Читать книгу Heimat - Susanne Scharnowski - Страница 8

Heimat: Schlüsselwort, Reizwort und Kampfbegriff

Оглавление

Es war ein Symposion, gewidmet dem Thema »Heimat«, und da geschah es, daß eine berühmte Schriftstellerin, berühmt auch für die kritische Schärfe ihrer Auffassung, ans Podium trat und mir nichts, dir nichts dem aufgewühlten Publikum sagte, Heimat sei überhaupt so etwas Dummes, das ein aufgeklärter Mensch nicht brauche und sie jedenfalls schon gar nicht. Da wurde es ganz ehrfürchtig vor kritischer Zustimmung im Saal, hast du’s gehört, sie braucht keine Heimat, auch wir wollen sie nicht mehr brauchen müssen.

(Karl-Markus Gauß: Ach so)

Seit einigen Jahren vergeht kaum ein Tag ohne eine neue Wortmeldung zum Thema ›Heimat‹. Eine scheinbar klare Trennlinie verläuft dabei zwischen jenen, die das Wort ›Heimat‹ für harmlos halten, verteidigen oder für politische Zwecke nutzen wollen, und jenen, die Heimat als mindestens problematischen, schlimmstenfalls gefährlichen Begriff betrachten. Das zeigt sich auch in der politischen Sphäre. Zwar suchen fast alle Parteien (mit Ausnahme der Liberalen) eine Haltung zu dem Begriff, hauptsächlich wohl, weil er für 90 Prozent der Deutschen wichtig ist, wie eine Umfrage ergab. Doch nicht allen fällt das leicht: Während die AfD unbekümmert mit dem Slogan »Dein Land. Deine Heimat« warb und CDU und CSU Heimatministerien ins Leben riefen, wollte die SPD den Begriff lieber im Plural benutzen, die Linke ihn progressiv besetzen, und die Grünen zeigten sich gespalten. Die FDP ließ ihre Kampagne im Bundestagswahlkampf 2017 immerhin von einer Werbeagentur namens ›Heimat‹ gestalten. Generell kann man sagen: Für die politische Linke ist Heimat ein Reizwort, das zuverlässig Abwehrreaktionen auslöst, gewiss auch, weil es nicht nur Konservativen, sondern auch Rechtsextremisten so leicht über die Lippen geht. Die NPD bezeichnet sich selbst als »Die soziale Heimatpartei«, und unter dem Namen »Thüringer Heimatschutz« agieren Neonazis. Auch deshalb wünschen viele, die sich politisch links verorten, das Wort zum Teufel und meinen, man sollte »den Begriff der Heimat unbedingt dem rechten Rand überlassen«.1 Andere meinen wiederum, dass die Linken den Begriff neu definieren, progressiv besetzen und ein internationalistisches, europäisches und weltoffenes Konzept von Heimat entwerfen sollten.2

Doch so unversöhnlich die Verteidiger und die Gegner der Heimat einander auch gegenüberstehen mögen: Ihre Gedanken beruhen auf ähnlichen Missverständnissen darüber, was unter Heimat zu verstehen ist. Zudem drehen sich die Debatten über Heimat um einen ausgesprochen beschränkten Kreis von Themen; wenn historisch argumentiert wird, so geschieht dies immer nur isoliert mit Blick auf die deutsche Geschichte und mit einem äußerst engen Fokus auf die immer gleichen Epochen Romantik, Industrialisierung und Nationalsozialismus. Auch deshalb bewegen sich die Debatten mit ihren Unterstellungen und Verteidigungsversuchen letztlich im Kreis. Um aus dieser Kreisbewegung hinauszukommen und sich der Frage zu stellen, ob Heimat im 21. Jahrhundert doch noch eine Bedeutung haben kann, gilt es, die Missverständnisse zu benennen, so weit als möglich zu beseitigen und den Blick zu weiten. Dazu möchte das vorliegende Buch beitragen.

