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Tag 1/Ostermontag/Ruf der Wildnis

»Hast du ernsthaft gedacht, du könntest die ganze Woche lang im Wirtshaus herumhocken?«, fragte Mirjam mit hochgezogenen Augenbrauen.

Kastner, seines Zeichens Kriminalhauptkommissar des Dezernats Eins im Polizeipräsidium Mittelfranken und zurzeit im Urlaub, hatte sich gerade erst den Schlaf aus den Augen gerieben und das Frühstücksbuffet in groben Augenschein genommen.

»Hm«, machte er und warf einen Blick auf die bunte Broschüre, die Mirjam auf seinem – ansonsten noch leeren – Frühstücksteller platziert hatte: Freizeittipps rund ums Pegnitztal. Offensichtlich assoziierte der Verfasser des Flyers mit dem Begriff Freizeit ausschließlich körperlich oder geistig anstrengende Tätigkeiten: Klettern, Wandern, Paddeln, Radfahren, Schwimmen, naturkundliche Führungen …

»Wo sind eigentlich die Kinder?«, fragte Kastner, weniger aus Interesse als zur Ablenkung, und schenkte sich eine Tasse Kaffee ein. »Schlafen die noch?«

»Das sind Kinder, Kastner«, erklärte Mirjam mit der aufreizenden Geduld einer Grundschullehrerin. »Die schlafen nicht bis halb zehn, die wollen was erleben. Ich habe schon vor zwei Stunden mit ihnen gefrühstückt, und jetzt koordiniert Jannik draußen im Biergarten die apokalyptische Schlacht diverser Plastikmonster, während Sofie ihm die Welt erklärt.«

»Wunderbar!«, sagte Kastner. »Dann kann ich ja in Ruhe eine Tasse Kaffee trinken und eine Kleinigkeit essen.«

Mirjam trommelte mit den Fingern auf den Wirtshaustisch. »Du hast Claudia dazu überredet, sich für den Höheren Dienst zu bewerben«, erinnerte sie ihn, »und du hast ihr angeboten, während der Schulung ihre Kinder zu beaufsichtigen. Also, bitte: etwas mehr Engagement!«

Sie hatte recht. Claudia Wolfschmidt, eine junge Kriminalhauptmeisterin, hatte Kastner in der Vergangenheit hin und wieder bei seinen Ermittlungen unterstützt und sich dabei als ausgesprochen fähig erwiesen. Um der alleinerziehenden Mutter die Qualifizierung zur Kommissarin zu ermöglichen, hatte Kastner sich als Babysitter angedient; und Mirjam war mit diesem Arrangement aus frauensolidarischen Gründen einverstanden gewesen – was er ihr hoch anrechnete. Dass Claudias letzter Schulungsblock und die abschließende Prüfung in den Osterferien stattfanden, war eine glückliche Fügung: Den Alltag zweier Schulkinder mit dem eines Kommissars und einer städtischen Angestellten in einer quadratmeterarmen Zweieinhalbraumwohnung in der Nürnberger Südstadt zu vereinbaren, wäre, im Nach­hinein betrachtet, sicher schwierig geworden.

Kastner hatte mit seinem Chef, Polizeidirektor Carsten Wismeth, hart darum gerungen, sich über Ostern freinehmen zu dürfen.

»Sie machen mir Spaß!«, hatte Wismeth behauptet und dazu ein Gesicht gemacht, als hätte er in eine Zitrone gebissen. »Erst reden Sie der Wolfschmidt ein, sie müsse Kommissarin werden, und jetzt wollen Sie auch noch Urlaub?«

Kastner wusste genau, was Wismeth missfiel: Claudia hatte als Streifendienstführerin den Laden im Griff gehabt, wie sein Chef es ausdrückte. Sie würde eine Lücke hinterlassen, die zeitnah kaum zu füllen war. Aber schließlich hatte er sich durchgesetzt und sich mit Mirjam und Claudias Kindern im beschaulichen Dörfchen Eschenbach im unteren Hirschbachtal einquartiert. Er hatte zwei Gästezimmer in einem Gast- und Tagungshaus namens Grüner Schwan gebucht, das alles bot, was man sich wünschen konnte: eine angenehm schlichte Gemütlichkeit, einen lauschigen Biergarten, freundliches Personal und, last, but not least, gutes Landbier und regionale Küche. Nach Kastners Ansicht gab es keinen Grund, sich von diesem Hort der Gastlichkeit weiter als fünfhundert Meter zu entfernen – für einen kleinen Verdauungsspaziergang etwa –, aber Mirjam sah die Sache offensichtlich anders.

»Na gut, Hase«, seufzte er. »Wir können ja nach dem Frühstück einen Plan machen.«

»Ich habe bereits einen Plan!«, lächelte Mirjam.

Während Kastner mittels zweier Rühreier mit Speck und einer mit fränkischen Wurstspezialitäten belegten Semmel den ärgsten Hunger stillte, mietete Mirjam telefonisch einen Kanadier mitsamt Ausrüstung, buchte Zubringer- und Rückholtaxi, studierte auf ihrem Smartphone die aktuellen Wasserstände der Pegnitz und die geltende Kanuverordnung zum Schutz von Natur und Umwelt und fuhr die geplante Route vorab auf einer virtuellen Karte ab. Das bloße Zusehen und Zuhören erschöpfte Kastner derart, dass er sich ohne Weiteres bis zum Mittagessen wieder ins Bett hätte legen können.

Mirjam kannte kein Pardon. »Und los«, rief sie, kaum dass er sein Frühstücksbesteck aus der Hand gelegt hatte.

*

»Juhu«, johlte Jannik, als das Boot eine Stromschnelle hi­nunterschoss, und fuchtelte mit seinem Paddel herum. Kast­ner zog den Kopf ein, um einen offenen Nasenbeinbruch zu vermeiden.

»Hör mit dem Gehampel auf, du Affe«, wies Sofie ihren kleinen Bruder zurecht. »Wenn wir umkippen, ertrinkst du als Erster, weil du nämlich nicht schwimmen kannst.« Die Dreizehnjährige thronte mit der Haltung einer höheren Tochter im Kajak: den Rücken kerzengerade, das Kinn erhoben, den Arm mit dem Paddel elegant abgewinkelt.

