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Heimat in der Ferne: Der Wanderer über dem Nebelmeer

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… o glücklich ist der, der bald die enge Heimat verläßt, um wie der Vogel seinen Fittich zu prüfen und sich auf unbekannten, schöneren Zweigen zu schaukeln.

(Ludwig Tieck: Franz Sternbalds Wanderungen)

Das ikonische Bild der deutschen Romantik schlechthin, Caspar David Friedrichs Wanderer über dem Nebelmeer, ist auch eine beliebte Illustration für deutsche Schlüsselthemen. Auf dem Titel des Spiegel zum 8. Mai 1985 sah man den Wanderer umgeben von Symbolen des NS-Regimes und der DDR. Im Oktober 2015 stand er auf dem Stern einer Gruppe Flüchtlinge gegenüber. Auf der Zeitschrift Cicero im Juni 2016 ließ der ›Wanderer‹ seinen Blick über ein Meer von Windrädern schweifen. Im März 2017 gab es in der Welt ein Interview mit Wolfgang Schäuble über die Frage »Was ist heute deutsch?« samt Collage, die Schäuble in der Position des ›Wanderers‹ zeigte. Auch das Heft von ZEITGeschichte zum Dauerthema Was ist deutsch? vom Oktober 2018 hatte wieder den Wanderer auf dem Titel. Und selbstverständlich dient das Motiv auch als Illustration für das Thema Heimat: Im Dezember 2016 prangte auf dem Spiegel Wissen zum Thema die von Friedrichs Gemälde inspirierte Fotografie eines jungen Mannes, der über Wolken hinweg auf schneebedeckte Gipfel blickt. Friedrichs Wanderer, Romantik, Natur, Deutschland und Heimat gehören in der deutschen Vorstellungswelt untrennbar zusammen.

Schon die Romantik selbst gilt ja als typisch deutsch und wurde in Deutschland lange als »Erzeugnis des deutschen Geistes«1 verstanden; noch 2007 erklärte Rüdiger Safranski die Romantik zu einer »deutschen Affäre«. Vielleicht hält sich auch deshalb hartnäckig die Vorstellung, eine spezifisch deutsche Idee von Heimat habe ihren Ursprung in der Romantik. Immer wieder begegnet man Abwandlungen dieser These: »[M]it der Frühromantik tritt Heimat erstmals in dem Zusammenhang auf, wie er uns heute vertraut ist: als emotional aufgeladener Begriff, der mit Natur, Landschaft, kleinstädtischem Leben und Dorfidylle zusammenhängt und ganz bestimmte Gefühle und Stimmungen assoziieren läßt: Vertrautheit, Überschaubarkeit, Verwurzelung, Ruhe und Abgesichertheit.«2 Festgeschrieben ist die Verbindung auch in Wikipedia, einer bei Schülern und Studenten beliebten Informationsquelle. Dort wird konstatiert, der Begriff Heimat sei in Deutschland mit der Bewegung der Romantik politisch wirksam geworden.

Begründet wird diese vermeintlich unauflösliche Verbindung oft mit der Behauptung, bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts sei das Wort ›Heimat‹ lediglich »nüchterner Rechtsbegriff und Ortsbezeichnung«,3 »ein nüchternes Wort« ohne »Traulichkeit, Poesie und sentimentale[n]Glanz«4 gewesen, das erst in der Epoche der Romantik emotional aufgeladen und »zu einem diffusen Gefühl, zu einem Rückzug aus der Realität, zu einem Wert an sich«5 geworden sei. Betrachtet man die Sprachgeschichte, ist diese Behauptung allerdings nicht haltbar: Das neuhochdeutsche Wort geht zurück auf das gotische »haims« (Dorf) und das altdeutsche »heimōti« oder »heimote«, was Wohnung oder Heimstatt, aber auch Heimatland oder Vaterland bedeuten konnte. Doch darf man vermuten, dass das Wort ›Heimat‹ auch schon vor der romantischen Ära positiv konnotiert war, wenn man bedenkt, dass das althochdeutsche Wort »elilenti«, das moderne ›Elend‹, zunächst das Gegenteil von Heimat bezeichnete, nämlich Fremde, Verbannung, Ausland oder Exil: Fern der Heimat erging es einem jämmerlich oder elend. Zudem war die mittelalterliche Vorstellungswelt von einer wechselseitigen Durchdringung weltlicher und religiöser Dimensionen geprägt; so fand die Orts-, Natur- und Heimatverbundenheit auch in der Verschmelzung lokaler, agrarisch geprägter heidnischer Bräuche mit christlicher Praxis ihren Ausdruck. Auch in der Sprache verbanden sich konkrete Bezüge zur Lebenswirklichkeit und zur Erde mit religiösen und ideellen Vorstellungen: Elend war auch »das Erdendasein als Ort des Ausgestoßenseins, der Verbannung für den Sündigen«,6 die (jenseitige) Heimat hingegen der Aufenthaltsort der Gläubigen. Demnach halten sich die Menschen nur vorübergehend auf der Erde auf, bleiben Fremdlinge und Wanderer. Im Hebräerbrief etwa heißt es: »Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir« (Hebr. 13/14), und Paulus beschrieb die Pilgerschaft der Christen als einen »Weg aus der Ferne in die Heimat«.7 Vor diesem Hintergrund muss man das Wallfahrts- und Pilgerwesen, die wandernden und kolonisierenden Mönche, aber auch die Kreuzzüge des Mittelalters betrachten; so betont ein Kreuzfahrerlied von 1063: »Das Himmelreich ist die Heimat. Dort werden wir landen, gottlob!«8 Im christlichen Weltbild der Vormoderne ist der Mensch existentiell fremd auf der Welt, seine eigentliche Heimat liegt im Jenseits.

