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Tag 2/Dienstag/Brothers in Frankenwein

»Eine verdeckte Ermittlung?« Karlheinz Bauer, der Hersbrucker Kommissar, der das Tötungsdelikt aufgenommen und vernünftigerweise sofort das Polizeipräsidium Mittelfranken eingeschalten hatte, richtete seine kohlschwarzen Augen auf einen Punkt knapp hinter Kastners linker Schulter und strich sich mit kräftigen Fingern nachdenklich durch den krausen Bart. Er hatte die langen Beine übereinandergeschlagen und versuchte ebenso geübt wie vergeblich, sie unter dem Normschreibtisch zu verstauen, der einem Beamten seiner Gehaltsklasse zustand. »Unter uns gesagt: Das klingt irgendwie nach einem schlechten Tatort.«

Das hatte Kastner nun schon öfter gehört, bislang allerdings noch nicht aus dem Mund eines Mannes, den ein Krimiproduzent mit Kusshand als Außendienstmitarbeiter eines mafiös strukturierten arabischen Familienclans besetzt hätte. Er verkniff sich ein Schmunzeln und legte dem Kollegen die Vorteile dar, die sich seiner Meinung nach daraus ergaben.

Bauer hörte geduldig zu und zuckte dann die Achseln: »Wie dem auch sei, ich bin froh, dass Sie den Fall übernehmen. Mit Einbruchdiebstahl, Körperverletzung und Unfallflucht kenne ich mich aus, aber Mord ist definitiv nicht mein Fachgebiet.«

»Wir werden wohl eher zusammenarbeiten«, stellte Kast­ner klar. »Ich bleibe inkognito, Sie bleiben der leitende Ermittler. Sonst funktioniert die Sache ja nicht.«

Bauer nickte. »Die Teilnehmer des Kräuterkurses sind dringend tatverdächtig, nehme ich an? Sie kannten das Opfer, waren zur Tatzeit am Tatort …«

»Bessere Verdächtige kann man sich kaum wünschen«, stimmte Kastner zu, erfreut darüber, dass hier jemand mitdachte.

Bauer strich sich einmal mehr durch den Bart, holte einen Schnellhefter aus der Schreibtischschublade und schob ihn zu Kastner hinüber. »Das ist eine Kopie der Ermittlungsakte. Viel haben wir noch nicht, aber wir haben die Kräuterfreunde heute Vormittag befragt. Sie haben einen recht harmlosen Eindruck auf mich gemacht – sie waren kooperativ, haben freiwillig ihre Fingerabdrücke und eine DNA-Probe abgegeben und ihre Wanderschuhe für einen Profilabgleich zur Verfügung gestellt. Nun ja, mehr oder weniger freiwillig.« Bauer schmunzelte. »Einer von ihnen, ein junger Mann namens Tom Gellert, hat zunächst befürchtet, wir wären im Auftrag des Überwachungsstaates unterwegs, um den gläsernen Bürger noch besser auszuleuchten. Aber schließlich hat auch er sich überzeugen lassen. In den Aussagen der Kursteilnehmer gibt es weder Widersprüche noch Hinweise auf ein Motiv. Alle geben an, Imthal vor Kursbeginn nicht gekannt zu haben.«

Kastner widerstand der Versuchung, durch seinen eigenen Bart zu streichen. Normalerweise war er glatt rasiert – Polizeidirektor Wismeth legte Wert auf ein gepflegtes Erscheinungsbild seiner Beamten. Übers Wochenende oder im Urlaub ließ Kastner den Rasierapparat jedoch gerne mal in der Schublade liegen, und deshalb spross zurzeit etwas auf seinen Wangen, das Mirjam despektierlich ein Fünftagesgestrüpp nannte. Obwohl sie einen gepflegten Vollbart an Kinohelden oder Fußballspielern nach eigener Aussage ziemlich sexy fand, beschwerte sie sich bei Kastner umgehend über piksende Stoppeln und drohende Verwahrlosung, sobald er diesen Vorbildern auch nur annähernd nahekam. Er hatte es seit Langem aufgegeben, seine Lebensgefährtin auf die Folgewidrigkeit ihrer Botschaften hinzuweisen – launenhafte Inkonsequenz war vermutlich schon seit Jahrmillionen ein Vorrecht des weiblichen Geschlechts und musste wohl irgendeine evolutionäre Relevanz für das Überleben der menschlichen Spezies haben.