»Gar nicht wahr!«, schrie Jannik empört. »Ich hab den Freischwimmer! Und eine Schwimmweste!«

»Das nützt nix«, erklärte Sofie. »Die fiese Strömung packt dich wie eine Schnappfalle einen fetten Biber und zieht dich immer weiter hinunter; und dann läuft dir das Wasser mitsamt den ganzen ekligen Algen und Würmern in die Nase und in den Mund …«

»Ist ja gut jetzt«, schnaubte Mirjam von hinten. »Wir werden nicht kentern. Aber wir müssen weiter nacht rechts … Rechts, Kastner! Das andere Rechts! Du musst schon mitpaddeln, ich kann nicht alles alleine machen!«

Kastner tat pflichtschuldig, wie ihm geheißen. Obwohl es ein lauer Apriltag war, lief ihm der Schweiß in Strömen den Rücken hinunter. Er verfügte durchaus über nautische Erfahrung – während seiner Gymnasialzeit hatte er mit seiner Jugendliebe Yvonne aus der Parallelklasse eine Tretbootfahrt über den Nürnberger Dutzendteich unternommen –, aber dies hier war definitiv etwas anderes: Lediglich eine dünne Gummiwand trennte seinen Körper von dem reißenden Strom, seine Beine waren blutstauend angewinkelt, und er hatte Mühe, das Gleichgewicht zu halten. Dazu musste er noch den zappeligen Jannik und die superschlaue Sofie im Auge behalten und die Anweisungen befolgen, die Mirjam von hinten gab – für beschauliche Naturbetrachtung blieb da wenig Zeit.

Und jetzt vibrierte auch noch sein Handy.

Das konnte eigentlich nur Claudia sein. Sie hatte seit gestern schon zweimal angerufen, vermutlich, weil sie seinen pädagogischen Fähigkeiten nicht recht traute.

»Claudia?«, schrie er gegen den tosenden Strom an, nachdem es ihm gelungen war, das Mobiltelefon aus dem Plastikbeutel zu pfriemeln, in den er es vorsorglich eingeschlagen hatte. »Hier ist alles in Ordnung, den Kindern geht es gut. Kann ich dich später zurückrufen? Wir rasen gerade in einem Gummiboot die Niagarafälle runter!«

»Kastner? Es tut mir wirklich leid, Sie im Urlaub stören zu müssen«, sagte eine Stimme, die ganz sicher nicht die von Claudia war. »Aber, nun ja, wir haben da im Pegnitztal eine Leiche, die vermutlich keines natürlichen Todes gestorben ist …«

»Muss das jetzt sein, Kastner?«, rief Mirjam von hinten. »Wenn das Claudia ist, dann ruf sie doch bitte später zurück – da vorne kommt wieder eine Stromschnelle!«

Jannik beugte sich weit über den Bootsrand und krähte: »Boah, Leute, schaut mal! Da ist ein voll fetter Fisch! Das ist bestimmt ein Walfisch!«

»Wale sind keine Fische!«, schnaubte Sofie. Wie immer hatte sie recht und verfehlte mit ihrer Argumentation dennoch knapp den Punkt: Selbst wenn Wale Fische gewesen wären, hätten sie sich die Bäuche wohl kaum im flachen Süßwasserflussbett der Pegnitz aufgeschürft.

Mirjam schrie: »Nach links, Kastner! Links!«

»Kastner?«, fragte die Stimme aus dem Telefon. »Was rauscht denn da so? Hören Sie mich?«

Der Kanadier trudelte in die Stromschnelle, verhakte sich an einem unsichtbaren Hindernis und drehte sich wie ein Kreisel um die eigene Achse. Sofie kreischte hysterisch, Mirjam fluchte wie ein Bierkutscher. Jannik beugte sich noch ein Stück weiter vor und spähte angestrengt ins Wasser. »Das ist ein Killerwal!«, stellte er fest und holte mit dem Paddel aus, um die Bestie zu erlegen.

Ehe Kastner nach ihm greifen konnte, kippte der Junge wie ein Stein über Bord.

*

Ein Grüppchen junger Kajakfahrer in neonbunter Kleidung applaudierte im Vorbeifahren ironisch, als Kastner mit Jannik unter dem Arm ins Trockene kletterte. Vom Ufer aus betrachtet stellte sich die Situation wenig dramatisch dar, wie Kastner zugeben musste: Die Pegnitz plätscherte gemütlich durch ihre breite, von frischgrünen Erlen und Weiden gesäumte Aue, und die Stromschnellen waren nicht mehr als kurze Abschnitte mit geringfügig muntererer Strömung. Als er in den Fluss gesprungen war, um Jannik vor dem Ertrinken zu retten, hatte er sich wie Indiana Jones gefühlt – aber das Wasser war dem Jungen nur bis zur Hüfte gegangen.

»Postpubertäre Ignoranten«, schimpfte Mirjam den Kajakfahrern hinterher, während sie den Kanadier an Land zog. Dann küsste sie Kastner auf den Mund. »Das war sehr tapfer von dir.«

Sofie hielt ihrem pitschnassen Bruder eine routinemäßige Standpauke, die Jannik ebenso routinemäßig von sich abgleiten ließ.

»Wenn Kastner den Killerwal nicht mit seiner Arschbombe verscheucht hätte, dann hätte ich den gefangen«, beharrte er.

Unterdessen telefonierte Mirjam mit dem Bootsverleih. »Wir hatten einen direkteren Kontakt zum nassen Element, als uns lieb war«, erklärte sie eloquent, führte die noch kühlen Außentemperaturen und die Verantwortung für fremde Kinder ins Feld und übermittelte ihre aktuellen GPS-Daten. Eine Viertelstunde später kam das Rückholtaxi und brachte sie zurück in den Grünen Schwan, wo Mirjam den zähneklappernden Jannik mit einer Wärmflasche ins Bett packte. Sofie zog sich ebenfalls zurück, um ihren Freundinnen per WhatsApp mitzuteilen, wie knapp ihr Bruder dem Tod entronnen war. Vermutlich unter dem Titel Mein schönstes Ferienerlebnis.