In der Lyrik und in Kirchenliedern des Barocks wird dieses Motiv zum Trost in der Gegenwart des Dreißigjährigen oder ›Großen‹ Krieges, während dessen die Bewohner der deutschen Städte und Dörfer in Angst vor der Gefährdung der Heimat durch Söldner und Marodeure, durch Krieg, Plünderungen und Brandschatzungen lebten oder sich gezwungen sahen, ihre Heimat ganz aufzugeben. Andreas Gryphius beklagte in seinem Gedicht »Tränen des Vaterlandes« die Verheerungen der irdischen Heimat, die durch Gewalt, Seuchen und Hunger entvölkert und verwüstet wurde. Das bekannte Kirchenlied Paul Gerhardts »Ich bin ein Gast auf Erden« beschrieb entsprechend das Erdendasein als geprägt von »Müh und Not« und verortete Vaterland und Heimat »dort droben«, im Himmel. In dem Verb ›heimgehen‹, einem euphemistischen Synonym für ›sterben‹, ist diese Bedeutungsebene noch sichtbar.

Heimat war also ein mehrdeutiges Wort, das zwischen Ortsbindung und Weltverbundenheit einerseits, Wanderschaft und Abwendung von der irdischen Welt andererseits oszillierte, sowohl die Bindung an den irdischen, gegenwärtigen, sinnlich erfassbaren, sozial und geografisch definierten Ort als auch die Auflösung dieser Bindung und die Wendung ins Spirituelle, Zukünftige, Übersinnliche und Imaginäre bezeichnete, das Hier und Jetzt, aber auch ein Nicht-Jetzt, Nicht-Hier oder Noch-Nicht, einen Nicht-Ort, eine Utopie – alles andere also als ein nüchterner Rechtsbegriff.

Aber auch als ganz und gar irdischer Rechtsbegriff bezog sich Heimat auf existentielle Bereiche des Lebens, sodass auch hier mindestens fraglich ist, ob man von einem neutralen Wort sprechen kann: Das Heimatrecht ging unter anderem auf Bettelordnungen des 17. und 18. Jahrhunderts zurück und regelte bis weit ins 19. Jahrhundert hinein vor allem, welche Instanz für die Versorgung der Armen zuständig war. Diese Regelungen wurden durch die wachsende Zahl von Vagabunden und Bettlern in der Frühen Neuzeit notwendig: Die ›Kleine Eiszeit‹ des 17. Jahrhunderts brachte nicht nur Kälte, Dauerregen, Dürreperioden und Missernten mit sich, sondern – zumal in Verbindung mit dem Dreißigjährigen Krieg – auch Armut, Hunger, existentielle Not und Krankheiten. So kam es dazu, dass in den Gemeinden gesellschaftliche Randgruppen stärker ausgegrenzt wurden als noch im Mittelalter. Betroffen waren vor allem Nichtsesshafte: Bettler, Landstreicher, Vaganten, Gaukler, Spielleute, Schausteller, Hausierer, Zigeuner und Kesselflicker. Sie wurden oft als ›herrenloses Gesindel‹ diffamiert und hatten nur begrenzte Rechte. Gesetzliche Regelungen dienten aber nicht nur zur Ausgrenzung, sondern schrieben auch die Fürsorgepflicht der Gemeinden zur Bekämpfung der Armut fest. So sah etwa ein preußisches Edikt aus dem Jahr 1696 vor, dass die Gemeinden verpflichtet waren, sich um alle Armen zu kümmern, die im Ort geboren waren, die das Bürgerrecht erlangt, 10 Jahre lang dort gelebt oder einer Innung angehört hatten.9 Das Heimatrecht – nachzuweisen durch ein Dokument, das als Heimatschein bezeichnet wurde – regelte die Zugehörigkeit zu einem Territorium und war die Basis für Ansprüche und Rechte; noch heute bezeichnen die Schweizer ihren Bürgerrechtsausweis als Heimatschein. Erst im Zuge zunehmender, ökonomisch bedingter Freizügigkeit während der Industrialisierung und der allmählichen Ausgestaltung eines größeren nationalstaatlichen Gebildes wurden diese lokalen Sozialleistungen nach und nach zur gesamtstaatlichen Aufgabe. Das Heimatrecht war also eine frühe Form der Staatsbürgerschaft mit einer Mischung aus Territorial- und Abstammungsprinzip und diente dazu, die Zusammensetzung von Kommunen zu ordnen und zu regulieren. Die Ausgestaltung solcher Regelungen war abhängig von politischen und ökonomischen Faktoren und unterlag Schwankungen, sodass durchaus auch Statusänderungen für Ortsfremde möglich waren: Einen Heimatschein konnte man eben nicht nur durch Geburt, also nach dem Abstammungsprinzip, sondern auch nach längerem Aufenthalt oder durch Heirat erwerben. Kurz: Das Heimatrecht bezeichnet nicht nur die Verbindung zwischen Ort oder Territorium und Individuum, sondern darüber hinaus eine territorial definierte Solidargemeinschaft, in der das Individuum konkrete, auch materielle Ansprüche auf Schutz und Fürsorge geltend machen konnte. Gerade in Zeiten des Umbruchs im 19. Jahrhundert konnte eine so definierte Heimat oder Kommune eine Art Bastion »der sozialen Kontinuität inmitten des sozialen Wandels darstellen«.10 Heimat fungierte als Verbindung und Vermittlungsinstanz zwischen Individuum und Gesellschaft sowie zwischen Individuum und Staat, als behütende und zugleich begrenzende Schicht.