Missverständnisse über die Heimat beruhen meist auf Verengungen oder Verzerrungen der Perspektive, der Vereinfachung oder Ausblendung von Sachverhalten und Begriffsvermischungen. Das zeigt sich schon bei der Debatte der Gegenwart: Seit 2015 wird über Heimat vor allem im Zusammenhang mit Zuwanderung diskutiert und der Horizont meist auf die Frage verengt, wie alteingesessene Deutsche mit Migranten umgehen. Dabei wird oft unterstellt, wer sich um seine Heimat besorgt zeige, sei den Fremden gegenüber feindlich eingestellt oder wolle sich abschotten; wer dagegen weltoffen sei, so die Logik, könne gut und gerne auf Heimat verzichten. Tatsächlich aber ergab eine Allensbach-Umfrage, dass viele Deutsche ihre Heimat aus ganz anderen Gründen bedroht sehen, etwa weil »alteingesessene Geschäfte schließen und dafür die immer gleichen Filialen großer Einkaufsketten aufmachen«, weil sich »alles immer schneller verändert« oder weil »Traditionen nicht bewahrt und gelebt werden«. Dieser Aspekt kommt in politischen Diskussionen aller dings kaum zur Sprache. Über das gesamte politische Spektrum wird Heimat stattdessen immer wieder mit ›Volk‹, ›Nation‹ und ›Vaterland‹ vermengt oder gar gleichgesetzt,3 und das, obwohl bei der besagten Umfrage nur 7 Prozent der Befragten ›Deutschland‹ als ihre Heimat bezeichneten.4 Aus dieser Vermengung ergibt sich auch das folgenschwerste Missverständnis über Heimat: die Behauptung, Heimat sei ein irrationales, völkisches, von den Romantikern erfundenes Konzept, von dem sich eine direkte Linie zur Blut-und-Boden-Ideologie der Nationalsozialisten ziehen lasse. Die Begriffsverwirrung, die aus der Vermischung von Heimat, Volk und Vaterland, Nation, Nationalismus und Nationalsozialismus resultiert, wird zuweilen gezielt genutzt, um Heimat überhaupt zu diskreditieren.

In vielen Köpfen hat sich überdies die Vorstellung festgesetzt, das Wort ›Heimat‹ müsse allein schon deshalb typisch deutsch sein, weil es in anderen Sprachen so nicht existiere. Die vermeintliche Unübersetzbarkeit gilt als Beleg dafür, dass Heimat ein deutsches »Urwort«5 sei, das »in keinem anderen Land so zentrale Bedeutung«6 habe. Auch deshalb kreist die Debatte über Heimat meist ausschließlich um deutsche Geschichte, deutsche Politik, deutsche Gesellschaft und deutsche Kultur, ohne dass auch nur gefragt würde, ob es in anderen Sprachen und Ländern Äquivalente gibt. Diese sonderbar anachronistische Mischung aus Essentialismus und strikt nationaler Sicht findet sich erstaunlicherweise gerade auch bei jenen, die den deutschen Nationalismus kritisieren wollen. Die Engführung von deutscher Nation und Heimat und die Beschränkung auf die nationale Perspektive ziehen eine weitere Verengung und Verzerrung nach sich: Als Grund für das mit dem Wort ›Heimat‹ verbundene Unbehagen wird oft der propagandistische Missbrauch des Begriffs durch die Nationalsozialisten angeführt. Statt aber diesen Missbrauch kritisch zu analysieren – immerhin zeichnet sich politische Propaganda ja generell dadurch aus, dass sie positiv besetzte Vorstellungen und Begriffe wie Freiheit, Gerechtigkeit oder Frieden bewusst für ihre Zwecke einsetzt –, wird aber oft der Einfachheit halber das Missbrauchte selbst unter Verdacht gestellt. Aus dieser verkürzenden Perspektive erscheint dann nicht die nationalsozialistische Vereinnahmung der Heimat, sondern die Gesellschaft, die sich unter diesem Begriff versammelt, als »potentiell mörderisch«7, oder es wird behauptet, schon die »Bindung an eine Herkunft« lasse »das Grauen unmittelbar entstehen«.8