Kastner nahm zuerst eine heiße Dusche, dann ein kühles Landbier und anschließend einen Schmorbraten vom regional aufgewachsenen Biorind.

»Jetzt stell dir mal vor, das wäre schiefgegangen«, sagte Mirjam, die sich für eine Salatplatte mit Frühlingskräutern entschieden hatte, schaudernd. »Wenn Jannik ertrunken wäre, hätte Claudia dir vermutlich bei lebendigem Leib die Gedärme aus der Bauchhöhle entfernt.«

»Davon gehe ich aus«, stimmte Kastner mit vollem Mund zu. Das Biorind wurde von einer sämigen Rotweinsauce mit dezentem Rosmarinaroma, gedämpftem Brokkoli und hausgemachten Spätzle begleitet – eine recht stimmige Kombination.

»Zumal sie ja quasi live dabei war«, sagte Mirjam.

»Live dabei?«, echote Kastner verständnislos.

Mirjam hob die Augenbrauen. »Du hast doch mit ihr telefoniert, als Jannik ins Wasser gefallen ist?«

»Ach du liebe Güte – nein«, erklärte Kastner. »Nein, das war nicht Claudia. Das war Carsten Wismeth.«

Mirjam hob die Augenbrauen noch ein wenig höher und brachte es fertig, gleichzeitig die Stirn zu runzeln. »Dein Chef? Was wollte der denn? Hast du etwa vergessen, einen Urlaubsantrag abzugeben?«

»Aber Hase!«, sagte Kastner mit einer wohldosierten Prise gekränkter Unschuld. Mirjam hatte gleichermaßen recht wie unrecht: Er hatte in der Tat keinen Urlaubsantrag abgegeben – aber vergessen hatte er es nicht. Er hielt nicht viel von bürokratischem Papierkram – ein Mann, ein Wort war seine Devise; und Wismeth hatte ihm die Freizeit ja zähneknirschend zugestanden. Immerhin war Mirjams Frage nach dem Grund von Wismeths Anruf berechtigt – was hatte sein Chef gesagt? Etwas von einer Leiche? Er würde ihn wohl zurückrufen müssen. Kastner tastete seine Hosentaschen nach dem Mobiltelefon ab – vergebens. Natürlich, er hatte sich geduscht und umgezogen. Aber …

»Was ist los?«, erkundigte sich Mirjam.

»Mein Handy ist weg. Es muss mir aus der Hand gefallen sein, als ich in die Pegnitz gesprungen bin.«

»Na so ein Pech!«, sagte Mirjam mit einer wohldosierten Prise mitfühlenden Bedauerns. »Dann kannst du deinen Chef gar nicht zurückrufen?«

*

»Die Kollegen aus dem Landkreis haben uns offiziell um Hilfe ersucht«, erklärte Carsten Wismeth. »Und wie Sie sehr gut wissen, Kastner, habe ich hier über die Osterferien zu wenig Personal im Präsidium, um mal eben einen Kommissar aufs Land verschicken zu können. Und Sie sind direkt vor Ort – die Kräutergruppe, mit der Imthal unterwegs war, hat im Grünen Schwan einen Tagungsraum gemietet. Das ist doch Ihr Urlaubsquartier?«

»Hm«, machte Kastner. Mirjam hatte sich geweigert, ihm ihr Handy zu leihen. Damit Wismeth dir irgendeine Ermittlung aufs Auge drücken kann? Vergiss es! Glücklicherweise verfügte der Grüne Schwan über einen Festnetzanschluss – einen olivgrünen Siebzigerjahreapparat mit Wählscheibe und Spiralkabel, der in dem schmalen Durchgang zwischen Gastraum und Küche auf einer hölzernen Kommode stand.

»Diese Kräuterfreunde sind selbstredend dringend verdächtig«, fuhr Wismeth fort. »Sie waren zur Tatzeit am Tatort, einer von ihnen hat die Leiche gefunden … Der zuständige Beamte vor Ort, ein Kommissar Bauer, hat die Leute angewiesen, sich bis auf Weiteres zur Verfügung zu halten – man muss also nicht befürchten, dass die sich gleich in alle Himmelsrichtungen zerstreuen. Kastner? Hören Sie mir noch zu?«

»Ja, ja.«

»Rechtsmediziner und Kriminaltechniker sind bereits informiert und sollten in zwei, drei Stunden am Leichenfundort eintreffen. Es wäre gut, wenn Sie ebenfalls dort erscheinen und sich gleich einen Überblick verschaffen würden. Habe ich schon erwähnt, dass das Opfer Politiker war?«

Das hatte der Polizeidirektor in der Tat bereits erwähnt. Während Wismeth erneut über öffentliches Interesse und Dringlichkeit referierte, nahm Kastner den Telefonhörer vom Ohr und hielt ihn mit ausgestrecktem Arm in Richtung der Küche, in der drei junge Frauen Gemüse schnippelten und in gusseisernen Pfannen rührten. Anders als seinem Chef war es ihm herzlich egal, ob ein Mordopfer zu Lebzeiten prominent gewesen war oder unter einer Brücke geschlafen hatte. Für manche Tötungsdelikte gab es nachvollziehbare Gründe, andere ließen ihn ob ihrer sinnlosen Grausamkeit an der Menschheit zweifeln. Aber so oder so: Von Notwehr einmal abgesehen gab es in seinen Augen keine Ausnahme von der Regel, dass ein Mensch dem anderen nicht das Leben nehmen durfte. Aus dieser Überzeugung heraus war er Kommissar geworden; und er liebte seine Arbeit. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er die Mordermittlung sofort übernommen – aber Mirjam würde ihm, völlig zu Recht, die Hölle heiß machen, wenn er den gemeinsamen Urlaub abbrechen und ihr die alleinige Betreuung von Claudias Kindern aufs Auge drücken würde.

