Читать книгу Im Zeichen der Sonne - Susanne Scheibler - Страница 4

1

Оглавление

Über Straßburg dröhnten die Glocken. Wenn Isabell sich umschaute, sah sie vor und hinter sich die endlose Zahl der auf dem Boden knienden Menschen – eine schweigende, gedemütigte Menge.

Die letzten Strahlen der scheidenden Sonne flirrten über die gewaltige Fassade des Münsters und färbten die Gestalten der in Stein gemeißelten deutschen Kaiser rot. Rot wie das Blut, das die Straßen der freien Reichsstadt an jenem 30. September des Jahres 1681 getränkt hatte.

Isabell sah, daß ihrem Vater die Tränen über das Gesicht liefen. Noch nie in ihrem siebzehnjährigen Leben hatte sie ihn weinen sehen; nicht einmal, als im vergangenen Sommer ihre schöne, fröhliche Mutter gestorben war. Und der schmerzende Kloß in Isabells Brust wuchs und wuchs, daß sie meinte, sie müsse laut herausschreien.

Sie wußte, daß die Tränen ihres Vaters nicht allein Jakob galten, seinem Ältesten, den man heute in der Frühe mit einer Franzosenkugel in der Brust nach Hause gebracht hatte.

Es war mehr geschehen, Schlimmeres, und Jakob war nur eines der vielen Opfer, die dieser Schreckenstag gefordert hatte.

Mitten im Frieden hatte König Ludwig der XIV. von Frankreich Straßburg überfallen und im Handstreich genommen. Die freie deutsche Reichsstadt war französisch geworden. Und am späten Nachmittag hatten die Soldaten des Sonnenkönigs die Bevölkerung auf dem großen Platz vor dem Münster zusammengetrieben, damit sie dem neuen Herrscher den Treueeid ablegten.

Jemand sprach ihn vor, diesen Schwur, der einem vergewaltigten Volk abgepreßt wurde, und die gebeugten Menschen am Boden sprachen ihn nach. Ein dumpfes, auf- und abschwellendes Murmeln war es, in dem Ohnmacht, Groll und Klage mitschwangen.

»Wir schwören und geloben, daß wir keine weltliche Macht anerkennen als die unseres Herrn, des allergnädigsten und allerchristlichsten Königs von Frankreich.

Wir schwören und geloben, daß wir ihm untertan sein wollen als unserem von Gott eingesetzten Herrscher, ihm dienen wollen in Treue und freiwilligem Gehorsam ...«

»Nein!« schrie in diesem Augenblick eine Stimme. »Nimmermehr! Brüder, Freunde – Gewalt hat uns niedergezwungen! Die Habgier eines Königs, der immer mehr blühende Städte und Dörfer, immer mehr Macht an sich reißt. Unser von Gott eingesetzter Herrscher soll er sein? Ein Dieb ist er, ein Mordbrenner!«

Isabells Vater war aufgesprungen. Vergebens versuchte das Mädchen, ihn zurückzuhalten. Meinhard Raven, der Wirt der Silbernen Rose war zeit seines Lebens kein sanfter, stiller Dulder gewesen. Schmerz und Empörung rissen ihn mit sich fort.

»Und wenn es mich den Kopf kostet, Freunde: Nie wird dieser Schwur, der unser Unglück besiegelt, über meine Lippen kommen. Ich weigere mich! Hört ihr’s alle! Ich weigere ...«

Er verstummte, weil sich Soldaten rücksichtslos durch die Menge geschoben hatten. Einer von ihnen hieb Meinhard Raven mit dem Kolben seiner Muskete über den Kopf. Der große, schwere Mann brach in die Knie. Blut floß über sein Gesicht.

Isabell schrie gellend auf. Ein paar Männer wollten Meinhard Raven zu Hilfe kommen, doch die Soldaten drängten sie mit ihren Hellebarden zurück.

Raven versuchte aufzustehen. »Jetzt seht ihr es«, keuchte er, »wie sie es mit uns machen! Mörder sind es ... Mörder allesamt!«

Da waren die Soldaten auch schon über ihm. Sie rissen ihn zu Boden, schlugen auf ihn ein und traten mit ihren schweren Stiefeln in seinen Leib und sein Gesicht, bis er still war.

