeit. Lass dich ganz einfach überraschen!“
Hanna sah nachdenklich aus.
Dann blieb sie stehen, nahm Gerdis Hände und hielt beide fest.
„Weißt du“, sagte sie leise, „ich bin sehr froh darüber, dass du mich diesen Sommer wieder einmal mit hierher genommen hast. Danke! Ich fühle jetzt schon, dass es gut ist.“
Sie nahm ihre Großmutter zärtlich in den Arm und drückte ihr ein bisschen verlegen einen dicken Kinderkuss auf die Wange.
Gerdi sagte nichts, sie sah ihre Enkeltochter nur an mit einem Blick, wie er für gewöhnlich von Erwachsenen auf Kindern ruht, und nickte kaum wahrnehmbar. Es schien, als würde sie einem inneren Gedanken Zustimmung verleihen. Dann strich sie Hanna ordnend die wilden Strähnen aus dem Gesicht.
Die beiden Frauen setzten ihren Weg fort, begleitet vom hellen Gezwitscher der Feldlerchen. Der Gesang der kleinen Vögel glich ihrem Fluge, der sich unvermittelt weit in die Lüfte hinaufschwang und dann im plötzlichen Fall in einem taumelnden Auf und Ab über die Felder zog.
Hanna wandte sich erneut an Gerdi:
„Sag mal, warum fährst du eigentlich jedes Jahr hierher? Ich meine, es ist schön hier, sehr schön, das ist keine Frage, aber es gibt doch noch andere schöne Landschaften. Die Berge zum Beispiel! Wir könnten doch mal gemeinsam in die Berge fahren oder ans Meer … das wäre auch schön!“
Gerdi lachte und zwinkerte Hanna zu.
„Ja, du hast schon Recht. Natürlich gibt es andere und sicherlich genauso schöne Gegenden, nur – mit diesen Landschaften verbindet mich nichts.
Wenn ich aber hierher komme, ins Ried, erfüllt mich die Landschaft, wie keine andere es vermag. Es ist, als tauchte ich ein in einen Teil meines Lebens, der mir einmal sehr viel bedeutet hat.“
„Was meinst du damit? Was hat dir hier viel bedeutet?“
„Ach, Hanna!“, die Gedanken schienen Gerdi davon zu tragen. Sie lächelte ein wenig in sich hinein und schloss für einen Moment die Augen.
„Das ist eine lange Geschichte … und sie hat begonnen vor langer Zeit – ich glaube, es war in dem Jahr, als du zur Welt kamst.“
Gerdi machte eine Pause und überlegte, wie sie weitersprechen sollte.
„Weißt du, so wie jetzt bei dir, lag auch bei mir damals der Schmerz einer zerbrochenen Liebe hinter mir. Damals hatte ich geglaubt, hier unten, in dieser Gegend ein neues Glück und einen neuen Anfang finden zu können. Und tatsächlich begann hier im Ried auch ein neues Kapitel meines Lebens, allerdings in einer ganz anderen Weise, als ich es mir gewünscht hatte und mir jemals hätte vorstellen können.“
„Jetzt hast du mich aber neugierig gemacht. Erzähl weiter! Erzähl mir von dir!
So, wie du mir früher oft erzählt hast, als ich noch klein war. Weißt du noch?
Bloß damals hab ich dir öfter mal nicht so gern zugehört. Daran kann ich mich zumindest noch erinnern. Ich weiß nicht mehr genau, weshalb das so war, aber ich glaube, du bist mir manchmal zu ernsthaft und irgendwie streng erschienen.
Aber jetzt ist es – naja, eben anders geworden. Jetzt will ich etwas wissen von dir!
Und ich bin mir auch sicher, dass du Vieles weißt, was vielleicht gerade jetzt wichtig sein könnte für mich.“
„Ja, ja – ich weiß, wovon du sprichst“, entgegnete Gerdi, „du hattest schon als kleines Kind immer deinen eigenen Kopf und der kollidierte eben manchmal mit meinem Eigensinn. Das hab ich natürlich ebenfalls gemerkt, Hanna, und manchmal hat es mir schon auch den einen oder anderen Stich versetzt – das hast du sehr wohl vermocht.