»Ich bin offen für andere Ermittlungsansätze«, sagte er. »Falls Sie in Imthals privatem oder politischem Umfeld jemanden mit einem schlüssigen Motiv finden, der es geschafft hat, zur Tatzeit an diesem entlegenen Tatort zu sein und von dort wieder zu verschwinden, ohne von den anderen Kursteilnehmern bemerkt zu werden, soll es mir recht sein. Ich halte nur eines für unwahrscheinlich: dass Imthal mitten im Wald zum Zufallsopfer irgendeines Psychopathen geworden ist.« Er tippte auf die Ermittlungs­akte. »Darf ich mir das mitnehmen?«

»Natürlich«, nickte Bauer. »Die Aussagen der Kräuterfreunde kann ich Ihnen auch als Audiodatei zukommen lassen, wenn Sie möchten.«

»Vielen Dank. Fürs Erste wird die Schriftform genügen, denke ich.« Kastner verstaute die Akte in seinem Rucksack, stand auf und schüttelte dem Kollegen die Hand. »Sobald die rechtsmedizinischen und kriminaltechnischen Ergebnisse vorliegen, sollten wir uns wieder zusammensetzen und das weitere Vorgehen besprechen … Ich freue mich auf unsere Zusammenarbeit!« Er meinte, was er sagte – KK Bauer schien ihm ein wacher Kopf zu sein, und er fand ihn recht sympathisch. An der Tür hielt er noch einmal inne. »Wollen wir du sagen?«, schlug er vor.

»Karlheinz«, sagte Bauer.

»Kastner«, sagte Kastner.

*

»Mir graut vor der Prüfung«, sagte Claudia. »Ich sitze von früh bis spät über den Unterlagen und kaue mir die Fingernägel wund.«

»Du schaffst das!«, sprach Kastner seiner Kollegin am Telefon Mut zu. »Ich weiß, dass du es schaffst.«

»Ich fürchte, Kriminal- und Rechtstheorie sind nicht so mein Ding. Ich bin wohl eher praktisch veranlagt. Felix dagegen ist voll in seinem Element – er plant schon seine weitere Karriere zum Hauptkommissar und anschließend zum Polizeidirektor.«

Kriminalhauptmeister Felix Wernreuther, wie Claudia bisher im Streifendienst tätig und im Bedarfsfall zu Kastners Unterstützung abkommandiert, nahm ebenfalls an der modularen Schulung teil. Was Ehrgeiz und Selbstbewusstsein anging, überflügelte er seine Kollegin locker; in allen anderen Bereichen hatte er, nach Kastners Einschätzung, einige Defizite.

»Du wirst Felix in allen prüfungsrelevanten Disziplinen deklassieren«, gab er seiner Hoffnung Ausdruck.

»Man kann die Prüfung nur bestehen oder nicht bestehen«, stellte Claudia nüchtern fest. »Und wie läuft’s bei euch? Rufst du aus einem bestimmten Grund an? Ist mit den Kids alles in Ordnung?«

»Alles bestens«, erklärte Kastner. »Mirjam und die Kinder haben sich Fahrräder ausgeliehen und sind entlang der Pegnitz nach Vorra geradelt. Soviel ich weiß, wollen sie in einer Pizzeria Spaghetti essen, danach eine kleine Wanderung machen und nachmittags mit der Pegnitztalbahn zurück nach Hohenstadt fahren – das ist hier der nächstgelegene Bahnhof. Später sind wir zu einer Runde Uno verabredet.« Lassen deine Ermittlungen das zu?, hatte Mirjam beim Frühstück gefragt, ehe er mit ihrem klapprigen Toyota zur Polizeidienststelle Hersbruck aufgebrochen war, um mit Bauer zu sprechen. Aber natürlich!, hatte er beteuert. Was könnte meinem Inkognito zuträglicher sein, als den frühen Abend mit harmlosen Gesellschaftsspielen im Kreise meiner Lieben zu verbringen?

»Ach. Und was machst du so?«, fragte Claudia.

»Oh, tja …« Kastner war versucht, seiner Kollegin von dem Leichenfund im Wengleinpark zu erzählen und sie nach ihrer Meinung zu fragen – bestimmt wäre ihr etwas dazu eingefallen. Aber er verkniff es sich. Claudia sollte sich voll und ganz auf die Prüfung konzentrieren. Die Vorstellung, sie könnte aus einem banalen Grund wie Prüfungsangst scheitern, während Wernreuther mit Wichtigtuerei und kurzfristig angelesenem Wissen alle beeindruckte, war ihm mehr als zuwider. Wernreuthers Ego würde sich zu einem Roten Riesen der Selbstgefälligkeit aufblähen; und Carsten Wismeth, dem sich der junge Beamte bei jeder Gelegenheit andiente, würde ihm mit Sicherheit eine Stelle im Dezernat Eins beschaffen. Direkt an Kastners Seite …

»Ich hatte heute Morgen das Gefühl, es könnte eine Erkältung im Anflug sein«, flunkerte er, »deshalb bin ich nicht mitgefahren. Aber jetzt geht es schon wieder.«

»Hm«, machte Claudia. »Sind Sofie und Jannik halbwegs brav?«

»So fromm wie neugeborene Lämmer«, behauptete Kast­ner.