Man sollte also davon ausgehen, dass das Wort ›Heimat‹ schon lange vor der Romantik emotional aufgeladen war. Ein anderer Vorwurf an die Romantik wiegt schwerer: Angeblich wurde das Wort ›Heimat‹ in der Romantik durch seine Vermengung mit Vorstellungen von Volk und Nation politisiert. Mit dieser Annahme wird es oft begründet, wenn eine direkte Linie von der Romantik zum völkischen Antisemitismus der Wilhelminischen Zeit und von dort zum Nationalsozialismus gezogen wird. Nur ein Beispiel: In einer 2016 veröffentlichten kunsthistorischen Studie wurde die häufige Thematisierung von Heimat und Heimatverlust in romantischer Dichtung, Musik und Kunst als Heimatverbundenheit, zugleich aber auch unumwunden als »Eintreten für die nationale Einheit«, und obendrein als Vorbereitung der ›völkischen‹ Rezeption der Romantik im Nationalsozialismus interpretiert.11 Ähnlich populär ist die Überzeugung, die spezifisch deutsche Vorstellung von Heimat sei mit romantischen Bildern einer »unbeschädigten, friedlich-harmonischen Natur«12 untrennbar verbunden. Die vermeintliche Naturverbundenheit der Romantik gilt dann als Vorbild für die konservative Heimatschutzbewegung des späteren 19. Jahrhunderts, diese wiederum als Vorläuferin und Wegbereiterin der nationalsozialistischen Ideologie von ›Blut und Boden‹. Doch solche landläufigen Vorstellungen gehen von falschen Prämissen aus und kommen entsprechend zu problematischen Schlüssen.

Das fängt mit dem Begriff ›Romantik‹ an: Was genau damit gemeint ist, wird kaum jemals präzisiert. Die meisten denken bei Romantik an eine konservative oder reaktionäre, jedenfalls rückwärtsgewandte, nationalistische Bewegung, die an ständischen Idealen festhielt und sich gegen Aufklärung, Französische Revolution, Säkularisierung, ökonomischen und politischen Liberalismus, Modernisierung, Universalismus, Rationalismus, Zentralismus und die napoleonischen Einflüsse auf die deutschen Territorien richtete. Und tatsächlich: Im Zuge der napoleonischen Besatzung Deutschlands und schließlich der Befreiungskriege nahm ein von Abgrenzung gegenüber Frankreich geprägter deutscher Patriotismus oder auch Nationalismus bei vielen Gebildeten Gestalt an. Doch ›Romantik‹ ist nicht gleich ›Romantik‹: Es gibt große Unterschiede zwischen Frühromantik, Hochromantik und Spätromantik, zwischen der Jenaer und der Heidelberger Romantik und auch zwischen der Romantik als Kunstbewegung und der ›Politischen Romantik‹. Etliche Protagonisten der romantischen Bewegung, darunter auch solche, die sich, wie etwa Joseph Görres, zunächst für die Französische Revolution begeistert hatten, entdeckten erst während der französischen Besatzung ihr Deutschtum und wurden zu glühenden Nationalisten, wobei auch dieser romantische Nationalismus keineswegs zwangsläufig rückwärtsgewandt war, denn auch der »Nationalismus hatte [… ] immer einen vorwärtsgerichteten, ja revolutionären Aspekt«;13 immerhin war Frankreich bereits Nation, Deutschland noch nicht. Romantiker, die das Heil vor allem in der Vergangenheit suchten, wandten sich eher dem Katholizismus des Mittelalters zu und standen der modernen Idee der Nation skeptisch gegenüber: Die romantische Bewegung war auch in dieser Hinsicht keineswegs homogen. Der Begriff Heimat allerdings spielt für romantische Politik oder politische Romantik keine Rolle; Heimat ist auch kein Synonym für ›deutsche Nation‹, es gibt nicht einmal eine romantische Definition von Heimat. Das ist bemerkenswert, zumal gerade die Frühromantiker Friedrich Schlegel und Novalis ganz versessen darauf waren, neue, kühne Definitionen für zentrale ästhetische wie politische Begriffe (Poesie, Geschichte, Natur, Staat, Individuum usw.) zu formulieren. Das Wort ›Heimat‹ aber findet sich nur in literarischen Texten. In den politischen und philosophischen Schriften der Romantiker finden sich lediglich Begriffe, die in landläufiger Vorstellung mit Heimat konnotiert sind, also etwa ›Volk‹ oder ›Gemeinschaft‹. Doch auch ›Volk‹ ist vieldeutig und bezeichnet sowohl das einfache Volk als auch das Volk als politischen Akteur, Staatsvolk und Ethnie. Volk und Nation sind weder Synonyme noch beziehen sie sich von vornherein auf das politische Konzept des Nationalstaats. Die Bedeutung des Wortes ›Volk‹ hängt auch in der Romantik vom Kontext und vom Sprecher ab: Je nachdem, ob es im Nachwort zu einer Sammlung von Volksliedern oder in der politischen Rede, ob es von einem Unterstützer der Revolution oder in einem antinapoleonischen Pamphlet während der Befreiungskriege verwendet wird, verweist es auf ganz unterschiedliche Horizonte. Insofern ist die Warnung Carl Schmitts ernst zu nehmen, der in Politische Romantik betont hatte, dass man »die neue Realität ›Volk‹ nicht mit dem romantischen Objekt ›Volk‹ verwechseln und die Romantiker nicht für Entdecker des neuen Volks- oder Nationalgefühls halten«14 dürfe. Für Johann Gottfried Herder, dessen Denken großen Einfluss auf die Romantik hatte, der selbst allerdings noch in der Tradition der Spätaufklärung stand, war das Volk vor allem eine Menschengruppe mit gemeinsamer Sprache, Kultur und Tradition und Erfahrungswelt, »die auf der Poesie, Liedern und Märchen, Mythen, Sitten und Gebräuchen sowie der formenden Kraft der Umwelt beruht«,15 nicht in erster Linie eine politische Größe. An diese Vorstellungen knüpften die Romantiker an, wenn sie das Volk als Quelle der Kultur und Kreativität idealisierten. Während für Herder aber, wie für die Anthropologie des 18. Jahrhunderts überhaupt, natürliche Umwelteinflüsse, also etwa Klima, Topografie, Flora, Fauna und Hauptnahrungsmittel bestimmter Landstriche, einen bedeutenden Faktor bei der Ausprägung kultureller Eigenarten darstellten, interessierten sich die Romantiker nur für die immaterielle, ideelle Seite der Volkskultur und blendeten die konkreten Lebensumstände des Volkes und die natürliche Umwelt eher aus: Achim von Arnim, Clemens Brentano oder Jacob und Wilhelm Grimm konzentrierten sich auf die Edition von Textsammlungen mit Volksmärchen, Volkssagen und Volksliedern. Jedoch betrachteten zunächst weder die Brüder Grimm noch Clemens Brentano – anders als Achim von Arnim – ihre Beschäftigung mit der Volkspoesie als dezidiert patriotische Projekte, sondern sahen sich eher in der kosmopolitischen Tradition Herders. In dem zuerst erschienenen Band der Kinder- und Haus-Märchen 1812 kam das Adjektiv ›deutsch‹ gar nicht vor, auf die französischen Einflüsse wurde explizit hingewiesen; erst im zweiten, während der Befreiungskriege und in der nunmehr antifranzösisch aufgeladenen Atmosphäre des Jahres 1814 publizierten Band wurde ein ›urdeutscher Mythos‹ beschworen.16