Man kann sich leicht ausmalen, dass es fatale politische und gesellschaftliche Konsequenzen hat, wenn Journalisten, Politiker, Schriftsteller und Wissenschaftler ein Wort unter Generalverdacht stellen, mit dem die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung ausschließlich Positives verbindet. Schon deshalb sollte man es nicht bei diesen Vereinfachungen, Verengungen, Vermischungen und Verzerrungen bewenden lassen. Auch die Kultur- und Debattengeschichte der Heimat muss differenzierter betrachtet werden, denn Heimat ist tatsächlich ein Schlüsselwort, dessen Bedeutung sich allerdings aus seiner langen Überlieferungs- und Diskursgeschichte ergibt, nicht aus seiner angeblichen Unübersetzbarkeit. Schlüsselwörter einer Kultur bedürfen bei der Übersetzung immer zusätzlicher Erläuterungen, ob es sich nun um deutsche Wörter wie Gemütlichkeit oder eben Heimat handelt, um das portugiesische ›saudade‹, das französische ›esprit‹ oder das englische ›common sense‹. Wer meint, ›Heimat‹ gebe es so nur auf Deutsch, will damit vielleicht auch sagen, allein die Deutschen hätten eine »besonders innige Beziehung […] zu dem Ort, an dem sie aufgewachsen sind«.9 Dabei würde schon ein Blick auf das russische Wort (»rodina«: Heimat, Vaterland) zeigen, dass Kulturvergleiche zumindest lohnen würden. Man sollte sich zudem bewusst machen, dass die Gedankenfigur der Unübersetzbarkeit auf den Nationalismus des 19. Jahrhunderts zurückgeht: Damals betonten etwa auch tschechische, polnische oder russische Dichter und Intellektuelle, dass es in ihren Sprachen jeweils ein besonderes und ›radikal‹ unübersetzbares Wort für ›Heimweh‹10 gebe.

Dennoch eröffnet das Schlüsselwort ›Heimat‹ einen Zugang zum kulturellen Gedächtnis der deutschen Gesellschaft, nicht nur, weil es ein fundamentales Verhältnis zwischen Mensch und Welt beschreibt, sondern auch deshalb, weil es besonders in Krisenzeiten Konjunkturen erlebt, in den verschiedensten Kontexten auftaucht und ein entsprechend breites Bedeutungsspektrum aufweist: Heimat spielte im Lauf der Jahrhunderte eine Rolle in der Religion, im Recht, in der Literatur, in der Philosophie, in Architektur und Stadtplanung, im Natur- und Umweltschutz, wurde für Staatspropaganda benutzt und von Protestbewegungen verwendet, verteufelt, verklärt und geschmäht, vergessen, wiederentdeckt und missbraucht. Um ein umfassendes Bild der Bedeutungen und Verwendungszusammenhänge zu erhalten, verbreitete Missverständnisse auszuräumen und um zu zeigen, dass ›Heimat‹ in unterschiedlichen historischen und politischen Zusammenhängen auch neue Bedeutungen, Dimensionen und Funktionen annimmt, genügt es daher nicht, sich isoliert mit der Darstellung von Heimat in Literatur, Kunst, Film und Werbung oder mit dem Topos Heimat in der Philosophie sowie in politischen oder gesellschaftlichen Debatten zu beschäftigen. Es gilt, Texte und andere Medien aus unterschiedlichen Wissensgebieten und Lebensbereichen miteinander in Beziehung zu setzen, im jeweiligen historischen und soziokulturellen Kontext zu analysieren und zu untersuchen, welche Akteure mit welchen expliziten oder impliziten politischen oder ideologischen Absichten sich jeweils auf Heimat berufen. So lässt sich eher eingrenzen, in welchen Zusammenhängen von genuinen Heimatbedürfnissen oder Heimaterfahrungen ›von unten‹ auszugehen ist und wann eher von einer Heimatideologie ›von oben‹ gesprochen werden muss.

Für dieses Buch wurden deshalb literarische und philosophische Texte, Manifeste, Polemiken, Zeitungs- und Zeitschriftenartikel, Wahlplakate, Spiel- und Propagandafilme, Fernsehserien, Fotografien, Werbetexte, Reiseführer, Texte über Agrargeschichte, Architektur und Stadtplanung, Naturschutz, Klimawandel und Tourismus, Zeitungs- und Zeitschriftenartikel, geschichts-, literatur- und filmwissenschaftliche, soziologische und politikwissenschaftliche Studien betrachtet, um festzustellen, in welchen Zusammenhängen gesellschaftliche Leitdiskurse Heimat beschwören und in welchen Kontexten Heimat anders konnotiert und in kritischer Absicht gegen Leitdiskurse ins Feld geführt wird. Eine herausgehobene Rolle nehmen bei dieser Untersuchung Darstellungen von Heimat in Literatur und Film ein, nicht nur, weil die Autorin Literaturwissenschaftlerin ist, sondern auch aus sachlichen Gründen: Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein prägten Sprache und Ideen der Hochliteratur die politischen, gesellschaftlichen und ästhetischen Debatten; Vorstellungen von Heimat im 19. Jahrhundert wurden in der Literatur geformt und durch sie verbreitet. Seit der Entwicklung der Kulturindustrie im späten 19. Jahrhundert lassen sich an literarischen Bestsellern, seit den 1920er-Jahren auch an den großen Kinoerfolgen Sehnsüchte und Befürchtungen von Gesellschaften ablesen: Die Heimatliteratur um 1900 und der Heimatfilm der 1950er-Jahre sind Paradebeispiele dafür, wie Literatur und Film kollektive Ängste und Wunschträume aufnehmen, widerspiegeln und verarbeiten. Spielfilme waren überdies im Nationalsozialismus wie auch im Sozialismus bevorzugtes Medium für politische Propaganda.