Claudia lachte, dann wurde sie ernst. »Sag mal – reicht das Geld, das ich euch für die beiden mitgegeben habe? Ich meine, ich weiß, wie das ist – hier noch ein Eisbecher, da noch eine Cola …«

»Alles gut«, unterbrach Kastner. Claudia war einige Gehaltsstufen unter ihm eingruppiert und als Alleinerziehende immer knapp am Limit. Trotzdem – oder wohl eher deshalb – wollte sie sich nichts schenken lassen.

»Dass ihr euch um meine Kinder kümmert, ist freundlich genug«, sagte Claudia. »Ich will nicht, dass ihr sie auch noch durchfüttert.«

»Das würde uns nicht im Traum einfallen«, log Kastner. »Falls das Geld knapp wird, setze ich Jannik und Sofie einfach auf Butterbrot und Leitungswasser. Da bin ich knallhart.«

»Ich meine es ernst, Kastner«, sagte Claudia.

»Ich auch«, behauptete Kastner.

*

Nach dem Telefonat mit Claudia griff Kastner nach der Ermittlungsakte und setzte sich in den Biergarten. Bis auf zwei rauchende Küchenhilfen, die unter dem Dachvorsprung mit gedämpften Stimmen ein gestenreiches Gespräch führten, war der Biergarten leer. Die meisten Feriengäste des Grünen Schwans waren Pärchen oder Familien, die tagsüber Ausflüge unternahmen; und die wenigen älteren Herrschaften waren vermutlich zu einem Spaziergang ins Café Jakobsklause aufgebrochen und vor dem auffrischenden Wind in die Gaststube geflohen – am Himmel waren graue Wolken aufgezogen. Kastner bestellte sich einen Cappuccino und einen gedeckten Apfelkuchen und schlug die Akte auf.

Zuvorderst gab es ein kurzes Porträt des Opfers: Julius Imthal, geschieden und kinderlos, war nur fünfundvierzig Jahre alt geworden. Er war gebürtiger Hersbrucker und lebte seit seinem fünften Lebensjahr in Velden an der Pegnitz, zwischen 2007 und 2013 war er mit Zweitwohnsitz in München gemeldet gewesen – er hatte eine Legislaturperiode lang im Bayerischen Landtag gesessen. Als nächste Angehörige war eine Tante mütterlicherseits vermerkt, eine achtzigjährige Dame namens Doris Rittmann, welche die Leiche ihres Neffen im rechtsmedizinischen Institut in Erlangen identifiziert hatte – ohne sonderliche Gemütsregung, wie jemand, vermutlich KK Bauer, handschriftlich mit blauem Kugelschreiber ergänzt hatte, dafür aber mit großem Interesse an der Frage, ob der Freistaat Bayern ihr die Auslagen für die Anreise erstatten würde. Die Handschrift des Hersbrucker Kommissars war markant: Die Großbuchstaben standen aufrecht wie Soldaten beim Appell, die kleinen drängten sich aneinander wie frierende Pinguine bei starkem Westwind.

Kastner blätterte um, fand aber nur noch die grobkörnige Kopie eines Fotos, das vermutlich aus Imthals Personalausweis herausvergrößert worden war – die Frontalansicht eines blassen, für einen Mittvierziger recht kindlich wirkenden Gesichts, an dem außer der professoralen Hornbrille nur auffiel, dass es absolut unauffällig aussah.

Da blieben viele Fragen offen, selbst wenn man, wie Kastner, durch das Insiderwissen von Martinas Mitarbeiter Rudi über einige ergänzende Informationen verfügte. Gab es eine Freundin oder Lebensgefährtin? Ärger mit der Exfrau? Enge Freunde oder erklärte Feinde? Irgendwelche politischen Skandale? Wie stand es um Imthals Finanzen?

Der Kellner brachte Kaffee und Kuchen.

Kastner bedankte sich, schlürfte den Milchschaum vom Cappuccino und überdachte seine Möglichkeiten. Claudia, die ihm ruck, zuck ein ausführliches Dossier über das Opfer erstellt hätte, wollte er nicht anrufen, und Kommissar Bauer schon am Tag nach dem Leichenfund mit Nachfragen zu nerven, erschien ihm auch keine gute Idee. Glücklicherweise entdeckte er auf seinem neuen Smartphone einen Button, der eine Verbindung mit dem World Wide Web verhieß – eine Institution, die vermutlich mehr über Imthal wusste als Kommissar Bauers Ermittlungsteam. Er tippte hoffnungsvoll mit dem Zeigefinger darauf. Das Handy verlangte umgehend und in recht strengem Ton nach einem drei Megabyte schweren Update, persönlichen Zugangs­daten und einer achtstelligen Identifikationsnummer.