Mit der Natur, die gemeinhin als essentieller Bestandteil der deutschen Heimat und zentral für die Romantik gilt, verhält es sich ganz ähnlich. Spielte die physische Natur in der Literatur und Philosophie des 18. Jahrhunderts noch selbstverständlich eine Rolle, so wandten sich die Literaten und Philosophen im deutschen Idealismus und in der deutschen Romantik von der materiellen und empirischen Natur ab und überließen diesen Bereich der Naturwissenschaft. Von nun an gibt es eine klare Trennung zwischen den ›zwei Kulturen‹, aber auch zwei Naturen: Die Natur der Naturwissenschaften ist von der Psyche des Menschen abgetrennt, wird emotionslos, vermeintlich objektiv beobachtet, beschrieben, analysiert, systematisiert und kategorisiert. Die Natur der Philosophen, Maler und Literaten dagegen ist immateriell, entweder religiöses Zeichensystem, allgemeines Prinzip (als ›innere Natur‹, ›ganze Natur‹ oder ›allmächtige Natur‹) oder aber ferner, schemenhafter Projektions- und »Resonanzraum der Seele«.17 So erklärt sich, dass Naturschilderungen in Prosa und Lyrik der Romantik von Novalis bis Eichendorff so blass und allgemein bleiben. Naturerscheinungen werden meist nur generisch benannt, als Wald, Bach, Fluss, Fels, Berg, Hügel, Baum oder Vogel; etwas genauer bestimmt wird in der Regel nicht die Beschaffenheit des Naturphänomens, sondern höchstens die Wirkung auf die menschliche Psyche, mit Adjektiven wie lieblich, reizend, anmutig oder angenehm. Anschauliche Beschreibungen von Auwäldern, Gebirgszügen oder selbst Gartenblumen gibt es nicht, die romantische Landschaft bleibt stets unbestimmt und fern. Daher taugt die deutsche Romantik auch kaum als Bezugspunkt für neuere ökologische Gedanken, was sie fundamental von der englischen Romantik unterscheidet: Ein Werk wie der Guide to the Lakes des englischen Romantikers William Wordsworth, der eine Beschreibung der Topografie des englischen Lake District mit konkreten Hinweisen für Reisende und lyrischen Naturbetrachtungen verbindet, ist für die deutsche Romantik völlig undenkbar.