Isabell warf sich dazwischen. »Vater!« schrie sie. »Vater!«

Rohe Fäuste packten sie. Ihre weiße Leinenbluse zerriß über der Brust. »Aus dem Weg, Hexe!« Einer der Soldaten gab ihr einen harten Stoß, so daß sie zu Boden fiel. Die anderen zerrten Meinhard Raven mit sich fort.

»Gott im Himmel, so helft ihm doch«, wimmerte Isabell. Jemand hielt sie fest, als sie ihrem Vater nachstürzen wollte.

»Es ist zu spät, Jungfer, ihm kann niemand mehr helfen.«

Isabell fuhr herum und brauchte ein paar Augenblicke, ehe sie in ihrer Verstörtheit erkannte, wer da zu ihr sprach. Frau Berthe Breidach war es, die Frau des Kupferschmieds, der ein paar Häuser neben der Silbernen Rose seine Werkstatt hatte. Die rundliche Frau wollte Isabell in die Arme nehmen, doch das Mädchen trommelte mit den Fäusten gegen ihre Brust. »Laßt mich, ich muß ihm nach! Mein Gott, sie werden ihn töten!«

Frau Berthe hielt sie fest. »Wir können nichts tun. Seht die Waffen, die auf uns gerichtet sind. Es wird ein Blutbad geben – es sind doch schon genug gestorben!«

»Isabell!« Ein junger Mann, fast ein Knabe noch, drängte sich an die andere Seite des Mädchens. »Die Mutter hat recht, wir können nichts tun. Nicht jetzt.«

Da erst merkte Isabell, daß ihre Bluse in Fetzen hing. Vergeblich versuchte sie, den zerrissenen Stoff über ihrer nackten, festen Brust zusammenzuraffen. Der junge Mann streifte schnell seinen kurzen Mantel ab und legte ihn ihr um.

»Kommt mit uns. Wir werden zu Hause beratschlagen, was wir tun können. Euer Vater ist ein geachteter Mann. Wenn man eine Bittschaft für ihn abfaßt ...«

»Hans«, sagte Isabell erstickt und fiel unwillkürlich in das vertraute Du der Kindertage zurück, in denen Hans Breidach ihr Spielgefährte gewesen war. »Ach, Hans, weißt du es schon? Jakob ist tot... Und jetzt wollen sie auch noch Vater...«

Sie wankte und brach in die Knie. Hans Breidach fing sie auf. Er biß die Zähne aufeinander vor hilflosem Schmerz, als Isabell ihr Gesicht in die Falten seines Mantels drückte. Wenn man nur helfen könnte! Wenn man nur losschlagen könnte! dachte er.

»Es wird alles gut, Isabell«, sagte er leise. »Kein Unrecht währt ewig. Wir müssen geduldig sein und warten.«

Und jetzt endlich, in der tröstlichen Umarmung des Freundes aus der Kinderzeit, konnte Isabell weinen.

Wenige Wochen später, am 24. Oktober 1681, erreichte König Ludwig XIV. von Frankreich Straßburg. Er wurde von seinem ganzen Hofstaat begleitet. Salutschüsse und Glockengeläut empfingen ihn, als er in der vergoldeten, von acht Apfelschimmeln gezogenen Staatskarosse durch die Straßen fuhr.

In den letzten Tagen war Ruhe in der Stadt eingekehrt. Das anfängliche Entsetzen über den Gewaltstreich hatte sich in Resignation verwandelt. Die neuen Herren führten ein strenges Regiment. Es war nicht ratsam, dagegen aufzumucken.

Freilich lebte der Widerstand in den Köpfen und Herzen zahlreicher Bürger weiter. Doch es gab auch schon Stimmen, die recht franzosenfreundlich klangen und Straßburg unter Ludwigs Herrschaft eine neue Blüte prophezeiten.

Trotzdem waren die Hochrufe etwas dünn, mit denen der König von der Straßburger Bevölkerung empfangen wurde. Die meisten Menschen standen schweigend am Straßenrand, und in vielen Gesichtern spiegelte sich ungläubiges Staunen über die Prachtentfaltung des französischen Hofes, von der man wohl gehört, die man jedoch noch nie zu sehen bekommen hatte.