Kastner schaltete das Gerät kopfschüttelnd aus. Der Wettlauf zwischen menschlicher und künstlicher Intelligenz um die Weltherrschaft hatte in seinen Augen eine kritische Phase erreicht – wer hier die Hosen an und wer zu dienen hatte, war längst nicht mehr klar. Die banale mechanische Fähigkeit, der siliziumbasierten Denkkonkurrenz gelegentlich den Stecker zu ziehen, schien ihm eines der letzten Bollwerke menschlicher Überlegenheit zu sein. Vermutlich war es ein Kampf gegen Windmühlen, aber Kast­ner war entschlossen, seine Haut so teuer wie möglich zu verkaufen.

Er blätterte weiter durch die Ermittlungsakte und überflog die Personalien und Aussagen der Kräuterfreunde.

Die Kursleiterin – eine dreiundvierzigjährige Umwelt­pädagogin namens Isabel Lindemann – war verheiratet, hatte elfjährige Zwillingstöchter und wohnte im Eschenbacher Nachbardorf Fischbrunn. KK Bauer hatte handschriftlich ergänzt: Der zugehörige Ehemann hat sich vor sechs Monaten auf die Kanarischen Inseln abgesetzt und zahlt keinen Unterhalt.

Nicht eben die feine englische Art, dachte Kastner.

Frau Lindemann hatte ihre Kursteilnehmer am Ostermontag wie geplant gegen neun Uhr morgens im Grünen Schwan abgeholt. Sie waren zu elft aufgebrochen – ein Ehepaar namens Mücke hatte sich mit einer akuten Grippe entschuldigt. Im Wengleinpark waren ihnen andere Naturfreunde und Wanderer begegnet: am Abzweig zum Salamanderweg ein Berufskollege von Frau Lindemann, der mit einer Gruppe aus einer inklusiven Kinderbetreuungseinrichtung unterwegs war; zwischen Hartmannshofer Hütte und Infohaus eine gemischte Wandergruppe mit einem großen, schwarzen Hund; am Malerwinkel zwei junge Frauen, die nach dem Weg gefragt hatten – sie wollten nach Vorra, ins Pegnitztal hinunter. Alle waren auf dem Weg bergab, hatte KK Bauer notiert.

Zwischen elf Uhr dreißig und elf Uhr fünfundfünfzig hatten die Kräuterfreunde an der Luisenhütte eine Mittagsrast gemacht. Imthal war zu dieser Zeit noch wohlauf gewesen und hatte mit den anderen gevespert und geplaudert – einige erinnerten sich, dass er mit seinem Smartphone fotografiert hatte.

Kastner unterstrich gedanklich das Wort Smartphone.

Nach der Rast war Frau Lindemann an der Luisenhütte geblieben, die anderen waren ausgeschwärmt, um Kräuter zu bestimmen. Von da an verlor sich Imthals Spur im Ungewissen: Niemand konnte (oder wollte) sich erinnern, ob er allein oder in Begleitung aufgebrochen war oder welche Richtung er eingeschlagen hatte, und niemand wollte ihn nach der Rast noch einmal getroffen oder eine Nachricht von ihm erhalten haben. Bis, etwa um zwölf Uhr dreißig, eine Nadja Lipinski – siebenunddreißig, ledig, Heilpraktikerin und wohnhaft in Fürth/Bayern – seinen leblosen Körper bemerkte.

Kastner las Nadja Lipinskis Aussage. Offenbar hatte die Frau einen Schock erlitten, als ihr nach einigen Minuten klar wurde, dass der Mann am Wegkreuz sowohl tot als auch ein Kurskollege war. Auf Bauers Frage, ob sie sich über den Toten gebeugt oder ihn berührt habe und ob ihr sein Rucksack aufgefallen sei, hatte sie geantwortet: Ich weiß es leider nicht, das ist alles wie hinter einer schwarzen Wand. Ich glaube, ich habe zuerst laut geschrien, und dann ist mir schlecht geworden. Irgendwann war Jörg da und hat versucht, mich zu beruhigen.

Er blätterte weiter und überflog die Aussage von Jörg Ott, einem achtundvierzigjährigen Einzelhandelskaufmann aus Nürnberg: Die arme Nadja sei nahezu hysterisch gewesen, als er sie etwa zwei, drei Minuten nach ihrem lauten Schrei am Wegkreuz gefunden habe. Sie habe gezittert wie Espenlaub. Ja, er habe sich die Leiche aus der Nähe angesehen und auch den zerfledderten Rucksack bemerkt, und nein, er habe nichts angefasst …

Aha, dachte Kastner. Er nippte an der Kaffeetasse und verzog den Mund – der Cappuccino hatte inzwischen zum Eiskaffee umgeschult.