Eine Zwickmühle. Es sei denn …

»Herr Wismeth?«, unterbrach er den andauernden Vortrag seines Chefs. »Ich muss das zuerst mit Mirjam besprechen. Falls sie einverstanden ist, bin ich es auch – unter einer Bedingung …«

»Bedingung? Was denn für eine Bedingung?«, erkundigte sich Wismeth indigniert. »Sie sind Beamter, Kastner! Ich bin Ihnen gegenüber weisungsbefugt! Und unter uns gesagt: Mir liegt hier kein genehmigter Urlaubsantrag vor …«

Obwohl Kastner die letzte Bemerkung seines Chefs sauer aufstieß, ging er nicht darauf ein – Wismeth liebte Gefechte auf Nebenschauplätzen und geriet dabei allzu leicht vom Hundertsten ins Tausendste. Am besten kam man mit ihm zurecht, wenn man sich beharrlich aufs Wesentliche konzentrierte und ihn ansonsten in dem Glauben ließ, er hielte die Zügel in der Hand.

»Es ist eher ein Vorschlag«, sagte er treuherzig. »Ich würde gerne vorerst inkognito bleiben.«

Wismeth schwieg.

»Sie haben es selbst gesagt«, führte Kastner aus: »Ich bin direkt vor Ort, ein Urlaubsgast wie jeder andere. Ich schätze, man wird mir mit größerer Offenheit begegnen, wenn ich meinen Beruf nicht sofort an die große Glocke hänge.«

»Ach was?«, sinnierte Wismeth. »Sie meinen – eine Art verdeckte Ermittlung?«

Nein, dachte Kastner, ich meine einen Aushang am Schwarzen Brett: Ab sofort ermittelt Hauptkommissar Kastner aus Nürnberg inkognito.

»Das haben Sie ganz richtig verstanden, Herr Wismeth«, sagte er.

»Hm, ich weiß nicht – das klingt irgendwie nach einem schlechten Tatort.«

*

»Kommt nicht infrage«, würgte Mirjam Kastners Erklärungen ab, sobald sie den ersten Schock überwunden hatte. »Ich meine: Hallo?! Das hier ist unser erster gemeinsamer Urlaub seit gefühlten zehn Jahren! Urlaub in Anführungszeichen … Normale Menschen buchen Fotosafaris in Kenia oder Trekkingtouren auf Island; oder sie liegen zumindest auf einem bunten Badetuch am Strand von Malle herum und schlürfen Sangria aus Eimern …«

»Von diesem Teil deiner geheimen Wünsche und Fantasien wusste ich bisher gar nichts, Hase«, unterbrach Kastner seine Lebensgefährtin. Es war immer besser, Mirjam zu bremsen, ehe sie richtig in Schwung kam.

»Was soll das heißen?«, zischte Mirjam. »Glaubst du, so sieht mein Traumurlaub aus?« Sie machte eine den lauschigen Biergarten, das malerische Gasthaus und Kastners stattliche Gestalt umfassende Handbewegung und dazu ein Gesicht, als hätte man sie ohne ihr Wissen beim Dschungelcamp angemeldet.

»Ich hab die Sache mit dem Eimersaufen gemeint«, erklärte Kastner und fügte, weil Mirjam ihn irritiert anstarrte, hilfsbereit an: »Du und ich auf einem bunten Badetuch, im Hintergrund ein romantischer Sonnenuntergang über türkisblauem Meer, im Vordergrund hundertzwanzig besoffen grölende, sonnenverbrannte Touristen …«

»Lenk nicht ab«, sagte Mirjam streng und verschränkte die Arme vor der Brust. »Fakt ist, dass ich meine knapp bemessenen Urlaubstage aus rein partnerschaftlichen Gründen im fränkischen Outback und zusammen mit den betreuungsaufwendigen Kindern deiner Kollegin verbringe. Das ist purer Altruismus! Und jetzt stellst du diesen Minimalkonsens infrage, weil irgendjemand hier um die Ecke eine verdammte Leiche im Gebüsch gefunden hat?«

»Deine Empörung ist völlig berechtigt, Hase«, gab Kast­ner zu. »Und wenn ich könnte, wie ich wollte … Aber leider bin ich Beamter und muss Wismeths Weisungen Folge leisten.«

Mirjam schnaubte, zündete sich eine Zigarette an und bestellte beim Wirt trotz der frühen Stunde einen halben Liter roten Hauswein. Kastner nutzte die Gelegenheit, um für sich selbst ein Schinkenbrot und ein Seidla Kellerbier zu ordern.

»Immerhin ist es mir gelungen, meine Haut so teuer wie möglich zu verkaufen«, erklärte er.

Mirjam kniff die Augen zusammen. »Was soll das heißen?«

»Ich werde vorerst inkognito ermitteln. Das heißt, wir können weiterhin Urlaub machen – Ausflüge, Brettspiele, solche Sachen. Ich werde einfach nebenbei Augen und Ohren offen halten und das eine oder andere Gespräch führen.«

»Einfach nebenbei? Das soll wohl ein Witz sein.«

Der Wirt stellte das Schinkenbrot und die Getränke auf den Tisch. Er schwieg diskret, offenbar erkannte er den beziehungspsychologischen Ernst der Lage.

»Im Grunde habe ich keine Wahl, Hase«, sagte Kastner.

Mirjam blähte die Nüstern. Sie suchte auf ihrem Wollpulli angestrengt nach Flusen, fand aber keine. »Eine Undercover-Ermittlung – wie in einem schlechten Tatort?«, fragte sie rhetorisch. »Wie soll das funktionieren? Jannik wird bestimmt überall herumposaunen, dass du bei der Polizei bist.«

»Ich werde ihm erklären, worum es geht«, sagte Kastner. »Er ist ein heller Kopf, er wird es verstehen.« Er hob sein Bierglas, um mit Mirjam anzustoßen.

Mirjam seufzte, zog das Holzbrettchen mit dem gewürzgurkengarnierten Schinkenbrot zu sich herüber und schnitt sich die gute Hälfte ab.