Aber ich war mir immer sicher, dass dir meine Art nicht schaden wird und dass du daran ruhig auch wachsen darfst.“
Gerdi schaute Hanna ein wenig verschmitzt an.
„Und außerdem bist du heute ja auch kein Kind mehr. Eine junge Frau bist du geworden. Wie schnell die Jahre vergangen sind!
Du bist jetzt gerade alt genug geworden, um die Türe zu dem langen Frauenleben, das noch vor dir liegt, öffnen zu können. Und ich – ich stehe dir heute mit meinem Alter genau gegenüber, gewissermaßen auf der anderen Seite.“
Sie schwieg, unsicher, ob Hanna verstehen könne, was sie ihr sagen wollte.
Und als Gerdi wieder zu sprechen begann, war Hanna sich nicht sicher, ob die Worte ihr galten oder ob ihre Großmutter zu sich selbst sprach.
„Zwischen uns beiden liegt fast ein halbes Jahrhundert an Lebensjahren als Frau mit vielen Höhenflügen und Abstürzen, mit Sehnsüchten, Liebe, mit Wissen und Hoffnungen, mit Lust und mit Schmerzen und allem, was nun mal zu einem erfüllten Leben dazu gehört.
Und ich, hier auf meiner Seite, öffne gerade ebenfalls die Türe zu einem Neuland.
Aber hinter meiner Türe wartet etwas ganz Anderes auf mich.
Hinter meiner Türe wartet die Erfahrung des Alters, das Vergessen und das Verschwimmen von Gestern und Heute.
Ich weiß, dass mit dem Verrinnen der Zeit auch meine Erinnerung an die vergangenen Tage verblassen wird. Und vielleicht wird eines Tages das Vergessen all diese gelebten Jahre in eine sanfte Decke hüllen. Alte Wunden werden dann endgültig ihren Schmerz und ihren Sinn verlieren, und vielleicht wird auch irgendwann mein Verstand das Erkennen und die Handlung nicht mehr miteinander verknüpfen können.“
Jetzt war Gerdi stehen geblieben und griff nach Hannas Händen.
Im Gesicht der jungen Frau sah Gerdi bei ihren letzten Worten die Bestürztheit einer unbedarften Jugend, aber sie sah auch die Reife, die Hanna brauchte, um ihrer Großmutter weiter zuzuhören.
„Ich glaube, du bist tatsächlich alt genug, um zu hören, was mich vor vielen Jahren hierher, in diese Gegend geführt hat und was mich hier hielt. Vielleicht ist genau jetzt der Zeitpunkt gekommen, um dir die Geschichte meines Lebens zu erzählen, bevor sie sich verliert in einem Vergessen, aus dem ich sie nicht wieder zurückholen kann.
Weißt du, Hanna, mein Leben ist nicht mehr oder weniger bedeutsam als irgendein anderes Frauenleben. Und vor allem weiß ich heute, dass es im Leben nicht so sehr darauf ankommt, was ich erreicht habe und welche Ziele ich verwirklichen konnte. Je älter ich wurde, umso wichtiger ist mir geworden, wie ich etwas erreicht habe und welche Wege ich gegangen bin, um zu meinen Zielen zu gelangen.
Und mir ist nicht länger nur das Erreichte selbst wichtig, sondern das, was davon blieb und was daraus geworden ist.
Gewachsen ist vor allem mein Bewusstsein und auch das Erkennen und Einordnen ganz wesentlicher Erfahrungen. Auch das Empfinden einer Verantwortlichkeit, die einzig mich meint, ist gewachsen und die Liebe zu den Menschen, die mir viel bedeuten und für deren Leben auch ich eine Bedeutung habe.
Und noch etwas Anderes ist gewachsen: Mein Verständnis für die Fügungen des Lebens, die mir die Gewissheit geben, dass Menschen und Situationen, denen ich begegne, genau die Richtigen sind, um das Leben in allen Facetten für mich erfahrbar machen zu können.
Diese Erkenntnis hat meinen Blick geschärft und meinen Geist wach gemacht, sodass ich die weiten Bögen, die alle Stationen meines Lebens miteinander verbinden, begreifen kann als etwas, das einander bedingt.