Doch worauf richtet sich der Blick der Romantiker? Der ikonische Wanderer über dem Nebelmeer zeigt ja gerade keine ländliche Idylle, keine Agrarlandschaft oder Dorfgemeinschaft, keine erdverbundenen, pflügenden oder säenden Bauern. Im Gegenteil: Ein einsames Individuum blickt von hoher Warte aus, weit über den Dingen stehend, in die Ferne, auf karge Berggipfel, den Inbegriff einer erhabenen Natur. Dieser romantische Wanderer lässt sich auch als moderne, säkulare Version des christlichen Pilgers verstehen. Nur setzt die Romantik Kunst und Poesie an die Stelle der traditionellen Religion, Künstler und Dichter sind die neuen Pilger. Im Zentrum romantischer Romane stehen daher immer künstlerisch ambitionierte oder zumindest ästhetisch sensible junge Männer, die ihren Heimatort verlassen und das Weite suchen: Novalis’ Heinrich von Ofterdingen, Ludwig Tiecks Franz Sternbald und Eichendorffs Figuren suchen auf ihren Reisen die ›blaue Blume‹, die Poesie, das Unendliche oder das Wunderbare. Wenn in einem populären Nachschlagewerk diese potenziell unabschließbare Bewegung als »Ausdruck andauernder Unstetigkeit, voll Sehnsucht nach der Heimat in einer unerreichbaren Ferne«18 bezeichnet wird, so ergibt dies nur mit Bezug auf die religiöse Bedeutung des Wortes Sinn: Die irdische Heimat liegt gewiss nicht in unerreichbarer Ferne.

Aus der irdischen, konkreten Heimat zieht es die romantischen Künstler ja gerade fort. In der Sprache der Migrationstheorie wären die Ferne, das Unendliche oder die blaue Blume romantische Anziehungsfaktoren; Abstoßungsfaktor ist die Heimat selbst, als Inbegriff des Vertrauten, Alltäglichen und Gewöhnlichen, das den Romantikern schlechthin verhasst ist. Die Romantik ist nicht zuletzt »Ungenügen an der Normalität«,19 die es in jedem Fall zu überwinden gilt, sei es durch Aufbruch und Abreise oder durch Romantisieren, wie es Novalis beschreibt: »Die Welt muß romantisiert werden. […] Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es.«20 Ihren Ausdruck findet die romantische Aversion gegen die Normalität vor allem in der kritischen Darstellung des Philisters, der den Romantikern als »menschliche Inkarnation der Normalität«21 gilt. Er geht völlig im Alltagsleben auf, ist einzig auf Nützlichkeit und Brot bedacht, hat keinen Sinn für Poesie und alles Höhere und lässt daher auch rücksichtslos »ewige alte Eichen umhauen, um irgendeinen Pflaumenbaum anzupflanzen«.22 Kurz: Der Philister ist, in Nietzsches Worten, der »Gegensatz des Musensohnes, des Künstlers, des echten Kulturmenschen«.23 Auch bodenständige Bauern oder Erwerbsbürger, die das Feld bestellen oder ein Handwerk betreiben, zählen dazu: Die Kritik am Philister gilt zwar in erster Linie dem Nützlichkeitsprinzip, geht aber einher mit einer gewissen Verachtung von Arbeit, Sesshaftigkeit und Heimat als Ortsbindung. Zwar lehnen die Romantiker Rationalismus, Aufklärung und Effizienz als Prinzipien der Moderne ab, doch romantisches Gegenbild ist keineswegs das einfache Leben der Bauern oder die Begrenztheit eines orts- und traditionsgebundenen Daseins, sondern das immaterielle Reich der Fantasie und des Wunderbaren. Ebenso wenig wie für botanische Pflanzennamen, Felsformationen oder Baumarten interessieren sich die Romantiker für das Pflügen, Säen und Ernten: Das Landleben ist für die literarische Romantik kein Thema, mochte Adam Müller, der »Prototyp der Politischen Romantik«,24 die dauerhafte Beziehung zum Land als Basis und Garantie für gesellschaftliche Stabilität und Kontinuität noch so preisen.

Selbst ein Text, in dem man nach landläufigem Verständnis ein Lob des Volks, der Heimat und der Verwurzelung erwarten würde, Achim von Arnims Aufsatz »Von Volksliedern« in der Liedersammlung Des Knaben Wunderhorn, enttäuscht diese Erwartung. Arnim blickt ernüchtert auf das Leben des Volkes, das ihm als philiströs erscheint, einzig von Arbeit, Nützlichkeit und Effizienz geprägt, ohne Schönheit und Poesie. Der Autor bringt weder Empathie noch Sympathie für den bodenständigen »Nährstand« auf. Träger der Poesie und damit potenzielle Vertreter der romantischen Kunstreligion sind für den Romantiker vielmehr Vagabunden, Soldaten, Bettler, Zigeuner und umherziehende Schauspieler, also fahrende Leute, die aus der Perspektive der Sesshaften, im Heimatrecht und in Bettelordnungen als ›herrenloses Gesindel‹, aus religiöser Perspektive möglicherweise als Wandernde und Suchende gelten können. Ja, die Sesshaftigkeit selbst wird als vermeintliche Ursache für den Ausschluss der Umherziehenden und damit auch der Poesie zum Grundübel erklärt: »weil der Nährstand eines festen Hauses bedarf, so wurde jeder als Taugenichts verbannt, der umherschwärmte in unbestimmtem Geschäfte, als wenn dem Staate und der Welt nicht gerade diese schwärmenden Landsknechte und irrenden Ritter, diese ewige Völkerwanderung ohne Grenzverrückung, diese wandernde Universität und Kunstverbrüderung zu seinen besten schwierigsten Unternehmungen allein taugten«.25 Nur aus der Perspektive engstirniger, nützlichkeitsversessener Philister können die ziel- und wurzellosen Existenzen als Taugenichtse erscheinen: Für den Romantiker verheißen die »umherirrenden Gestalten« kosmopolitischen, friedlichen internationalen Austausch von Kunst und Wissen.