Kastner saß noch immer mit dem erhobenen Bierglas da.

Mirjam kaute und ließ sich Zeit dabei. »Also gut«, sagte sie schließlich. »Ich beuge mich den Sachzwängen. Aber aufgemerkt!« Sie hob den Zeigefinger. »Es gibt eine Bedingung.«

»Eine Bedingung?«, fragte Kastner indigniert. »Was denn für eine Bedingung?«

»Du fliegst nächstes Jahr mit mir in den Urlaub – Südamerika, Norwegen oder vielleicht Madeira? Für drei Wochen, mindestens. Wir können ja wandern und zelten, dann wird das auch nicht so teuer.«

Kastner schluckte trocken. Mirjams Urlaubstraum war für ihn ein Horrorszenario. Ein Flug in einem von unterbezahlten Technikern gewarteten und womöglich von einem Suizidal-Depressiven gesteuerten Blechsarg, der, entgegen aller Vernunft, das Naturgesetz der Schwerkraft negierte und dessen Ausdünstungen die Atmosphäre des bislang einzigen bewohn- und erreichbaren Planeten im Universum mit einer inakzeptablen Menge an CO2 verschmutzten – und wofür? Um sich Blasen an den Füßen zu laufen, unbequem zu schlafen und lauwarme Ravioli aus Blechdosen zu löffeln! In Norwegen würde es eisige Ostwinde geben, in Südamerika schwüle Hitze und Ungeziefer, das schwer zu therapierende Krankheiten übertrug – und hier wie da Eingeborene, die lächelnd sein sauer verdientes Geld einstrichen, hinter seinem Rücken über sein holpriges Englisch lästerten und ihren archaischen Göttern jeden Morgen für die Dummheit deutscher Touristen dankten. Er verstand nicht recht, wa­rum ein ansonsten durchaus vernunftbegabter Mensch wie Mirjam diese Zusammenhänge partout nicht begreifen wollte.

»Abgemacht«, sagte er und fühlte sich zum zweiten Mal an diesem Tag wie Indiana Jones. »Du unterstützt mich bei meiner Undercover-Ermittlung, ich fliege nächstes Jahr mit dir wohin du willst. Deal, Hase?«

Mirjam griff endlich nach ihrem Weinglas und stieß mit ihm an.

»Deal!«

*

Der Aufstieg zum Leichenfundort erwies sich als sportliche Herausforderung. Bereits in Eschenbach stieg der Weg über steinerne Stufen steil an, und der Begriff Schwerkraft, den Kastner bisher in der theoretischen Physik verortet hatte, bekam eine unmittelbar sinnlich erfahrbare Brisanz – jede getrunkene Halbe, jeder verzehrte Schweinsbraten oder gemütlich auf dem Sofa verbrachte Abend der letzten Jahre hing ihm wie Blei an den Füßen. Eigentlich ging er gerne zu Fuß – ein beschauliches Reisetempo sagte ihm zu, und in seiner Heimatstadt Nürnberg kam man mit einem Spaziergang oft schneller ans Ziel als mit dem Auto oder öffentlichen Verkehrsmitteln. Die Frankenmetropole verfügte mit der immerhin fünfzig Höhenmeter über dem Niveau des Hauptbahnhofs gelegenen Burg durchaus über ein topographisches Ausrufezeichen – aber verglichen mit dem Albtrauf, den Kastner gerade erklomm, war der Burgberg nicht mehr als ein sanfter Hügel.

Er ließ die letzten Häuser hinter sich und betrat den Wald. Bei einer mittelalterlich anmutenden Turmruine gabelte sich der Weg, und er zog das Faltblatt zurate, das Mirjam aus einem Aufsteller im Eingangsbereich des Grünen Schwans gezogen und ihm fürsorglich zugesteckt hatte: Wegbegleiter Wengleinweg. Dies musste der Heroldturm sein, ein vom Parkgründer Carl Wenglein, einem Schwabacher Nadelfabrikanten, im frühen zwanzigsten Jahrhundert errichtetes Bauwerk. Offensichtlich hatte Wenglein neben einem Faible für die Natur auch einen Mittelalterspleen gepflegt und mit dem Heroldturm, nun ja, alternative Fakten geschaffen.

Kastner wandte sich nach links und stieg unter den ausladenden Kronen frischgrüner Laubbäume weiter bergauf. Er fühlte sich, als würde er die Annapurna ohne Sauerstoffgerät bezwingen, und er hätte gerne ein, zwei Sherpas zur Seite gehabt, die sich um sein Gepäck kümmerten, denn sein Rucksack schien mit jedem Schritt schwerer zu werden. Mirjam hatte ihm eine Flasche Mineralwasser, zwei Äpfel und eine Tafel Schokolade eingepackt; dazu einen Wollpulli und eine Regenjacke – offensichtlich fürchtete sie, ein Wetterumschwung könne ihn zwingen, über Nacht in der Steilwand zu biwakieren. Das hatte Kastner nicht vor – im Grünen Schwan war Spanferkelabend, und er freute sich schon jetzt auf eine Scheibe knuspriges Fleisch und ein würziges Kellerbier.

An jeder Informationstafel des Lehrpfads legte er eine Rast ein und tat, als würde er das Kleingedruckte lesen, während er in Wahrheit nach Luft rang und sich den Schweiß von der Stirn wischte. Er wusste selbst nicht recht, wen er damit hinters Licht führen wollte – außer ihm selbst waren zu dieser späten Stunde nur noch wenige Leute auf dem Wengleinweg unterwegs. Vor dem Infohaus klapperte eine Gruppe älterer Damen mit Nordic-Walking-Stöcken und raschelte mit Butterbrotpapier, in der Ritterschlucht überholte ihn schnellen Schrittes eine Familie mit Kind – alle drei auf eine Weise schweigend, die nahelegte, dass sie darin Übung hatten. An einem Aussichtspunkt, dem sogenannten Malerwinkel, stieß er schließlich auf ein Pärchen Anfang zwanzig, das eng umschlungen auf einem Felsblock saß und sich eine Flasche Bier teilte.