Eine schier endlose Reihe von Karossen, Equipagen und Berittenen folgte dem Wagen des Königs. Das Sonnenlicht funkelte auf juwelenbesetzten Degengriffen, Agraffen, gold- und silberdurchwirkten Staatsroben und prächtigen Uniformen. Ludwig lächelte und hob ab und zu grüßend die ringgeschmückte Hand. Er war jetzt dreiundvierzig Jahre alt und neigte ein wenig zur Korpulenz. Aber er war immer noch ein schöner Mann mit seinem kraftvollen, edel geschnittenen Gesicht und den großen blauen Augen, die nichts vom Glanz der Jugendjahre eingebüßt hatten.

Neben ihm in der Karosse saß seine Gemahlin, die spanische Infantin Maria Theresia, wie immer ernst und still und trotz ihrer prächtigen Gewänder recht unscheinbar.

Der Wagen des Herzogs von Orléans folgte. Monsieur – wie Philipps offizieller Titel lautete, trat nicht weniger prunkvoll auf als sein königlicher Bruder. Er war geschminkt und trug die leichtgepuderte, tadellos frisierte Allongeperücke auf seinem schwarzen Haar. Sein scharlachroter Staatsrock glitzerte von aufgestickten Edelsteinen. Aber nicht Philipp galten die Hochrufe, die plötzlich zu jubelnder Lautstärke anschwollen, sondern der Frau an seiner Seite. »Es lebe Madame von Frankreich! Hoch Ihre Königliche Hoheit Liselotte!«

Philipp von Orléans wandte sich seiner Gemahlin zu. »Wie es scheint, hat man Euch hier nicht vergessen, Madame.«

Sie nickte. »Fast auf den Tag genau sind es zehn Jahre her, daß ich hier Abschied von meinem Vater nahm.« Ein feuchter Schimmer lag in ihren Augen. Zehn Jahre ...

Gerade neunzehn war sie damals gewesen, die junge Kurprinzessin Liselotte von der Pfalz, ein Mädchen mit übermütigen Augen und einem Mund, der weit mehr zum Lachen denn zum Weinen aufgelegt war.

Hier, im damals deutschen Straßburg, war der Heiratskontrakt zwischen Liselotte und Philipp von Orléans unterzeichnet worden. Hier hatte sie ihren Vater zum letztenmal umarmt, ehe er in die geliebte pfälzische Heimat zurückkehrte.

Liselotte hatte ihn nie wiedergesehen. Im Sommer des vergangenen Jahres war er gestorben, und der Gedanke daran trieb ihr noch heute die Tränen in die Augen. Verstohlen, als sei sie bei einem Unrecht ertappt worden, wischte sie sie ab. Tränen standen der Schwägerin des Königs an einem Tag wie heute nicht an.

Liselotte wußte nicht, auf welche Weise Ludwig Straßburg an sich gerissen hätte. Am Hof von Versailles hatte man nur gesagt, die Stadt habe in früheren Zeiten zu den Gebieten gehört, die durch den Frieden von Nimwegen Frankreich zugesprochen worden waren. Deshalb sei sie jetzt an die Krone zurückgefallen.

Am Abend fand ein großer Ball im Schloß statt. Die Säle erstrahlten im Schein Hunderter von Kerzen; man tanzte, trank und amüsierte sich.

Liselotte zog sich bald zurück. Sie war müde. Mit einem erleichterten Seufzen zog sie in ihrem Ankleidezimmer die Handschuhe aus, schleuderte die hochhackigen Seidenschuhe mit den Goldschnallen von den Füßen und bat ihre Kammerfrau, ihr das hochgesteckte Haar zu lösen.