Mit Joseph von Eichendorff verhält es sich kaum anders, mag er auch als romantischer Sänger der (deutschen) Heimat schlechthin gelten: »Wo immer von Heimweh als Sittengebot, von der Treue zum angestammten Boden und Sehnsucht nach dem Wiedergewinn alter Heimat in Deutschland die Rede ist«, »kann Eichendorff als Kronzeuge zitiert werden«.26 Gerade aufgrund ihrer Allgemeinheit boten Eichendorffs Naturschilderungen offenbar eine ideale Projektionsfläche für völlig unvereinbare politische Zwecke und Kontexte: So beriefen sich die deutschen Heimatvertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg ebenso auf Eichendorff wie Politiker beider deutscher Staaten. Für den Katholiken Konrad Adenauer war Eichendorff vor allem Patriot, in der DDR lobte man seinen Antikapitalismus. Adenauer empfahl 1958 in einem Brief an die Eichendorff-Stiftung, »sich dieses berühmten deutschen Romantikers zu erinnern. Aus Schlesien stammend und seiner schlesischen Heimat zutiefst verbunden, hat er in seinen Werken doch allen deutschen Stämmen unseres Volkes die Liebe zu unserer großen deutschen Heimat nahegebracht«.27 Und ein Artikel im Neuen Deutschland, dem Zentralorgan der SED, pries Eichendorffs Gedichte im November 1952 als »das Hohelied auf das Bild unserer Heimat«, attestierte dem Dichter »große, tiefempfundene, hinreißende, ganz ungekünstelte und ganz wahrhaftige Liebe zur Heimat« und sah in seiner Dichtung eine Bewahrung der »gefährdete[n] Schönheit […] der deutschen Heimat gegen die Entseelung unseres Natur- und Heimatempfindens durch die prosaische Herrschaft des Geldes«.28 Allerdings kann man die Rolle des Dichters deutscher Heimat nur dann mit der Person Eichendorffs besetzen, wenn man sich auf ein Schlüsselereignis aus der Biografie des Dichters beruft: Eichendorffs eigener Heimatverlust – das Schloss Lubowitz, in dem er seine Kindheit verbracht hatte, musste verkauft werden – fungiert gewissermaßen als Beglaubigung, und vielleicht erklärt sich seine Beliebtheit gerade daraus, dass er sich auf eine immer schon verlorene Heimat bezieht, die einzig als melancholische Erinne rung in der Fantasie fortlebt. Einige der bekanntesten Gedichte Eichendorffs stammen aus diesem Motivzusammenhang der verlorenen Heimat, so auch das berühmte »Abschied«,29 bekannt als »Volkslied« in der Vertonung Felix Mendelssohn Bartholdys: »O Täler weit, o Höhen,/O schöner, grüner Wald,/Du meiner Lust und Wehen/Andächt’ger Aufenthalt!/Da draußen, stets betrogen,/Saust die geschäft’ge Welt,/Schlag noch einmal die Bogen/Um mich, du grünes Zelt!«30 Auch hier erschöpft sich die Darstellung der Natur in generischen Wörtern wie grün, schön, Täler, Wald, Vögel etc.; die Sprache bleibt allgemein, erzeugt nicht die Vorstellung eines konkreten Waldes, sondern oszilliert zwischen metaphorischer und spirituell-christlicher Bedeutungszuschreibung. Der stille, statische Raum des heimatlichen Waldes ist nur Gegenbild zu der dynamischen, geschäftigen Welt und der ›Fremde‹. Heimat ist kein Ort, sondern als Vorstellung einer ›ewigen‹ Heimat ein immaterielles, tröstliches Erinnerungsbild mit religiösen Konnotationen, eine Weltflucht in die Innerlichkeit. Man muss sich gewaltig anstrengen, um aus diesem Gedicht eine Verklärung des Heimatortes überhaupt oder gar einer spezifisch deutschen oder schlesischen Heimat abzuleiten.

Auch der wohl berühmteste Prosatext Eichendorffs, die 1826 erschienene Novelle Aus dem Leben eines Taugenichts,31 verklärt nicht die deutsche Heimat, sondern die unendliche Reise. Zwar findet sich hier etwa das berühmte Gedicht »Heimweh« (»Ach, die Heimat hinter den Gipfeln,/Wie liegt sie von hier so weit!«, S. 143), mehrfach ist die Rede von der »schönen Heimat in der Ferne« bzw. der »fernen Heimat«. Doch auch im Taugenichts erscheint Heimat erst aus der Ferne als Sehnsuchtsziel, und in eben diese Ferne zieht es den Taugenichts: Sein Vater, ein Müller, also ein Erwerbsbürger, wirft seinen Sohn hinaus, damit dieser sich seinen Lebensunterhalt selbst verdient. Damit tut er dem Sohn allerdings einen Gefallen, auch wenn der Taugenichts natürlich keinen Broterwerb suchen will, sondern das Glück. Ihm ist »wie ein ewiger Sonntag« zumute, als er das Dorf verlässt und seine »alten Bekannten und Kameraden rechts und links, wie gestern und vorgestern und immerdar, zur Arbeit hinausziehen, graben und pflügen sah«, während er selbst in die weite Welt hinauszieht, fort aus dem kleinen, engen Alltag. Nun wirkt die Heimat ›elend‹: Ein Gedicht, in dem Arnims Aufsatz »Von Volksliedern« nachhallt, besingt die Reisenden und Wanderer als von Gott Begünstigte; den sorgenbeladenen Sesshaften dagegen fehlen Muße und Sensorium für Poesie, die Schönheit der Schöpfung und die Erscheinung des Göttlichen. Man kann sie bedauern oder verachten, zu ihnen gehören will man gewiss nicht: »Wem Gott will rechte Gunst erweisen,/Den schickt er in die weite Welt,/Dem will er seine Wunder weisen/In Berg und Wald und Strom und Feld.//Die Trägen, die zu Hause liegen,/Erquicket nicht das Morgenrot,/Sie wissen nur vom Kinderwiegen/Von Sorgen, Last und Not um Brot.« (S. 85f.) Auf den ersten Blick erscheint es paradox, dass hier von den ›Trägen‹ die Rede ist, waren doch eben noch die grabenden und pflügenden Bauern erwähnt worden; gemeint ist vermutlich die Todsünde der Trägheit (acedia), eine »Haltung des Überdrusses am frommen Leben, die notwendigerweise zu einer Abwendung von Gott führt«.32