Die jungen Leute grüßten höflich.

»Ist es noch weit bis zur Luisenhütte?«, fragte Kastner.

Der Mann schüttelte den Kopf. »Aber Sie werden trotzdem nicht hinkommen. Da ist alles komplett abgesperrt.«

»Wieso das denn?«, stellte Kastner sich dumm.

»Die haben da oben eine Leiche gefunden«, erklärte die Frau. »Am Wegkreuz … Es war am Wegkreuz, stimmt’s, Schnörpfel?«

Schnörpfel zuckte die Achseln und hob die Bierflasche an die Lippen.

»Jedenfalls hat jemand dem Mann den Schädel eingeschlagen«, beendete die Frau ihren Satz.

»Woher wissen Sie das?« Kastner bemühte sich um einen Gesichtsausdruck rein ziviler Neugier. Er hatte sich schon oft gefragt, wie Tatsachen, Halbwahrheiten und Gerüchte es anstellten, einen abgesperrten Leichenfundort zu verlassen und sich unters Volk zu mischen.

Schnörpfel nahm einen ordentlichen Zug aus der Bierflasche und zeigte dann bergauf. »Gehen Sie einfach weiter bis zum Absperrband«, schlug er Kastner vor. »Da steht so ein Rentner rum, der den Toten kannte und angeblich dabei war, als er gefunden wurde. Der wird Ihnen das alles und noch viel mehr erzählen, ob Sie es nun hören wollen oder nicht.«

*

Vor dem Plastikband mit der Aufschrift Polizeiabsperrung – Betreten verboten hatten sich tatsächlich ein paar Neugierige versammelt: die Familie mit Kind, die in der Ritterschlucht an Kastner vorbeigezogen war, sowie drei ältere Herrschaften – zwei Männer und eine Frau in rot karierten Hemden und beigen Wanderhosen. Das Zentrum des Geschehens, das Wegkreuz, war von hier aus nicht zu sehen, aber einen Steinwurf hangaufwärts durchkämmten Kriminaltechniker in weißen Schutzanzügen das Unterholz nach Spuren. Kastners Erscheinen unterbrach ein Gespräch, bei dem einer der Senioren – ein stattlicher und äußerst rüstig wirkender Herr, dessen Oberlippe ein weißborstiger Walrossbart zierte – mit weittragender Stimme das Wort geführt hatte.

Der Neuankömmling wurde neugierig gemustert.

»Polizeiabsperrung? Was ist denn passiert?«, fragte Kast­ner, um sich als Zivilist und Spaziergänger auszuweisen.

»Ach«, sagte die ältere Dame und zeigte mit dem Finger auf ihn. »Wir kennen uns doch? Aus dem Grünen Schwan? Gestern Abend?«

Kastner erinnerte sich – die drei Senioren hatten am Nebentisch gesessen und einige Schoppen Frankenwein gepichelt. Er nickte der Frau freundlich zu, was offensichtlich genügte, um von den Schaulustigen als einer der ihren akzeptiert zu werden.

»Wir haben vor ein paar Stunden da oben am Wegkreuz einen Toten gefunden«, erklärte der Walrossbart und schloss die anderen beiden Rotkarierten gestisch mit ein. »Der Mann war ein Kurskollege von uns – wir haben zusammen eine Kräuterführung durch den Wengleinpark gemacht und den schönen Frühlingstag in der blühenden Natur genossen … Während der Mittagspause haben wir noch mit Julius geplaudert, und eine halbe Stunde später standen wir dann vor seiner Leiche!«

Der Familienvater, ein dackeläugiger Brillenträger Mitte dreißig, hing an seinen Lippen. Die Familienmutter, eine muskulöse Blondine Ende zwanzig, hielt dem Familienkind die Ohren zu.

»Können wir jetzt bitte gehen, Mario?«, zischte sie ihren Mann an. »Wie oft willst du dir das noch anhören?«

»Ich hab dem armen Julius den Puls gefühlt«, ergänzte der Walrossbart im Plauderton. »Man will sich ja nicht der unterlassenen Hilfeleistung schuldig machen. Obwohl es an seinem Tod eigentlich keinen Zweifel gab – überall Blut und Knochensplitter.«

»Das ist ja krank«, sagte die Frau angewidert. Ihr Kind, ein etwa sechsjähriger Junge, versuchte vergeblich, seine Ohren aus ihrem Klammergriff zu befreien.

»Wie recht Sie haben!«, stimmte der Senior jovial zu. »Die zunehmende Verrohung der Gesellschaft gibt einem wirklich zu denken …«

»Ja, früher war alles besser!«, schnappte die Frau. »Hexenverbrennungen, Pest, Kolonialismus, zwei Weltkriege – das reine Idyll. Ich schätze, in der guten alten Zeit wären Sie auch nicht hier herumgestanden und hätten vor den Ohren eines Kindes sensationslüstern die blutigen Details eines Verbrechens erörtert?«

Mario räusperte sich. »Sie müssen Cordula entschuldigen«, sagte er, »sie hat gerade ihre … sie hat heute einen schlechten Tag.«

Der Sprecher der Seniorengruppe nickte verständnisvoll.

Mario zückte sein Handy, stellte sich auf die Zehenspitzen und fotografierte einen der Kriminaltechniker oben am Hang. »Schade, dass man die Leiche von hier aus nicht sehen kann.«

»Haben Sie Bluetooth?«, fragte der Walrossbart. »Ich habe ein paar Fotos gemacht – wenn Sie wollen, kann ich Ihnen die Daten übertragen.«

Mario strahlte ihn an. »Wow – das wäre echt nett!«

»Das glaub ich jetzt nicht«, fauchte Cordula. »Du empörst dich doch immer lautstark über die Gaffer, die die Rettungskräfte behindern, wenn es auf der Autobahn gekracht hat …«

»Das ist ganz was anderes«, belehrte Mario seine Gattin. »Ich behindere hier ja niemanden!«

»Ach? Solange man niemanden behindert, ist Gaffen und Fotografieren okay? Gut, dass wir darüber gesprochen haben.« Cordula packte das Kind an der Hand, drehte Mario den Rücken zu und machte sich an den Abstieg ins Tal.