Auch für dieses Buch wurden vor allem deutsche Quellen untersucht; immerhin geht es darum, Aufklärungsarbeit über ein deutsches Schlüsselwort zu leisten. Daneben werden aber immer wieder – vor allem bei der Untersuchung der Kulturgeschichte seit den 1960er-Jahren – Blicke auf Texte, Debatten und Filme aus England und den USA geworfen. So wird zum einen der Blick geweitet und darauf hingewiesen, dass es das Konzept Heimat nicht nur im deutschsprachigen Raum gibt. Zum anderen aber ist die Debatte um Heimat vor allem seit dem Zweiten Weltkrieg unauflöslich verknüpft mit Debatten um das Lokale und das Globale, die nicht ohne Bezug zu den USA auskommen, zumal der Einfluss vor allem der US-amerikanischen Politik und Populärkultur natürlich nicht auf die USA beschränkt ist.

Das Buch hat zwei Hauptteile: Die fünf Kapitel des ersten Teils gehen chronologisch vor und zeichnen die Kultur-, Diskurs- und Bedeutungsgeschichte der Heimat bis in die 1950er-Jahre nach. Das erste Kapitel erläutert, warum es verfehlt ist, die emotionale Aufladung des Wortes ›Heimat‹ der Romantik zuzuschreiben. Das zweite Kapitel weist nach, dass moderne Vorstellungen von Heimat entscheidend von einem heute fast vergessenen deutsch-jüdischen Schriftsteller des Vormärz geprägt wurden. Das dritte Kapitel zeigt, dass die deutsche Heimatbewegung um 1900 weder von vornherein ausschließlich als völkische Bewegung zu lesen ist noch als rein deutsches Phänomen gelten kann: Auch in anderen Ländern entstanden Bewegungen, die sich gegen die Auswirkungen der Industrialisierung richteten. Das vierte Kapitel zeichnet nach, wie Heimat in Kolonialismus, Erstem Weltkrieg und Nationalsozialismus zur Ideologie wurde, die sich für politische Propaganda einsetzen ließ. Das fünfte Kapitel demonstriert, wie das umkämpfte Konzept Heimat in der Nachkriegszeit von Stadtplanern, Vertriebenenverbänden, Politikern in West und Ost, aber auch von der Kulturindustrie kritisiert, vereinnahmt, neu definiert, idealisiert oder instrumentalisiert wurde.

Der zweite Teil des Buches stellt gesellschaftliche Debatten und kulturelle, soziale und politische Entwicklungen seit den 1960er-Jahren dar, in denen Heimat relevant wurde. Hier wird erläutert, wie Heimat mit Kitsch zusammenhängt und warum Texte über Heimat so oft mit Bildern von Gartenzwergen illustriert werden; warum Nostalgie ebenso schlecht beleumundet ist wie Heimat und wie es dazu kam, dass in den 1970er-Jahren eine linke Heimatbewegung entstand; wie die relativ neue Idee, Heimat sei ein Gefühl, mit der Entwicklung der hypermobilen, individualistischen und hedonistischen Erlebnisgesellschaft zusammenhängt; warum es ein Unterschied ist, ob wir von der Welt oder von der Erde als Heimat sprechen, und warum Heimat für amerikanische Umweltaktivisten wichtig ist. Schließlich wird dafür plädiert, Heimat als Ort zu verstehen, um das politische und gesellschaftliche Potenzial eines zeitgemäßen Heimatbegriffs aufzuzeigen.