Der Taugenichts ist eine Mischung aus Schelm, Pilger und fahrendem Musikanten, der bis zum Ende der Erzählung in Bewegung bleibt und Heimat, Arbeit und Sesshaftigkeit vermeidet. Selbst als er vorübergehend das gänzlich unromantische Amt eines Zolleinnehmers ausübt und ein kleines Haus mit Garten bezieht, geht ihm der Sinn für das Nützliche völlig ab: Er reißt die Kartoffeln und das Gemüse heraus und pflanzt Blumen. Schon der Anblick einer auffliegenden Lerche oder der Klang eines Posthorns befeuern sein Fernweh. Reiselust und Zufall führen ihn prompt nach Italien, wo er nun aber, wiederum ausgelöst durch den Klang eines Posthorns, Heimweh empfindet. Sein Lied darüber endet mit der Zeile, die zu Eichendorffs Ruf als ›Dichter deutscher Heimat‹ beigetragen haben mag: »Grüß dich, Deutschland, aus Herzensgrund!« Doch diese vermeintlich so deutsche Heimat wirkt eben nur dadurch verlockend, dass sie nun in weiter Ferne liegt. Für den Leser jedenfalls sind die Landschaften und Orte, die der Taugenichts auf seinen Reisen durchquert, nicht zu unterscheiden, denn Eichendorff benutzt immer dieselben Versatzstücke, um »unterschiedslos deutsche, italienische, französische oder gar südamerikanische […] Szenerien«33 zu gestalten; Orte mit je spezifischen Eigenschaften gibt es weder in der Heimat noch in der Fremde. Auf seiner Rückreise in den deutschsprachigen Teil Europas, wenn auch nicht in sein Elternhaus, das nie wieder auch nur erwähnt wird, stimmt der Taugenichts begeistert, ohne zu verstehen, was er da singt, in ein lateinisches Studentenlied ein, das eine geradezu philiströse Sesshaftigkeit und Heimatverbundenheit besingt. Doch als ihm seine zufällig wiedergefundene Geliebte ein märchenhaftes weißes Schlösschen mit Garten und Weinbergen zeigt, in dem das Paar künftig wohnen soll, will der Taugenichts am liebsten gleich wieder dorthin reisen, von wo aus er sich gerade eben noch nach Deutschland gesehnt hatte: nach Italien.

Ein kleiner Satz der Erzählung trifft dieses spezifisch romantische Verhältnis zur Heimat genau: Wenn der Taugenichts zu der Selbsterkenntnis kommt, »mir ists nirgends recht« (S. 105), so fasst er die für die Romantik so typische fundamentale Ruhelosigkeit, Entwurzelung und Heimatlosigkeit bündig zusammen. Die weite Welt oder auch die Heimat erscheinen, je nach Standpunkt, vor allem als Chiffren für ›nicht hier‹. Entsprechend ist die so oft erwähnte ›alte, schöne Zeit‹ vor allem ›nicht jetzt‹. Eichendorffs Taugenichts bewegt sich durch eine Welt, in der anscheinend immer Frühling herrscht und immer Sonntag ist, in der er nicht arbeitet, hungert, friert oder Schmerzen erleidet, und doch kommt das perpetuum mobile von Ungenügen und Sehnsucht nicht zum Stillstand. Stetes Fernweh und unstillbare Sehnsucht sind eng gekoppelt an ein gesteigertes Selbstgefühl des romantischen Individuums.

Die romantische Neigung zur Ferne klingt noch in Leben und Werk des einzigen deutschen Autors nach, der mit seinen Naturbeschreibungen in den Kanon eingegangen ist: Alexander von Humboldt, der nur periodisch in seiner Geburtsstadt Berlin lebte, interessierte sich wenig für die Natur seiner märkischen Heimat; vielmehr beschäftigte er sich auf seinen langjährigen Forschungsreisen mit Flora und Fauna, Landschaften und Gesteinsformationen in Lateinamerika, den USA, Russland und Zentralasien. Sein monumentales, 1845–1862 publiziertes Hauptwerk trug den durchaus unbescheidenen Titel Kosmos – Entwurf einer physischen Weltbeschreibung. Humboldt sah die Natur als ein »durch innere Kräfte bewegtes und belebtes Ganzes« und den Naturforscher als »kühnen wissenschaftlichen Eroberer«, den es in die exotische Ferne zieht, wo er das Unermessliche, Erhabene und Unbegrenzte sucht. Für Details und Einzelheiten hatte Humboldt ebenfalls wenig Interesse; das Einzelne war ihm »nur in seinem Verhältniß zum Ganzen, als Theil der Welterscheinungen« interessant, auch deshalb, weil ihm der Blick auf das große Ganze als höhere Stufe der Erkenntnisfähigkeit galt: Nur der »höhere[n] Intelligenz« gelinge es, die »Mannigfaltigkeit in Einheit« aufzulösen: »Um dies Höhere zu genießen, müssen […] die Einzelheiten zurückgedrängt«34 werden. Nicht von ungefähr zitierte er schon 1807 in seiner Vorrede zu den Ansichten der Natur die Zeilen Schillers, bei denen einem unwillkürlich der Wanderer über dem Nebelmeer in den Sinn kommt: »Auf den Bergen ist Freiheit!«