»Darf ich mich zu Ihnen setzen?«, fragte jemand und nahm, ohne eine Antwort abzuwarten, auf der Bierbank gegenüber Platz. »Wir haben uns gestern im Wengleinpark getroffen, bei dem Absperrband – Sie erinnern sich?«

Kastner erinnerte sich natürlich – der Walrossbart war unverkennbar, obwohl der Senior heute einen grauen Trachtenjanker über dem rot karierten Hemd trug.

»Hermann Dennerlein«, stellte der Mann sich vor und lüpfte einen imaginären Hut. Sein Blick streifte Kastners Kuchenteller, ehe er sich neugierig an der Ermittlungsakte festsog.

Kastner schlug die Akte zu und legte sie mit der Rückseite nach oben beiseite – auf der Vorderseite standen die mit schwarzem Filzstift geschriebenen und einer verdeckten Ermittlung nicht eben zuträglichen Worte Todesfall Im­thal/Wengleinpark.

Dennerleins Blick wanderte geschmeidig zurück auf Kastners Teller. »Der Kuchen sieht sehr lecker aus … Sie machen hier Urlaub? Ein paar freie Tage mit Frau und Kindern, Ausflüge, den Frühling genießen?« Er ließ seine Worte in der Luft hängen und sah sich in dem menschenleeren Biergarten um, als hoffe er, Kastners Familie unter einem der Tische versteckt zu entdecken – offenbar gab es ihm zu denken, dass er Kastner nun schon zum zweiten Mal alleine antraf.

»Meine Lebensgefährtin macht mit den Kindern eine Radtour«, verteidigte sich Kastner reflexhaft.

Dennerlein winkte dem Kellner und bestellte sich ebenfalls einen Apfelkuchen, dann deutete er auf die Ermittlungsakte. »Und Sie haben sich ein bisschen Arbeit aus dem Büro mitgenommen?«

»So ist es.«

Dennerlein lächelte. »Das kenne ich – ich habe mehr als dreißig Jahre als Ingenieur bei der KWU in Erlangen gearbeitet, und zwar in einer recht verantwortungsvollen Position. Ich musste mir auch gelegentlich Arbeit mit in den Urlaub nehmen.«

Kastner kramte in seiner Erinnerung. »KWU – Kraftwerk Union? War das nicht ein gemeinsames Tochterunternehmen von Siemens und AEG, das Kernkraftwerke gebaut hat?«

Dennerlein nickte. »Tschernobyl und Fukushima haben die Atomenergie ja etwas in Verruf gebracht«, gab er zu. »Aber wie will man dem Klimawandel begegnen, aus der Kohle aussteigen und CO2-neutral Energie gewinnen, ohne die Kernkraft zu nutzen? Das mag in Deutschland gerade noch funktionieren, aber europaweit ist das reine Illusion.«

»Sie glauben, man braucht den Teufel, um den Beelzebub auszutreiben?«, fragte Kastner. Etwas in Verruf gebracht schien ihm ein witziger Ausdruck. Genauso gut konnte man sagen, dass radioaktiver Müll relativ lang eine eher ungesunde Strahlung absonderte oder dass seine Lagerung ein paar Probleme aufwarf. Vor den Folgen eines Super-GAUs hatten die Kernkraftkritiker schon lange vor Tschernobyl oder Fukushima gewarnt, und von sicherer Endlagerung sprach niemand mehr laut, seit die Schachtanlage Asse voll Wasser gelaufen war und für mindestens fünf Milliarden Euro Steuergelder saniert werden musste. Auch vierunddreißig Jahre nach Tschernobyl tickte noch der Geigerzähler, wenn man sich einen Wildschweinbraten mit Waldpilzen bestellte – im Vergleich zu den toten, an Krebs erkrankten oder heimatlos gewordenen Menschen sicher ein kleines Übel, aber schon für sich genommen ein K.-o.-Argument gegen die Nutzung der Kernkraft, wie Kast­ner fand.

»Ich fürchte, da geht es um Fakten, nicht um den Glauben«, behauptete der Senior. Dann nahm er die Ermittlungsakte wieder ins Visier und fragte: »Was hatten Sie gesagt, machen Sie beruflich?«

Dazu hatte Kastner bisher nichts gesagt, wie Dennerlein vermutlich sehr gut wusste. In der Tat brachten ihn erst die zudringlichen Fragen des ehemaligen KWU-Ingenieurs darauf, dass er sich als verdeckter Ermittler längst eine stimmige Legende hätte zurechtlegen müssen.

»Ich bin Beamter«, erklärte er vage.