»Dieser Kopfschmuck aus Federn drückt ganz abscheulich! Und die Ohrringe zwicken. Wahrhaftig, ich verstehe die Leute nicht, denen es Vergnügen macht, sich so aufzuputzen.«

Sie verstummte ein wenig schuldbewußt, denn ihr war eingefallen, wie sehr es gerade Monsieur liebte, sich zu schmücken. Philipp von Orléans trieb einen wahren Kult mit seinem Äußeren. Er pflegte seine Haut mit allen möglichen Essenzen und Salben, behängte sich mit Schmuck, und seine Kleidung war voller Spitzen und Bänder. Anfangs hatte Liselotte seine Eitelkeit ziemlich lächerlich gefunden. Aber da sie bemüht war, Philipp eine gute und liebevolle Frau zu sein, hatte sie sich ein solches Herumkritisieren bald untersagt.

Das war zwar nicht immer leicht, besonders in letzter Zeit nicht. Seit der Herzog vor drei Jahren aus dem Krieg heimgekehrt war, hatte er sich sehr verändert. Es war offensichtlich, daß er seine Kinder liebte, den siebenjährigen Philipp und die fünfjährige Elisabeth Charlotte. Aber an der Zuneigung seiner Frau schien ihm nicht viel gelegen.

Liselottes frisches, rundes Gesicht verdunkelte sich, als sie an die schrecklichen Worte dachte, die er einmal zu ihr gesagt hatte: »Ich bitte Sie um Gottes willen, Madame, lieben Sie mich weniger! Es ist mir recht lästig.«

Damals war irgend etwas in Liselotte zerbrochen.

Sie seufzte. Man kann eben nicht alles haben, dachte sie. Und ich darf nicht undankbar sein. Philipp behandelt mich sehr freundlich. Wir haben nie Streit miteinander.

Sie sagte sich das oft, aber recht zu trösten vermochten sie diese Gedanken trotzdem nicht. Ein Streit, der wie ein Gewitter den Ehehimmel blankfegte, wäre ihr manchmal lieber gewesen als Philipps ewig gleichbleibende Höflichkeit.

Die Kammerfrau wollte Liselotte gerade aus der schweren, goldbestickten Atlasrobe helfen, als es an die Tür klopfte. Ein Diener meldete, daß ein Besucher um den Vorzug bitte, Madame von Frankreich seine Aufwartung machen zu dürfen. »Es ist ein Monsieur Coppenstein, Ihro Gnaden.«

Liselottes müde Augen strahlten auf, als seien zwei Kerzen dahinter entzündet worden. »Coppenstein? Ist das wahr? Wo ist er?«

»Er wartet im Vorsaal.«

»Und warum ist er noch nicht hier? Mein Gott, Coppenstein, unser Oberstallmeister aus Heidelberg ... Er soll sogleich hereinkommen!«

Liselotte entließ die Kammerfrau mit einem Wink. Als der alte, grauhaarige Mann, den sie seit ihrer Kinderzeit kannte, den Raum betrat, schossen Liselotte Tränen in die Augen. Die so lange tapfer zurückgedrängte Sehnsucht nach der Heimat brach sich mit aller Macht Bahn. Schluchzend ergriff sie Coppensteins Hände. »Mein Lieber, daß ich Euch wiedersehe – das ist die erste wahrhaftige Freude seit langem. Aber so setzt Euch doch! Nein, nicht dort auf den Stuhl... kommt hierher neben mich.«

Sie zog ihn mit sich zum Sofa und blickte gerührt in sein gealtertes, aber immer noch unendlich vertrautes Gesicht. »Ich kann es noch gar nicht fassen, daß Ihr da seid. Was hat Euch nur hergeführt?«

»Ein Auftrag unserer Durchlauchtigsten Kurfürstin, Eurer Mutter«, antwortete Coppenstein. »Sie möchte Euch wiedersehen, Königliche Hoheit. Als sie von Eurer Reise nach Straßburg hörte, ist sie sofort von daheim aufgebrochen, um Euch zu treffen.«

»Meine Mutter?« wiederholte Liselotte voll ungläubigen Staunens. Sie versuchte, sich das Bild der Frau, die sie geboren und von der man sie als Kind schon getrennt hatte, ins Gedächtnis zu rufen. Es gelang ihr nur unvollkommen. Zu lange war es her, daß sich der Kurfürst Karl Ludwig von der Pfalz von seiner schönen, stolzen Gemahlin getrennt und deren Hoffräulein Luise von Degenfeld geheiratet hatte.