Das wichtigste Ergebnis dieser Untersuchung besteht in der Erkenntnis, dass auch die deutsche Heimat sehr viel weniger mit Nation und Staat zu tun hat, als immer wieder unterstellt wird. ›Heimat‹ erscheint eher als Gegenbegriff zu Fortschritt und Moderne, als Reaktion auf die in Deutschland besonders drastischen technisch-industriellen Modernisierungsschübe und Umbrüche, weniger als Gegenteil von ›Fremde‹, sondern eher als Gegenpol zur Entfremdung. ›Heimat‹ bündelt all das, was durch gesellschaftliche Umbrüche und technisch-industrielle Umwälzungen als bedroht wahrgenommen wird: Tradition, Geborgenheit, Gemeinschaft, Bindung, Stabilität, Nähe, Sicherheit, Vertrautheit, Harmonie, Überschaubarkeit und nicht zuletzt Natur und Landschaft. Doch die Konjunkturen von Heimat, auf die sich oftmals berief, wer sich, meist eher erfolglos, den Kräften von Liberalisierung, Fortschritt, Industrialisierung, Modernisierung, Individualisierung und Flexibilisierung entgegenstellte, flauten in der Regel wieder ab. Im alten Wettstreit zwischen Stadt und Land, Fortschritt und Heimat, Neu und Alt unterlagen meist das Land, das Alte und die Heimat. Denn gerade in der deutschen Kulturgeschichte waren zumindest seit dem 19. Jahrhundert – anders, als Heimatskeptiker es sehen – der Wunsch nach Entgrenzung, die Sehnsucht nach dem großen Ganzen und der Drang in die weite Welt sowie der Hang zu Fortschritt, Eroberung und Naturbeherrschung stärker als die Verwurzelung in Land, Erde, Natur, Tradition und Heimat. Kein literarischer Text illustriert dies besser als das deutsche Nationalbuch, Goethes Faust: Im ersten Teil schlägt Mephistopheles Faust, der das Jugendelixier in der Hexenküche skeptisch betrachtet, maliziös vor, er könne stattdessen auch Bauer werden, das Feld beackern und sein Leben »in einem ganz beschränkten Kreise« führen, das hätte auch einen verjüngenden Effekt. Der Intellektuelle Faust weist diese Zumutung entrüstet zurück: »Das enge Leben steht mir gar nicht an.« Am Ende des zweiten Teils erweist sich Faust mit seinem Projekt der Landgewinnung, Kanalisierung und Kolonisierung konsequent als Agent einer destruktiven Moderne, dessen Handlungen die »zerstörerische, menschenmordende Macht der Technik«11 illustrieren. Zerstört wird auch das Leben von Philemon und Baucis, das sich eben in solch ›beschränktem Kreis‹ abspielt, den Faust für sich selbst so entschieden abgelehnt hatte: Das alte Ehepaar verkörpert geradezu das Prinzip der Verwurzelung und Begrenzung. Auch nachdem sein Großprojekt unter Blut, Schweiß und Tränen der Arbeiter vollendet worden ist, kann der maßlose Faust seinen »Weltbesitz« nicht voll und ganz genießen, solange ihm die bescheidene Heimat von Philemon und Baucis im Weg ist. Mit dem Angebot eines anderen Stücks Land will er die beiden zur Umsiedelung bewegen; dass sie seinen Vorschlag ablehnen und genau dort bleiben wollen, wo sie immer schon gelebt haben, kann er partout nicht verstehen, da ihm das Bedürfnis nach Heimat und Verwurzelung zutiefst fremd ist. Schließlich kommen Philemon und Baucis in den Flammen ums Leben, nachdem Mephisto – wenn auch ohne Fausts ausdrücklichen Auftrag – die Hütte der beiden in Brand steckt.

Auch das Unheil der deutschen Geschichte wurzelt nicht in der Bindung an die Heimat, sondern eher in dem Drang zur Expansion, der während des deutschen Imperialismus und Kolonialismus, vor allem aber im Nationalsozialismus denn auch als »faustische Ideologie«12 verherrlicht wurde. Man könnte noch einen Schritt weiter gehen und die These aufstellen, dass es in der deutschen Geschichte nicht etwa ein Zuviel an Heimat gibt, sondern eher einen Mangel. Die stete Rede über Heimat wäre dann eher Symptom einer Leerstelle statt Ausdruck von Gewissheit. Die folgenden Ausführungen werden sich bemühen, diese Thesen zu untermauern.

Ein Hinweis zu den Anmerkungen: Diese geben in der Regel lediglich die Quellen der Zitate an; bei mehreren aufeinanderfolgenden Zitaten aus einer Quelle finden sich Fußnote und Angabe erst nach dem letzten Zitat.

Heimat

Подняться наверх