Mario hielt sein Handy neben das des Walrossbarts. »So dramatisch wirkt das gar nicht«, sagte er, als die Fotos der Leiche angekommen waren. »Der sieht ganz friedlich aus.«

»Ja, nicht wahr? Aber wenn Sie reinzoomen, sehen Sie das Blut auf dem Kopf – den armen Kerl hat einer erschlagen. Und es kann nicht lange her gewesen sein, denn die Leiche war noch ganz warm, als wir sie gefunden haben …«

*

Die Sonne versank im Westen.

Die Senioren in ihren knielangen Wanderhosen begannen zu frösteln und wünschten einen guten Abend, und endlich verschwand auch Mario in den Schatten der anbrechenden Nacht.

Kastner schlüpfte unter dem Absperrband hindurch. Inzwischen war es so finster, dass der schmale Pfad kaum noch zu erkennen war. Von den Kriminaltechnikern war nichts mehr zu sehen – womöglich hatten sie längst ihre Schutzanzüge ausgezogen, ihre Ausrüstung in Alukoffern verstaut und die Heimreise angetreten.

Kastners Herz setzte einen Schlag aus, als etwas über seinen Kopf strich und mit einem schaurig klagenden Schrei zwischen den Bäumen verschwand. Ein Nachtvogel, sagte er sich, ein Uhu oder eine Eule auf Mäusejagd; aber sein Puls beruhigte sich nur langsam. Er war ein Kind der Großstadt, einer menschengemachten Welt aus Lärm und Licht, die der Ratio huldigte – es war eine neue Erfahrung für ihn, dass Vernunft und Logik in einem nachtdunklen Wald wenig Autorität besaßen. Der Einfall, undercover zu ermitteln, erschien ihm hier und jetzt deutlich weniger brillant als am frühen Nachmittag in dem sonnigen Biergarten.

Unvermittelt fiel grelles Kunstlicht durch die Bäume und trieb mit den Schatten jede Mystik aus dem Wald. Im Schein mehrerer LED-Scheinwerfer erkannte Kastner, keine zwanzig Meter bergauf, das Wegkreuz. Er atmete auf: Dort stand Martina Götz und plauderte mit einigen Mitarbeitern, die ihre Hände an dampfenden Bechern wärmten. Eine Thermoskanne ging herum, Zigarettenrauch stieg in den Abendhimmel.

Martina kam Kastner ein paar Schritte entgegen. »Du kommst reichlich spät«, sagte sie zur Begrüßung.

»Tut mir leid. Es gab Verzögerungen.«

Die Chefin der Spusi zwinkerte ihm zu und machte eine einladende Handbewegung. »Willst du dir den Leichenfundort ansehen?«

Kastner zögerte.

»Die Leiche ist allerdings bereits auf dem Weg ins Rechtsmedizinische Institut, und sonst gibt es auch nicht mehr viel zu sehen«, sagte Martina. »Wir haben schon alles eingetütet, was da herumlag. Wer zu spät kommt …«

»… den bestraft das Leben«, schloss Kastner, obwohl er eher erleichtert war. Er war ein alter Hase in seinem Metier, aber der Anblick gewaltsam ums Leben gekommener Menschen deprimierte ihn nach wie vor.

Er folgte Martina zum Wegkreuz, bereute es aber bald: Auch ohne Leiche war ein Leichenfundort kein x-beliebiger Platz, sondern die Kulisse einer Tragödie. Ein mit Leuchtfarbe markierter Umriss abstrahierte den Körper eines ehemals atmenden und fühlenden menschlichen Wesens auf nahezu groteske Weise. Zwischen zerdrückten Gräsern und losen Steinbrocken standen Pappschilder, die das Sterben in nüchterne Ziffern und Pfeilsymbole fassten. Zwei Fledermäuse zogen ihre Kreise um das Holzkreuz und jagten die Insekten, die das Scheinwerferlicht anlockte.

»Wismeth hat gesagt, der Tote war Politiker?«

Martina nickte. »Julius Imthal, Jurist, Gemeinderat, EU-Kandidat der neoliberalen Partei Vorfahrt! und Besitzer einer Geflügelmästerei; dazu ein hohes Tier im Bauernverband und Mitglied diverser Aufsichtsräte. Letzteres muss man sich fachübergreifend denken: ein bisschen Agrochemie, ein, zwei Banken, ein Landgerätehersteller …«

»Woher weißt du das alles?«, fragte Kastner verblüfft.

Martina nickte zur Runde ihrer rauchenden und Kaffee trinkenden Untergebenen hinunter. »Mein Mitarbeiter Rudi wohnt in Hersbruck und ist bei der Bürgerinitiative Pegnitztalbrücken aktiv. Er kannte Imthal von einer Podiumsdiskussion im Veldener Gemeindezentrum.«

»Bürgerinitiative Pegnitztalbrücken?«, echote Kastner.

»Die Bahn will die Eisenbahnbrücken im Pegnitztal abreißen und die Strecke elektrifizieren«, erklärte Martina. »Unser Mordopfer hat dieses Ansinnen vorbehaltlos unterstützt. Die BI und der Denkmalschutz vertreten eine andere Meinung: In ihren Augen ist das Stahlfachwerk der vorhandenen Brücken historisch wertvoll und erhaltenswert, und sie verweisen auf die negativen Umweltauswirkungen durch den geplanten Abriss und den Neubau von Tunneln und Betonbauten …«

»Aha«, unterbrach Kastner. »Und woran ist Imthal gestorben? Meine Quellen sprechen von einer Schädelverletzung … Kann es ein Unfall gewesen sein?«

»Du meinst, Imthal ist unglücklich gestürzt und hat sich mit letzter Kraft zum Wegkreuz geschleppt, um seinen Leib dort malerisch zu drapieren?« Sie schüttelte den Kopf. »Die Kopfwunde liegt oberhalb der Hutkrempenlinie – das heißt, jemand hat dem Mann einen kräftigen Schlag verpasst.«