Luise, die nach ihrer Heirat den Titel einer Raugräfin von der Pfalz verliehen bekommen hatte, war Liselotte viel vertrauter gewesen als ihre eigene Mutter, auch wenn sie mit ihr schon seit Jahren einen regelmäßigen Briefwechsel unterhielt. Und nun hatte die Mutter eine so weite Reise unternommen, um sie wiederzusehen ...

»Wo ist sie jetzt? Doch nicht schon in Straßburg?« fragte Liselotte.

»Auf einem Gut, nicht weit von hier. Ihr werdet mit der Kutsche nicht länger als zwei Stunden bis dahin brauchen.«

»Gleich morgen in aller Frühe breche ich auf. Dann schläft hier alles noch, und niemand wird mich vermissen.«

»Aber nehmt ein paar Männer zu Eurem Schutz mit. Und noch eins, Madame...« Coppenstein sah plötzlich verlegen aus. »Wenn Ihr mit Eurer Mutter zusammentrefft, solltet Ihr nicht von Eurem Vater sprechen.«

»Sie hat ihm nicht verziehen?« fragte Liselotte betroffen. »Nicht einmal jetzt?«

»Sie sagt, der Tod macht aus einer schlechten Tat keine gute. Versucht, sie zu verstehen, Madame. Sie ist alt und verbittert. Man hat ihr sehr viel genommen.«

»Ja«, sagte Liselotte, »ja, gewiß.« Sie versuchte, sich in die Lage ihrer Mutter zu versetzen. Wenn Philipp sich eines Tages von ihr, Liselotte, trennte? Wenn man sie um das Glück betrog, ihre beiden Kinder heranwachsen zu sehen ... Ein schrecklicher Gedanke!

»Ihr habt recht, Coppenstein«, sagte sie nachdenklich. »Ich werde sehr liebevoll zu ihr sein müssen.« Aber in ihr Lächeln mischte sich Beklommenheit. Liselotte wußte, daß guter Wille allein nicht genügte, um den Weg zum Herzen eines anderen Menschen zu finden – nicht einmal, wenn der andere die eigene Mutter war. Und sie hatte plötzlich ein wenig Angst vor dieser Begegnung nach über zwanzig Jahren.

Das trübe Grau der frühen Morgendämmerung lugte durch das schmale Fenster, als sich Isabell von ihrem Bett erhob. Sie hatte kaum geschlafen in dieser Nacht, der letzten, die sie in ihrem Elternhaus verbrachte. Sie hatte wach gelegen und auf den Wind gelauscht, der draußen im Apfelbaum rauschte und ab und zu einen Zweig mit klatschendem Geräusch gegen ihr Kammerfenster geschlagen hatte, auf das Bellen eines Hundes und das Rasseln eiliger Wagenräder über das Kopfsteinpflaster der Straße.

Es war nicht schön, in der Dunkelheit zu liegen und keinen Schlaf finden zu können. Aller Kummer, alle Ängste wurden riesengroß – Alpträumen gleich, die sich auf die Brust legten und das Atmen schwer machten.

Isabell war froh, daß jetzt der Morgen heraufdämmerte. Ha stig kleidete sie sich an, flocht das schwere, goldbraune Haar, das ihr bis zur Taille reichte, zu einem dicken Zopf und steckte ihn am Hinterkopf auf. Dann warf sie ein Tuch um die Schultern.

Die Straße mit den hohen, schmalen Häusern war menschenleer, als Isabell aus der Haustür trat. Am Himmel verblaßten die Sterne. Eine streunende Katze verschwand in der Toreinfahrt.

Isabell fröstelte im Morgenwind. Sie zog das Tuch enger um sich, nahm ihr Bündel und lief eilig die Straße entlang. Sie blickte sich nicht mehr um, denn sie wußte, daß sie dann den Abschied nicht ertragen hätte.