Vielleicht bist auch du, Hanna, jetzt nicht nur mit mir hierher ins Ried gekommen, um dich vom Schmerz deiner ersten zerbrochen Liebe zu erholen, sondern weil es Zeit geworden ist, deinen Platz zu sehen in einer langen Reihe von Frauenleben beider Familien, aus denen du stammst.
Und vielleicht auch deshalb, weil du heute an einem Wendepunkt deines Lebens angekommen bist, der nach Orientierung verlangt und einem Neubeginn vorangeht.
Du bist noch ganz jung, Hanna, aber doch mittlerweile erwachsen geworden.
Und du gestaltest dein Leben jetzt selbst.“
Du triffst deine Entscheidungen, egal, ob sie richtig oder falsch sind. Du wirst die Aufgaben, die sich dir stellen, erkennen und du wirst sie annehmen oder auch nicht. Du bist frei, alles zu tun, was auch immer du wünschst.
Und weil das so ist, Hanna, gibt es auch nichts mehr, wovor deine Eltern oder ich dich noch wirklich beschützen könnten. Dein Glück und deine Schmerzen werden kommen und sie werden vergehen und wieder kommen.
Diese sich ewig drehende Spirale mit ihrem Auf und Ab ist gleichzeitig Qualität und Aufforderung des Lebens, das dich prägen wird und es bereits von deinem ersten Atemzug an getan hat.
Das Einzige, was ich tun kann, und wozu ich mich auch verpflichtet fühle, ist, dich teilhaben zu lassen an meinem Leben, an meinen Erfahrungen und an meiner Liebe für dich.
Was du dir davon nehmen willst, liegt einzig in deiner Freiheit und Entscheidung.
Die Gedanken, die sich ihr zuletzt aufgedrängt hatten, sprach sie nicht aus.
Es waren die Gedanken einer Rückblickenden.
Hannas Leben sollte frei sein von der Last des Wissens. Ein ganz junges Leben war es noch, unbefangen und voller Lust auf Herausforderung. Dem Wissen und der Zukunft würde sie in ihrer Weise entgegen wachsen.
Hannas abwartender Blick ließ Gerdi weiter sprechen.
„Wenn du es wirklich willst, dann will ich dir gern meine Lebensgeschichte erzählen.“
Gerdi brauchte nicht lange auf Hannas Antwort zu warten.
Hanna war längst schon angesteckt, von der Intensität und Offenheit, mit der ihre Großmutter zu ihr gesprochen hatte. Als sie ihr antwortete, schien es, als hätte sie schon lange auf diese Gelegenheit gewartet: „Ja, bitte! Bitte erzähl mir alles, was du weißt – und was du erlebt und erfahren hast!
Ich hab in meinem Leben oft so viele Fragen und meist nur verdammt wenig Antworten drauf. Es gibt so Vieles, was ich nicht verstehe und manchmal, weiß ich einfach nicht, wie Leben geht.
Ich wär dir wirklich dankbar, wenn du mir von deinem Leben erzählst!
Wann sonst würde es besser passen, wenn nicht jetzt? Eigentlich ist es doch so, als wäre es ein Geschenk des Himmels. Wir Zwei haben nämlich gerade alle Zeit der Welt dafür!“
„Ich bin dir ebenfalls dankbar, Hanna!
Dankbar dafür, dass du meine Geschichte hören willst, weil ich weiß, dass der Teil meines Lebens, der für dich bedeutsam ist, sich in irgendeiner Weise auch in deinen Gedanken und Handlungen widerspiegeln wird und dir helfen kann, deinen Weg zu finden. Und schon alleine dafür macht es Sinn, auch die dunkelsten Stunden in meinem Leben gelebt zu haben.“
Einander untergehakt und sich verbunden wissend wanderten die beiden Frauen weiter.
Der Abend hauchte träge seinen feuchten Atem über die Niederung der Flusslandschaft und hüllte sie ein.
Sie gingen langsam, sodass die alte Frau beim Gehen noch genügend Atem fand, um zu erzählen. Und die Junge hörte ihr zu und nahm dennoch in den freien Lücken, die Gerdis schwerfällig gewordenes Gedächtnis zwischen die Worte schob, die Einsamkeit und Stille wahr, die sich mit der aufziehenden Dunkelheit über das Ried legten.