»Womit?«

»Wir haben etwa fünf Meter hangabwärts einen faustgroßen Steinbrocken mit Blutspuren und Gewebeanhaftungen gefunden …«

»Eine im wahrsten Sinne des Wortes naheliegende Waffe in dieser steinigen Umgebung«, nickte Kastner. »Das spricht für eine Tat im Affekt. Ist der Leichenfundort auch der Tatort?«

»Ja, mehr oder weniger.« Martina deutete auf einen Felsbuckel etwa einen Meter unterhalb des Wegkreuzes. »Aus der Verteilung der Blutspritzer schließen wir, dass Imthal dort erschlagen wurde. Anschließend hat jemand seinen leblosen Körper zum Wegkreuz gezerrt und mit dem Rücken dagegengelehnt.«

»Warum wohl?«, überlegte Kastner laut. »Warum riskiert man, Spuren auf der Leiche zu hinterlassen oder entdeckt zu werden, anstatt sich möglichst schnell aus dem Staub zu machen?«

Martina sog die kühle Nachtluft ein und stieß sie wieder aus.

»Wenn er im Affekt zugeschlagen hat, könnte er es hinterher bereut haben«, spann Kastner seinen Gedanken weiter. »Womöglich hat das Opfer noch gelebt, und er wollte es ihm etwas bequemer machen? Oder ganz im Gegenteil – er wollte ein Ausrufezeichen hinter seine Tat setzen und uns mit dieser Inszenierung irgendeine Botschaft übermitteln?«

»Erwartest du, dass ich diese wilden Spekulationen kommentiere?«, erkundigte sich Martina.

»Natürlich nicht«, sagte Kastner. »Bleiben wir bei den Fakten: Gab es einen Kampf? Hat das Opfer sich gewehrt?«

»Auf den ersten Blick sieht es nicht danach aus. Allerdings war der Inhalt von Imthals Rucksack teilweise he­rausgezerrt und verstreut – ob das vor oder nach seinem Tod passiert ist, kann ich dir eventuell nach der Laboruntersuchung sagen.«

»Ein Raubmord?«

»Falls ja, ging es nicht um Geld«, erklärte Martina. »Im­thals Geldbörse war noch da, inklusive Kreditkarten und Bargeld. Wir haben jedoch kein Handy gefunden.«

»Vielleicht hatte er keins dabei?«

»Ich bin sicher, du wirst es herausfinden!«

»Hm«, machte Kastner. »Was habt ihr sonst eingesammelt?«

»Kronkorken, Kippen, Kaugummis, Bonbonpapierchen und Schokoriegelverpackungen, dazu drei Apfelbutzen, eine leere Energydrinkdose sowie einen Haufen Erbrochenes. Man könnte meinen, die Parkverwaltung hätte den Mord begangen, damit hier endlich mal wieder jemand richtig sauber macht. Wir haben Gipsabgüsse von Fußspuren der Größen achtzehn bis fünfundvierzig und den Reifenabdrücken diverser Mountainbikes genommen und einen Perlenohrring, ein Medaillon mit dem Konterfei des heiligen Antonius und einen Angelhaken eingetütet …«

»Einen Angelhaken? Hier oben auf dem Berg?«

»Es handelt sich um einen Drillingshaken aus Kohlenstoffstahl in Größe acht, geeignet für Raubfische wie Hecht und Forelle«, führte Martina aus und fügte grinsend an: »Meine Mitarbeiter haben viele Talente – Rudi zum Beispiel ist nicht nur ein Freund der Pegnitztalbrücken, sondern auch passionierter Angler.«

»Du erwähnst diesen Rudi auffallend oft«, schoss Kastner ins Blaue. »Seit ihr näher bekannt?«

»Wir haben schon mal ein Feierabendbier zusammen getrunken«, gab Martina ungerührt zurück.

Martina Götz aus der Reserve zu locken war ein schwieriges Unterfangen. Kastner kabbelte sich beruflich seit vielen Jahren mit ihr, aber über ihr Privatleben wusste er kaum etwas. Durch die Flure des Polizeipräsidiums in Nürnberg geisterten Gerüchte, die unterschiedlicher nicht hätten sein können: Die einen waren überzeugt, Martina pflege seit Jahren ein Verhältnis mit einem verheirateten Mann in hoher Position (im Gespräch war sogar der Polizeipräsident höchstselbst); andere behaupteten, sie lebe aus Gründen, die nichts mit dem schwesterlichen Teilen von Lebenshaltungskosten zu tun hatten, mit einer Frau zusammen. Mangels fundierter Informationen hatte Kastner keine eigene Meinung zu dem Thema, aber er bewunderte Martina für die Grandezza, mit der sie all das müßige Getuschel von sich abperlen ließ.

Über dem nachtdunklen Wald schimmerten die Sterne, es war inzwischen eisig kalt. Kastner zog den Wollpulli aus seinem Rucksack und schlüpfte hinein. Obwohl sein Magen laut knurrte, ließ er die Äpfel und die Schokolade links liegen – es gab einen Grad an Hunger, den man nicht mit artigen Nippes stillen konnte. Vor seinem geistigen Auge erschien ein saftiger Spanferkelbraten mit Kloß und Soß, aber er hätte sich inzwischen auch mit vier fränkischen Bratwürsten und einer Portion Sauerkraut zufriedengegeben. Ein Blick auf sein Handy belehrte ihn eines Schlechteren: Es war nach zweiundzwanzig Uhr. Er konnte von Glück sagen, wenn die Küchenperlen im Grünen Schwan ihm aus reinem Mitleid noch ein Wurstbrot servieren würden.

»Kann ich mit euch runter ins Tal fahren?«, fragte er Martina.

»Klar«, sagte die Chefin der KTU. »Ach ja, ehe ich es vergesse …« Sie kramte in ihrer Jackentasche und zog ein Handy heraus. »Das ist dein neues Mobiltelefon. Mit allen relevanten Nummern und einem schönen Gruß von Carsten Wismeth.«

Fränkisches Pesto

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