»Beamter? Das ist gut. Und Ihre Partnerin hat Verständnis dafür, dass Sie sich Arbeit mit in den Urlaub nehmen?«, fragte Dennerlein und deutete einmal mehr auf die Ermittlungsakte. »Meine Ilse – Gott hab sie selig – hatte leider keins. Das liegt wohl daran, dass Frauen naturgemäß andere Prioritäten setzen.«

Der Kellner brachte Dennerleins Apfelkuchen.

»Das kommt vermutlich auf die Frau an«, sagte Kastner. »Meine Lebensgefährtin ist selbst berufstätig – mit Sachzwängen kennt sie sich ebenso gut aus wie ich.«

»Ach«, seufzte Dennerlein, »ja, ja, das ist der Geist der Moderne. Heutzutage verdienen die Frauen ihr eigenes Geld und lassen sich keine Vorschriften mehr machen.« Er nickte nachdenklich und fügte an: »Mir tun nur die Kinder leid. Die armen Würmer werden in Kitas, Horte und Ganztagsschulen abgeschoben, und dann wundert man sich, wenn sie drogenabhängig und kriminell werden und Egoismus mit einer Wertvorstellung verwechseln.« Er hackte ein Stück von seinem Kuchen ab und schob es sich in den Mund. Sein Walrossbart vibrierte, während er kaute. »Ich verstehe durchaus, dass sich die Frau von heute nach Ausbildung oder Studium nicht mehr an den heimischen Herd verbannen lässt«, gab er preis, nachdem er hinuntergeschluckt hatte, »aber die Bindung zwischen Mutter und Kind ist eine starke natürliche Kraft, die man nicht ungestraft negieren kann.«

Die Frau von heute löste bei Kastner Assoziationen mit adrett ondulierten Damen in gestärkten Haushaltsschürzen aus, die ihren Ernährern mit Tränen in den Augen für die Anschaffung eines Kühlschranks dankten. Wäre Mirjam hier gewesen, sie hätte längst die Augenbrauen gehoben und Dennerlein nach der Rolle der Väter gefragt, die ihre Berufstätigkeit vorschoben, um sich vor der unbezahlten und wenig Renommee versprechenden Familienarbeit zu drücken. Aber Mirjam war nicht hier – sie war mit Claudias Kindern unterwegs und leistete unbezahlte und wenig Renommee versprechende Familienarbeit, um ihm seine Berufstätigkeit zu ermöglichen. Damit ihr Engagement nicht umsonst blieb, wechselte er das Thema.

»Ich bin noch immer geschockt von den gestrigen Ereignissen im Wengleinpark«, behauptete er. »Für Sie muss es noch viel schlimmer sein – Sie hatten gesagt, der Tote war ein Kurskollege von Ihnen?«

Der Rentner biss sofort an. »Das ist richtig«, nickte er. »Es war wirklich furchtbar.« Er referierte einmal mehr über den schönen Tag inmitten der blühenden Natur und über Blut und Knochensplitter.

»Kannten Sie den Mann näher?«

»Näher? Nein. Der Kurs hat ja am Karfreitag erst begonnen, und mehr als ein paar Worte Small Talk habe ich mit Julius nicht gewechselt. Aber glauben Sie mir: Es war auch so schlimm genug! Es hat mich einige Überwindung gekostet, mich über ihn zu beugen und seinen Puls zu fühlen …«

»Ich habe gehört, der Tote war Politiker und aktiver Agrarlobbyist«, unterbrach Kastner. »Er soll sich politisch nicht unbedingt als Naturschützer hervorgetan haben.«

Dennerlein legte den Kopf schief. »Ach, das haben Sie gehört?«

Kastner nickte. »Und nun frage ich mich – ich hoffe, Sie entschuldigen meine Neugier –, warum ein so vielbeschäftigter Freund der Wirtschaft eine ganze Woche Urlaub nimmt, um sich mit heimischen Kräutern zu beschäftigen?«

»Eine gute Frage, die ich leider nicht beantworten kann«, sagte Dennerlein bedauernd. »Ich habe erst nach Julius’ Tod erfahren, dass er Politiker war. Wenn ich mich recht entsinne, hat er gesagt, er arbeitet in der Veldener Stadtverwaltung – ich habe ihn für einen Angestellten oder Sekretär gehalten. Er sah nicht aus wie ein Gemeinderat.«

»Nein?«

»Nein. Unter uns gesagt: Julius sah schon beim Frühstück aus wie ein BWL-Student im vierten Semester, der es sich abends vor dem Fernseher gemütlich gemacht hat – lässig gekleidet und mit einer Tüte Erdnussflips und einem Schoppen Frankenwein bewaffnet. Apropos – ich darf Sie doch auf ein Gläschen einladen?« Es war eine rhetorische Frage, denn er schnippte bereits mit den Fingern nach dem Wirt. »Weiß oder rot?«