Aus dem Schatten eines Hauseingangs löste sich eine Gestalt. Es war Hans Breidach. »Isabell...«

Das Mädchen blieb stehen. »Aber Hans! Hast du auf mich gewartet? Wir haben doch schon gestern Abschied voneinander genommen.«

Er schluckte. »Ich mußte dich noch einmal sehen, Isabell. Bitte geh nicht fort!«

»Ich muß doch«, sagte sie leise. »Was soll ich noch hier? Seit mir Gertrude vor zwei Wochen den Dienst aufgesagt hat, war ich ganz allein im Haus. Ich bin Gertrude nicht böse darum. Sie hat es so lange bei mir ausgehalten, wie es ging. Aber in diesen Zeiten können zwei Frauen allein kein Gasthaus führen. Und ob ich einen Knecht gefunden hätte, der bereit gewesen wäre, uns vor betrunkenen Soldaten, vor Plünderung und Gewalttat zu schützen ...« Sie verstummte und senkte den Kopf. »Es gibt keine Silberne Rose mehr, Hans. Sie haben den Weinkeller ausgeräumt, alle Truhen und Schränke leergeplündert, die Matratzen und Polster aufgeschlitzt, ob Geld darin versteckt sei, und – als sie keines mehr fanden – in ihrer Wut selbst die Möbel zerschlagen. Aber warum erzähle ich dir das? Du weißt es doch ...«

Freilich wußte er es. Und für einen flüchtigen Moment überkam ihn Groll auf Isabells Vater. Hätte er nicht um ihretwillen schweigen müssen an jenem Tag, als man ihnen den Treueid abgepreßt hatte? Die Bittschrift, die man eilends verfaßt hatte, war zu spät gekommen; zu diesem Zeitpunkt lebte Meinhard Raven schon nicht mehr. Die Soldaten des Königs machten mit Aufrührern kurzen Prozeß.

Hans Breidach schaute Isabell an. Sie war so schön mit ihrem blassen, traurigen Gesicht... Er konnte sie nicht gehen lassen!

»Und wenn es dir nun nicht gefällt bei deiner Tante in Kehl?« fragte er drängend. »Wenn sie unfreundlich zu dir ist?«

»Der Brief, den sie mir geschrieben hat, war sehr freundlich. Und wo soll ich sonst hin? Ich habe keinen Menschen außer ihr.«

»Doch ...« Hans Breidach griff nach ihrer Hand. »Mich, Isabell! Ich hab’ dich lieb. Ich habe selbst nicht gewußt, wie sehr – bis gestern, als du kamst, um uns Lebewohl zu sagen. Es war bis jetzt immer so selbstverständlich, daß du da warst. Sag, willst du mich heiraten?«

Sie schaute ihn einen Augenblick schweigend an. Dann schüttelte sie den Kopf. »Nein, Hans ...«

Sie sah, wie weh sie ihm getan hatte mit ihrer Antwort, aber sie hatte ihm keine andere geben können.

Isabell war siebzehn Jahre alt, sie wußte nicht viel von der Liebe. Da waren nur manchmal Träume gewesen von einem Mann, der eines Tages kommen und dessen Lächeln genügen würde, sie atemlos zu machen. Ein Mann, dessen Berührung sie zittern lassen und allen eigenen Willen auslöschen würde bis auf den einen: ihm anzugehören.

Der blonde Junge, der da vor ihr stand, war nicht dieser Mann.

Isabell griff nach ihrem Bündel, das die wenigen Habseligkeiten enthielt, die sie in ihr neues Leben mitnehmen wollte. »Adieu, Hans. Glaub mir, es ist besser, wenn ich gehe, auch wenn es dich jetzt traurig macht. Eines Tages wirst du über deinen Kummer lächeln.«

»Nie«, erwiderte er erstickt. Er blickte ihr nach, wie sie davonging, und zum erstenmal seit seiner Kindheit war ihm nach Weinen zumute.

Der Himmel im Osten färbte sich mit dem blassen Rot der aufgehenden Sonne, als hinter Isabell die Türme von Straßburg zurückblieben. Sie wanderte die staubige Straße entlang und spähte nach einem Bauernkarren aus, der sie vielleicht ein Stück Weges mitnehmen würde.