Die Winterreise, der durch Schuberts Vertonung berühmt gewordene Liederzyklus Wilhelm Müllers, zeigt die Nachtseite der romantischen Sehnsucht und Ruhelosigkeit. Während in Eichendorffs Erzählung permanent Frühling herrscht, malen Müllers Lieder den Kontrast zwischen Frühling und Winter aus: Der Monat Mai mit blühenden Lindenbäumen, grünen Wiesen und lustigem Vogelgeschrei ist nur mehr in der Erinnerung und im Traum präsent. In der Gegenwart hingegen herrscht Winter mit Eis und Schnee, der einzige Vogel ist die Krähe. Die Parallelen zu Nietzsches Gedicht aus dem Jahr 1844, das oft unter dem Titel »Heimweh« zitiert wird, sind unverkennbar: »Die Krähen schrei’n/Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:/Bald wird es schnei’n –/Wohl dem, der jetzt noch – Heimat hat!«35

Erscheint das permanente Unterwegssein bei Eichendorff als heitere Unruhe, so ist die Wanderlust in der Winterreise zum düsteren Fluch geworden. Müllers Wanderer mit seiner Todessehnsucht, die etwa in dem Lied »Das Wirthshaus« aufscheint, erinnert eher an Ahasver, den ewig wandernden Juden, dem Müller in einem anderen Gedicht die Zeilen in den Mund legt: »Ich wandre sonder Rast und Ruh,/Mein Weg führt keinem Ziele zu«. Wenn der Wanderer der Winterreise sich im ersten Lied (»Die Liebe liebt das Wandern«36) an eine Liebe erinnert, deren Ende er vermutlich selbst herbeigeführt hat, dann deutet dies allerdings darauf hin, dass der romantische Wanderer sich ganz bewusst gegen Ehe, Bindung und Sesshaftigkeit und für die einsame Wanderung durch den Winter und die Dunkelheit der Melancholie entschieden hat. Aus der Zurückweisung der Heimat und der Bejahung der Rast- und Ruhelosigkeit folgt die Verdammung zu Heimatlosigkeit und Einsamkeit: Dies ist die Tragik der romantischen Ruhelosigkeit.

Carl Schmitt bescheinigte den Romantikern die Tendenz zur »Negation des Heute und Hier« und die permanente Suche nach Auswegen aus »dem Gefängnis der konkret gegenwärtigen Realität«.37 Auch für die Arbeits- und Erwerbswelt, den Alltag sowie die Beschaffenheit realer Orte, Naturphänomene und Landschaften hatten die Romantiker wenig übrig. In diesem ganz und gar immateriellen Universum der Romantik ist Heimat in der Tat nichts als eine Idee, eine Chiffre für ein mit ästhetisch-religiösen Sehnsüchten und Erlösungshoffnungen durchsetztes ›Nicht-Hier‹ und ›Nicht-Jetzt‹. Diese romantische Heimat bezieht sich weder auf Nation und Volk oder auf Land und Leute noch gar auf Blut und Boden. Behauptet man, die Romantik verkläre eine spezifisch deutsche Heimat, so sitzt man der retrospektiven Projektion wilhelminischer Romantik-exegeten auf, die um 1900 über den »Einfluß der Romantik auf die Vertiefung des Nationalgefühls«38 sinnierten. Doch auch die Behauptung, Heimat in der Romantik sei ein »emotional aufgeladener Begriff, der mit Natur und ländlichem Leben zusammenhängt und Stimmungen wie Vertrautheit, Überschaubarkeit, Verwurzelung, Ruhe und Abgesichertheit assoziieren läßt«,39 erweist sich als bloße Projektion. Der ikonische Wanderer über dem Nebelmeer ist symptomatisch für das romantische Verhältnis zur Realität wie zur Heimat: Auf dem Gemälde ist das bewohnte Tal nicht einmal ansatzweise sichtbar, der Blick des Wanderers geht in die Ferne, in der die Silhouetten der Berge hinter Wolken und Nebel mit dem Himmel verschmelzen. Die romantische Idee der Heimat ist eine zum Teil verinnerlichte, zum Teil in eine romantische Kunstreligion umgedeutete moderne Variante der christlichen Vorstellung, die den Himmel als eigentliche Heimat des Menschen und den Menschen als Pilger und Wanderer sieht. Daher ist sie untrennbar mit dem romantischen Motiv der unstillbaren Sehnsucht und der unendlichen Fahrt verbunden. Doch ist dies eben keine Sehnsucht nach Verwurzelung und hat nichts mit Ort, Territorium, Gemeinschaft, Volk oder Nation zu tun. Die romantische Sehnsucht ist vielmehr »nichts anderes als die verewigte Fluchtbewegung aus der Gesellschaft«.40

Heimat

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