»Diese Entscheidung überlasse ich gerne Ihnen«, erklärte Kastner. Er war Biertrinker aus Überzeugung, obwohl Mirjam die Auswirkungen des Gerstensaftes auf seine Figur eher kritisch bewertete. Vergorene Trauben jedweder Farbe und Provenienz lösten Sodbrennen bei ihm aus; und er hatte die Erfahrung gemacht, dass der in einem Gläschen Wein verborgene Alkohol sein Gehirn weit heimtückischer und plötzlicher k. o. schlug als zwei, drei Halbe eines fränkischen Landbieres.

Aber so viel hatte er inzwischen begriffen: Wer verdeckt ermitteln wollte, musste Opfer bringen.

*

Der Biergarten versank im Schatten des späten Nachmittags, die Wolken verdichteten sich und entließen einen kräftigen Schauer. Kastner war dem ebenso großzügig plaudernden wie nachbestellenden Dennerlein in die warme Wirtsstube gefolgt und hatte, um dem steigenden Frankenweinpegel etwas entgegenzusetzen, ein Schnitzel mit Kartoffelsalat geordert. Er bemühte sich redlich, das Gespräch wieder auf den Todesfall im Wengleinpark zu bringen, erfuhr aber mehr über Dennerleins entbehrungsreiche Nachkriegskindheit, die Tablettensucht seiner Tochter Erika und den Werdegang seines einzigen Enkels Lothar – ein so intelligenter Junge, aber leider schwul und in der Gastronomie hängen geblieben – als über den letzten Tag in Imthals Leben.

»So, so«, sagte er, und: »Das ist ja interessant.«

Einige Tische weiter fand sich eine Gruppe unterschiedlichen Alters und Geschlechts zum Abendessen ein – Speisekarten wurden herumgereicht, Getränke bestellt. Dennerlein grüßte hinüber.

»Ach«, sagte Kastner. »Sind das Ihre Kurskollegen?«

Dennerlein nickte. »Die meisten jedenfalls. Mein Bruder Konrad und meine Schwägerin Johanna sind wohl noch unterwegs. Sie wollten am Nachmittag mit dem Zug nach Neuhaus an der Pegnitz fahren – dort soll es ein gutes, kommunal gebrautes Bier geben, sagt Johanna. Mein Bruder und ich sind ja eher Weintrinker …«

Kastner erinnerte sich an eigene, inzwischen mehrere Jahre zurückliegende Ausflüge nach Neuhaus an der Pegnitz, die stets mit erheblichen Promillewerten und dem festen Glauben daran geendet hatten, dass alle Menschen Brüder und Schwestern waren. Das im sechzehnten Jahrhundert an die Neuhauser Bürger verliehene kommunale Brau- und Schankrecht wurde mittlerweile nur noch von wenigen Familien ausgeübt, was dem würzigen Geschmack des ausgeschenkten Bieres, der Heimeligkeit der winzigen Schankräume und der regen Kommunikation zwischen den wild zusammengewürfelten und eng zusammengepferchten Einheimischen und Auswärtigen aber keinen Abbruch tat. Dass man von Bier betrunken werden konnte, war Kastner bekannt gewesen; dass es einen auch glücklich machen konnte, hatte ihn erst das Neuhauser Kommunbräu gelehrt.

»Es wundert mich, dass Sie und Ihre Kurskollegen noch hier sind«, sagte er. »Will man nach einem so schrecklichen Erlebnis nicht möglichst schnell die Heimreise antreten?«

Dennerlein zuckte die Achseln. »Die Polizei hat uns gebeten, uns in den nächsten Tagen zur Verfügung zu halten«, erklärte er. »Wir haben das in der Gruppe besprochen und beschlossen, den Kräuterkurs ab morgen weiterlaufen zu lassen. Die Zimmer und der Tagungsraum sind gebucht, die Kursgebühren sind bezahlt – und es ist allemal besser, sich sinnvoll zu beschäftigen, als nur grübelnd herumzusitzen.«

»Sie sollen sich zur Verfügung halten? Heißt das, Sie und Ihre Kurskollegen stehen unter Verdacht?«

Dennerlein winkte ab. »Bei Mord und Totschlag geht es meist um etwas Persönliches – Geld, Rache, Eifersucht … So nahe standen wir Julius nicht, wir kannten ihn ja erst seit drei Tagen. Vermutlich will die Polizei nur allgemeine Fragen klären: die Zeitabläufe am Tattag, verdächtige Beobachtungen …«

»Sie sehen das bemerkenswert sachlich«, stellte Kastner fest.