Sie hatte wohl noch ein wenig Geld, das sie vor den plündernden Soldaten hatte verstecken können. Es war genug, um mit der Postkutsche nach Kehl zu reisen. Aber Isabell Wußte nicht, was sie bei ihrer Tante erwartete. Deshalb wollte sie die paar Taler für den Notfall zurückbehalten. Sie kannte die älteste Schwester ihres Vaters kaum. Da war nur noch eine verschwommene Erinnerung, daß die inzwischen verwitwete Frau Babette Schollmeyer vor Jahren einmal in Straßburg zu Besuch gewesen war.

Isabell hatte der Tante den Tod von Vater und Bruder in einem Brief mitgeteilt, und Frau Babette hatte umgehend geantwortet.

›Es macht mir große Sorge, daß Du nun ganz allein lebst. Willst Du nicht lieber zu mir kommen?‹

Dann hatte sie noch hinzugefügt, daß sie ›gar greulich an der Gicht leide‹ und deshalb eine junge Hilfe gut gebrauchen könne.

Isabell seufzte. Sie war ja gern bereit, die Tante zu pflegen und zu versorgen. Hoffentlich war sie nur keine nörglige, launenhafte Kranke, der man nichts recht machen konnte.

Inzwischen war die Sonne vollends aufgegangen und vertrieb den Morgennebel, der in den Niederungen lastete. Die Straße führte jetzt durch einen Wald. Es ging ein wenig bergauf, und Isabell verlangsamte ihren Schritt. Plötzlich, an einer Wegbiegung, hörte sie Stimmen vor sich. Die jammernde einer Frau und das Weinen eines Kindes. Jemand lachte; es klang roh und mißtönend. Dann schrie ein Mann auf wie in höchster Todesnot. Ein Pferd wieherte schrill.

Isabell spürte ihr Herz hart gegen die Rippen klopfen. Sie wich in den Schatten der Bäume zurück. Ängstlich bemüht, kein Geräusch zu machen, schlich sie näher.

Hans Breidach und seine Eltern hatten sie gewarnt. Es sei gefährlich, in solchen Zeiten allein unterwegs zu sein. Überall wimmele es von Marodeuren und allerlei Gesindel. Aber Isabell hatte ihre Bedenken zerstreut. ›Bei Tage bin ich sicher. Da sind immer Leute unterwegs.‹

Sie erreichte die Stelle, wo die Straße einen Knick machte. Aus schreckgeweiteten Augen starrte Isabell auf das Bild, das sich ihr bot. Mitten auf dem Weg lag ein umgestürzter Planwagen. Drei verwegen aussehende Männer mit schweren Reiterpistolen im Gürtel und breitrandigen Federhüten auf dem Kopf waren damit beschäftigt, ihn auszuplündern. Johlend schleppten sie Kisten und Kästen ins Freie, rissen das Stroh der Lagerstatt auseinander, um nach ein paar Bettelpfennigen oder verstecktem Silberzeug zu suchen. Ein Mann lag stöhnend am Boden. Aus seinem Mund sikkerte ein dünner Blutfaden. Eine junge, schwarzhaarige Frau kniete neben ihm, ihr weinendes Kind an sich gepreßt. Das armselige Pferd, das den Wagen gezogen hatte, war bereits ausgespannt und wurde von einem vierten Wegelagerer weggeführt.

»Halt’s Maul!« schrie er der Weinenden zu. »Sonst stopfe ich es dir und deinem Balg!«

Isabell zitterte am ganzen Leib. Sie wollte sich umwenden und davonlaufen, den Weg zurück, den sie gekommen war. In ihrer Hast achtete sie nicht darauf, wohin sie trat. Ihr rechter Fuß verfing sich im Gestrüpp, sie stolperte und stürzte. Unwillkürlich schrie sie auf, als Dornen und Zweige ihr die Haut zerkratzten.

Im nächsten Augenblick hörte sie hastige Schritte hinter sich. Eine grobe Faust packte sie und riß sie hoch.

Aus schreckgeweiteten Augen starrte Isabell auf den Mann, der sie festhielt. Er war blond und noch jung, aber sein Gesicht verriet Brutalität und Verschlagenheit. »Sieh an«, sagte er mit einem unangenehmen Lachen, »da habe ich ja einen hübschen Fang gemacht!«

Isabell wehrte sich heftig gegen den rohen Griff des Banditen, aber gegen seine Kraft kam sie nicht an. Er hielt sie an sich gepreßt und pfiff seinen drei Kumpanen, die gleich darauf zwischen den Büschen auftauchten.