Der Walrossbart zuckte die Achseln und schenkte Wein nach – er hatte sich für einen Weißen Silvaner entschieden. »Warum auch nicht?«

»Weil ein Mörder frei herumläuft?«, schlug Kastner vor.

Dennerlein schmunzelte. »Sie denken an einen Irren, der mit Schaum vor dem Mund durch den Wald läuft und wahllos Naturfreunde ermordet? Nein, für solche Szenarien fehlt es mir entschieden an Fantasie. Wer immer den armen Julius erschlagen hat, hatte sicher einen Grund dafür – zumindest in seinen eigenen Augen. Inzwischen weiß ich, dass Julius als Politiker sehr dezidierte Ansichten vertreten hat. Damit macht man sich notgedrungen Feinde.«

Der Kernkraftbefürworter Dennerlein schien zu wissen, wovon er sprach.

Kastner nippte an seinem Wein. Er schmeckte muffig, mit Randaromen von Schwefelwasserstoff und getragenen Socken; im Abgang erschloss er dem Gaumen ein Potpourri schwebender Nuancen, die Kastner an seine letzte Beziehungskrise erinnerten: Kurz vor der Abfahrt in die Oster­ferien hatte Mirjam ihn gebeten, den verstopften Siphon der Küchenspüle zu reinigen. Er war diesem Ansinnen ebenso klaglos wie willig nachgekommen, hatte aber vergessen, einen Eimer unter den Abfluss zu stellen, ehe er die verschlungenen Plastikrohre mit roher Gewalt voneinander getrennt hatte …

»Ein guter Tropfen, nicht wahr?«, lächelte Dennerlein. »Hervorragender Jahrgang, in einem Eichenfass gereift, und alles bio. Den fränkischen Weinbauern kommt der Klimawandel entgegen, das muss man auch mal sagen dürfen. Volle Sonne und steiniger Boden – das ist dem Wein gerade recht. Man muss natürlich die richtigen Rebsorten anbauen …«

»Um noch einmal auf Julius Imthal zu kommen«, unterbrach Kastner den vinophilen Redeschwall des Seniors. »Wenn der Mörder kein persönliches, sondern ein politisches Motiv gehabt hat, dann sind Ihre Kurskollegen als Verdächtige doch wieder im Rennen!«

Dennerlein schüttelte den Kopf. »Das scheint mir weit hergeholt – meine Kurskollegen sind allesamt ganz harmlose junge Leute. Wollen Sie sie kennenlernen? Wir können uns zu ihnen hinübersetzen.«

*

Mirjam und die Kinder kamen gegen achtzehn Uhr an. Kast­ner saß inmitten der Kräuterfreunde und hatte es aufgegeben, die von Dennerlein bestellten Schoppen zu zählen – die Gaststube war in eine spiralnebelförmige Drehbewegung geraten, die an den Rändern zunehmend unscharf wurde. Er war froh, oben und unten noch grob voneinander unterscheiden zu können und in dem massiven Wirtshaustisch einen Verbündeten gegen den Mahlstrom der Erdan­ziehung gefunden zu haben.

»Prost!«, sagte Dennerlein und hob sein Weinglas.

»Porst!«, erwiderte Kastner und bemühte sich, eines der beiden Gläser zu treffen, die der doppelte Schnauzbart ihm zweihändig hinhielt.

»Ich heiße Hermann«, sagte Dennerlein und tätschelte ihm vertraulich die Schulter.

»Kastner«, gab Kastner zurück.

»Kastner? Das ist ja wohl kein Vorname.«

»Dasisrichtich«, bestätigte Kastner. Er hatte den Eindruck, dass seine Stimme ein wenig verschwommen klang, und fügte deshalb etwas lauter an: »Stimmtgenau.«

»Was ist denn hier los?«, fragte jemand aus dem Off und fuhr, ohne das geringste Interesse an einer Auskunft erkennen zu lassen, fort: »Ich hab in den letzten Stunden gefühlte hundert Mal deine Handynummer gewählt, Kastner, ich hab dir dreimal auf die Mailbox gequatscht, dreimal!, und dich inständig gebeten, uns am Bahnhof in Hohenstadt abzuholen. Es schüttet in Strömen, falls dir das entgangen ist! Die Kinder sind klatschnass! Wenn du schon dein Handy ausschaltest, warum hörst du dann nicht wenigstens deine verdammte Mailbox ab?!«

Kastner versuchte den Kopf zu drehen, aber einer seiner Nackenwirbel schien sich versteift zu haben.

»Bisudas, Hase?«, erkundigte er sich über die Schulter. Die Antwort waren ein kühler Luftzug und das Knallen einer Tür.

»Eine Frau mit Temperament«, schmunzelte Hermann.

Das konnte Kastner bestätigen.

Fränkisches Pesto

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