»Hol’s der Teufel, ein Mädchen!« schrie einer von ihnen. Er hatte ein rotes, blatternarbiges Gesicht. »Und was für eines!« Mit einem breiten Grinsen zog er vor Isabell den Hut und erwies ihr eine übertriebene Reverenz. »Mademoiselle, ich bin entzückt. Wenn alles an Euch so reizend ist wie Euer Gesicht, hab’ ich heute meinen Glückstag.«

Die anderen lachten gröhlend, als der Bandit nach ihr griff. Ein kurzer Ruck, und Isabells Kleid war bis zur Taille aufgerissen. Der Blonde hielt ihr die Arme fest. Isabell stand völlig wehrlos da, den Blicken der Männer preisgegeben, und sie wußte, sie würden über sie herfallen wie wilde Tiere.

Verworrene Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Werden sie mich töten – nachher, wenn alles vorbei ist? Oder Werde ich es selbst tun, weil der Ekel mich erstickt? Kann man das jemals vergessen? Kann man je wieder die Hände eines Mannes auf seiner Haut ertragen, ohne zu schreien vor Entsetzen? Oder wird man stumpf, ausgehöhlt, empfindungslos ...

Sie schrie nicht, als man sie zu Boden warf. Sie wehrte sich nur mit zusammengebissenen Zähnen, mit der Geschmeidigkeit einer Wildkatze. Und sie dachte immer wieder: Ich kann es nicht ertragen, ich kann es nicht...

Sie sah das feiste Gesicht des Blatternarbigen über sich. Sie hörte, wie der Blonde protestierte: »Laß sie! Ich habe sie entdeckt. Sie gehört mir ...«

Und der andere antwortete mit einem rohen Auflachen: »Warte es nur ab, Söhnchen, du wirst sie schon noch bekommen.«

In diesem Augenblick umkrampften Isabells Finger den Griff eines Messers, das der Bandit im Gürtel trug. Es hatte sich bei dem Kampf gelockert und rutschte sofort aus der Scheide. Isabell handelte ganz mechanisch, ohne zu denken, wie ein in die Enge getriebenes Tier, das im Angriff den einzigen Ausweg sieht. Sie stieß einfach zu, stieß in diesen feisten, schweren Körper, der sie mit seinem Gewicht niederdrückte.

Der Blatternarbige brüllte auf. Er wälzte sich zur Seite und preßte die Hände gegen den Leib. Ehe die anderen recht begriffen, was geschehen war, war Isabell auf den Füßen und rannte davon, tiefer in den Wald hinein. »Das Luder!« schrie der Blatternarbige. »Bringt sie um. Sie hat mir das Messer in die Seite gerannt!«

Der Blonde riß als erster seine Reiterpistole hoch. Isabell hörte den dröhnenden Hall des Schusses. Ihr war, als glitte ein glühendes Eisen in ihren linken Oberarm. Im Laufen preßte sie die Hand dagegen und spürte, wie es heiß und klebrig zwischen ihren Fingern hervorsickerte.

In diesem Augenblick war von der Straße her Pferdegetrappel zu vernehmen. Es mußten mehrere Reiter sein, die da kamen, vielleicht sechs oder acht. Eine Kutsche folgte ihnen. Isabell hörte das Knirschen der Räder auf dem sandigen Boden.

»Verdammt!« schrie einer der Banditen. »Wir müssen verschwinden! Hier – durch das Unterholz; da holen sie uns mit den besten Pferden nicht ein.«

Hastig machten sich die drei davon, noch ehe die kleine Reiterkavalkade auf der Straße zum Halten kam. Ihren verletzten Kumpan ließen sie zurück.

Kriechend versuchte er, das schützende Gebüsch zu erreichen. »Wartet doch«, schrie er, »nehmt mich mit...« Aber niemand hörte auf ihn.

Im Zeichen der Sonne

Подняться наверх